Saša Stanišić : Vor dem Fest

Vor dem Fest
Vor dem Fest Originalausgabe: Luchterhand Literaturverlag, München 2014 ISBN: 978-3-630-87243-8, 318 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In Fürstenfelde, einem Dorf in der Uckermark, gab es früher sieben Gaststätten. Davon existiert keine mehr. Wenn junge Männer zusammen ein Bier trinken möchten, treffen sie sich in Ullis Garage oberhalb des Sportplatzes. Immerhin wurde das von Johanna Schwermuth betreute "Haus der Heimat" 2011 renoviert. Seit dem Mittelalter wird in Fürstenfelde alljährlich das Annenfest gefeiert, ohne dass jemand den Anlass kennt. In der Nacht vor dem diesjährigen Fest sind noch einige Dorfbewohner unterwegs ...
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Kritik

"Vor dem Fest" ist ein tragikomischer, aus zahlreichen skurrilen Miniaturen gewebter Dorfroman. Saša Stanišić entwickelt keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern ein Kaleidoskop mit Fragmenten von Geschichten aus der Nacht vor dem Fest und früheren Jahrhunderten.
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In Fürstenfelde, einem Dorf in der Uckermark, gab es früher sieben Gaststätten. Davon existiert keine mehr. Wenn die jungen Männer Lada, Suzi und Johann zusammen ein Bier trinken möchten, treffen sie sich in Ullis Garage oberhalb des Sportplatzes. Immerhin wurde das von der depressiven Johanna Schwermuth betreute „Haus der Heimat“ 2011 renoviert. Seither ist die Türe des Archivs, in dem die Originalhandschrift der Dorfchronik von Paul Wiese aufbewahrt wird, mit einem modernen Zahlenschloss gesichert, und ein Klimagerät sorgt dafür, dass die in Leitzordnern aufbewahrten Dokumente nicht durch zu hohe Luftfeuchtigkeit Schaden nehmen. Eineinhalb Nazis leben in dem Dorf: Rico und seine Freundin Luise, die „den ganzen Scheiß“ nur Rico zuliebe mitmacht.

Seit dem Mittelalter wird in Fürstenfelde alljährlich das Annenfest gefeiert.

Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen.

Die Leitung des Festes hat das Kreativkomitee des Dorfes dem Bäcker Zieschke anvertraut. Der von Alaska träumende Schweinezüchter Gölow hat – wie auch in den Jahren zuvor – sechs seiner Tiere für das Fest spendiert, von denen traditionsgemäß eines „begnadigt“ wird.

In der Nacht vor dem Fest ist noch viel los in Fürstenfelde.

Ana Kranz ist in Gummistiefeln unterwegs zu einem der beiden Seen, an deren Ufern Fürstenfelde liegt. Unter dem Regencape trägt sie ihr Abendkleid. Die 90-jährige Heimatmalerin hat ihre Staffelei geschultert und zieht einen Trolley hinter sich her, in dem sie außer Malutensilien eine Thermoskanne mit Fencheltee und Rum verstaut hat. Ana Kranz, die aus dem Banat stammt, malt seit 1945 in Fürstenfelde. Obwohl sie nachtblind ist, will sie zum ersten Mal im Dunkeln arbeiten.

Wilfried Schramm war früher Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, dann Förster. Jetzt ist er Renter, und wenn das Geld nicht reicht, arbeitet er schwarz. Vor einiger Zeit nahm er die Dienste der 59-jährigen Partnervermittlerin Elisabeth Mahlke in Anspruch, die zur Vertragsunterzeichnung eigens nach Fürstenfelde kam, aber die Frau, mit der Schramm sich dann traf, ließ nach der ersten Begegnung nichts mehr von sich hören und antwortete auch nicht auf die Frage, was er falsch gemacht habe. In der Nacht vor dem Fest hat Schramm vor, sich umzubringen [Suizid]. Bevor er sich mit seiner Pistole erschießt, möchte er noch eine Zigarette rauchen, und er fährt deshalb zum Automaten. Aber das Gerät fordert aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen zum Jugendschutz nach dem Geldeinwurf dazu auf, den Personalausweis scannen zu lassen, und den hat Schramm nicht bei sich. In seinem Zorn schießt auf den Kasten.

Er sitzt mit der Pistole an der Schläfe in seinem Auto, als Anna gegen die Seitenscheibe klopft, eine hier geborene junge Frau, die zum Studieren nach Rostock zog, aber in dieser Nacht noch einmal durch ihr Heimatdorf joggt. Sie setzt sich auf den Beifahrersitz. Schramm will den Wagen anlassen, aber der Motor springt nicht an, denn das Benzin ist ausgegangen. Daraufhin bittet Schramm die Studentin, nach Hause zu laufen und ihren Ausweis zu holen. Der von einem Schuss durchlöcherte Automat funktioniert jedoch nicht mehr. Im Morgengrauen rammt Wilfried Schramm das kaputte Gerät deshalb mit einem Feldhäcksler, Baujahr 1994. „Krass“ lautet Annas Kommentar.

Eine Füchsin ahnt in dieser Nacht, dass ihre beiden Welpen sich bald selbstständig machen werden. Zum Abschied möchte sie ihnen noch etwas Gutes tun und ihnen Hühnereier bringen. Um die Eier nicht zu zerdrücken, plant sie, zweimal in den Hühnerstall einzudringen und jeweils nur ein Ei vorsichtig im Maul zu ihrem Bau zu tragen. Die Hühner – Rasse: Deutsches Zwerg-Reichshuhn – werden von dem früheren Briefträger Dietmar Dietz, genannt Ditzsche, gezüchtet. Nachdem der Fähe trotz aller Vorsicht zwei Eier bereits im Stall kaputt gegangen sind, wird sie vom Hahn angegriffen und an einem Lauf verletzt. Dennoch gelingt es ihr, mit Beute nach Hause zu kommen. Die Welpen sind allerdings nicht mehr da, und es schmeckt nach Wolf.

Uwe Hirtentäschel wurde in Fürstenfelde geboren. Mit 15 setzte er sich aus dem Dorf ab und wurde drogensüchtig. Die Begegnung mit einem Engel läuterte ihn. Er kehrte nach Fürstenfelde zurück und übernahm in der verwaisten Dorfkirche die Aufgaben eines Seelsorgers. In dieser Nacht beobachtet er die Silhouette eines am Haus der Heimat mit einer Taschenlampe herumschleichenden Menschen. Er ruft Johanna Schwermuth an. Sie stellt rasch fest, dass der Strom ausgefallen war. Ihr 16-jähriger Sohn Johann, der eine Ausbildung als Einzelhandelskaufmann macht und am nächsten Tag die Glöcknerprüfung absolvieren will, um den seit 1943 in Fürstenfelde amtierenden Glöckner Gustav ablösen zu können, wundert sich allerdings über eine eingeschlagene Scheibe. Um nachzusehen, steigt er ins Haus der Heimat ein. Plötzlich flammt die Beleuchtung auf, die Türe fällt zu, und die Farbe des Codeschlosses wechselt von Grün auf Rot.

Nachdem er von seiner Mutter befreit wurde, stellt er fest, dass im Kirchturm die drei Glocken fehlen. Sie stehen am Ufer des Tiefen Sees. Augenscheinlich wollten Diebe sie abtransportieren.

Das Annenfest beginnt mit einer Auktion am Tiefen See.

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„Vor dem Fest“ ist ein tragikomischer, aus zahlreichen skurrilen Miniaturen gewebter Dorfroman. Er spielt in einer Nacht – der Nacht vor dem Fest – in dem entrückten (fiktiven) Dorf Fürstenfelde in der Uckermark. Saša Stanišić entwickelt in „Vor dem Fest“ keine Handlung im eigentlichen Sinne, sondern ein Kaleidoskop mit Fragmenten von Geschichten nicht nur aus dieser Nacht, sondern auch aus früheren Jahrhunderten. Bei den Legenden und Märchen imitiert Saša Stanišic mitunter die frühneuhochdeutsche bzw. neuhochdeutsche Sprache:

Im Jar 1587 um Ostern trug sich zu, daß deß Müllers Sau allhier beym Pranger am Tiefen See ein Wunderferkel gebar […].
Das Volck kam zum See, das Curiosum zu beschauen und zu berathschlagen, was wol tu tun sey. […]

In den Bereich der Mythen gehört auch eine denkende Füchsin, die wir in der Nacht vor dem diesjährigen Annenfest beim Eierdiebstahl beobachten.

Die Fähe ahnt die Zeit, da die Seen noch nicht existierten und keine Menschen hier ihr Revier hatten.

Mystisch oder poetisch – und nicht nach meinem Geschmack – sind auch Sätze bzw. Textpassagen wie die folgenden:

Glaub aber ja nicht, dass wir in diesem Moment der Schwäche den Tiefen See, der ohne den Fährmann noch tiefer geworden ist, nach seinem Befinden fragen. Oder den Großen See, der den Fährmann ertränkt hat, nach seinem Motiv.

Und die Seen sind wieder wild und dunkel und schauen sich um.

[…] wie man Gewässer tröstet.

[…] wo der See die Landstraße zärtlich berührt […]

Fledermäuse schießen über ihren Kopf. Einsilbige Gesellen, zu schnell für jeden Scherz, flattern nervös davon. Am Waldrand hält eine Wildschweinrotte Jagdrat.

Na dann, wollen wir, sagt der Fährmann.
Steg, Dock, Fährmannglocke.
Gummireifen, Fähre, Kahn.
Stiefel, Türvorleger, Pflanzentopf ohne Pflanze.
Holz, Holzwürmer, bessere Zeiten.
Ein niedriges Bett, ein Fenster zum Ufer, eines zum Wasser, der Fährmann sah die Seen, auch wenn er träumte.
Ein Tisch, auf dem er aus einem Teller aß, mit einer Gabel, einem Messer, einem Löffel.
Ein Schrank, ein Handtuch, eine Rasierklinge.
Eine Truhe, massiv, verschließbar, der Deckel gewölbt.
Feuchtigkeit, Pilz, Mäuse.
Luke, Verschlag, Zeug.

In „Vor dem Fest“ gibt es (mit einer kleinen Ausnahme) weder einen Ich- noch einen auktorialen Erzähler, sondern ein „Wir“, einen Chor von Stimmen, der den Leser dann und wann direkt mit „du“ anspricht:

Wir sind traurig. Wir haben keinen Fährmann mehr. Der Fährmann ist tot. Zwei Seen, kein Fährmann. Zu den Inseln gelangst du jetzt, wenn du ein Boot hast. Oder wenn du ein Boot bist. Oder du schwimmst.

Diese ersten Zeilen des Romans von Saša Stanišić sind nicht nur beispielhaft für die Erzählperspektive, sondern auch für das Parataxen-Stakkato in „Vor dem Fest“.

Die Natur erobert sich zurück, was ihr gehört. Würde man woanders sagen. Wir sagen das nicht. Weil es Unfug ist. Die Natur ist inkonsequent. Auf die Natur ist kein Verlass. Und auf was du dich nicht verlassen kannst, damit bau keine Redewendungen.

Wir haben ein Mäuseproblem. Sie verbreiten sich im Menschenleeren wie Bewohnten. Ernähren sich von Körnern und aufgegebenen Ideen. Fressen den Schatten der Treuhand aus der Hand. Vermehren sich unter unserem Schlaf. Graben. Laufen. Tick-tick-tick-tick über die alten Dielen. Verschrecken Investoren. Verheeren den Zugezogenen die Speisekammern.

Der Gebrauch des Dativs anstelle des Genitivs („wegen dem Visum“ / „wegen dem Fest“) dient vermutlich zur Charakterisierung des Erzählerchors.

Den Roman „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Saša Stanišic (Regie: Marlene Breuer, München 2014, ISBN 978-3-8445-1448-3).

Saša Stanišić wurde am 7. März 1978 in der bosnischen Kleinstadt Višegrad geboren. Sein serbischer Vater und seine bosnische Mutter flüchteten 1992 mit ihm zu Verwandten in Heidelberg. Dort besuchte Saša Stanišić die Internationale Gesamtschule, machte 1997 das Abitur und begann Sprachen zu studieren. Im Wintersemester 2004/05 wechselte er von der Universität Heidelberg zum Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2006 debütierte er mit dem teilweise autobiografischen Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“, der auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis kam und sowohl als Hörspiel als auch als Bühnenwerk adaptiert wurde.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.