Jean-Philippe Toussaint : Nackt
Inhaltsangabe
Kritik
Monatelang bereitet die Modeschöpferin Marie Madeleine Marguerite de Montalte die Präsentation einer neuen Kreation in dem von Fumihiko Maki entworfenen, 1985 fertiggestellten Gebäude „Spiral“ in Tokio vor.
[…] eine Haute Couture ohne Couture, eine Nähkunst ohne Naht. Mit ihrem Honigkleid erfand Marie ein Kleidungsstück ohne jede Verbindung oder Befestigung, ein Kleid, das auf dem Körper des Mannequins selbst haftete […]
Das Honigkleid soll als krönender Abschluss der Herbst-Winter-Kollektion vorgeführt werden. Ein Stab von Experten berät unter anderem darüber, ob der Bienenschwarm, der dem Mannequin über den Laufsteg folgen soll, aus lebenden Insekten oder kleinen Flugrobotern bestehen soll. Nachdem die Entscheidung für echte Bienen gefallen ist, trifft Marie sich mit einem in Tokio lebenden korsischen Imker in einem Panoramarestaurant im Stadtteil Shinjuku zum Mittagessen. Aber der Mann ist so fantasiearm, dass Marie nicht mit ihm, sondern mit einem leicht homosexuellen deutschen Imker zusammenarbeitet. Für das Tragen des Honigkleides wird eine zunächst von einem Dermatologen und einem Allergologen untersuchte 16-jährige Russin unter Vertrag genommen. Eine ganze Reihe von Rechtsfragen muss geklärt werden, bevor Marie die ersten Probeläufe wagen kann.
In den letzten Minuten vor dem Auftritt herrscht backstage eine Hektik wie in einem Bienenstock. Assistenten tragen den in Farbe und Viskosität exakt abgestimmte Honig nit Pinseln aus Marderborsten auf den nackten Körper des Mädchens auf und föhnen das tropfende Kleid.
Ein Bienenschwarm folgt dem Mannequin wie vorgesehen über den Laufsteg und auch, als es wieder zurückschreitet. Aus dem Publikum sind bewundernde Ausrufe zu hören. Ganz am Ende zögert die junge Frau kurz, ob sie den linken oder rechten Ausgang nehmen soll. Sie knickt um, stürzt – und der Bienenschwarm fällt über sie her. Überall am Körper wird sie gestochen. Der Imker eilt zu ihr, „ein tolpatschiger Kosmonaut in seinem weißen Imkeranzug, mit übergroßen Handschuhen und vergitterter Gesichtsmaske“. Japanische Feuerwehrleute versuchen ebenfalls zu helfen. Die Zuschauer glauben, das alles gehöre zur Inszenierung und applaudieren begeistert.
Marie strebte eine perfekte Vorführung an, muss jedoch einsehen, dass sich nicht alles kontrollieren lässt.
Der Ich-Erzähler, dessen Namen wir nicht erfahren, hat Marie nach Japan begleitet.
Dort hatte alles begonnen, oder vielmehr, dort hatte alles aufgehört, weil wir uns dort getrennt hatten, weil wir uns dort das letzte Mal geliebt hatten, in einem Zimmer eines Grandhotels von Shinjuku. Wir waren gemeinsam nach Japan gereist und waren zwei Wochen später getrennt, jeder für sich, zurückgekehrt.
Ohne ihr Wissen fährt er zur Vernissage ihrer Ausstellung im Contemporary Art Space von Shinagawa, klettert über eine Feuerleiter aufs Dach und schaut durch die Lichtkuppel nach unten.
Unter den Besuchern der Vernissage mit dem Titel „MAQUIS“ – eine Anspielung auf die Modenschau „Maquis im Herbst“ im „Spiral“ – befindet sich ein Geschäftsmann namens Jean-Christophe de G., der von dem befreundeten, seit mehr als zehn Jahren in Tokio lebenden Geschäftspartner Pierre Signorelli mitgenommen wurde.
Jean Christophe de G.s Geschäfte gingen gut, sein Selbstvertrauen war grenzenlos.
Jean-Christophe de G. setzt sich das Ziel, an diesem Abend die Hauptperson Marie Madeleine Marguerite de Montalte abzuschleppen. Zu diesem Zweck schafft er sich erst einmal seinen Begleiter vom Leib. Es dauert einige Zeit, bis es ihm gelingt, Marie auf Französisch anzusprechen. Dass die Frau zwar ebenfalls Marie heißt, aber nicht die Ausstellerin ist, begreift er erst, als sie von Pierre Signorelli mit Küsschen auf die Wange begrüßt wird: Die beiden kennen sich.
Das Einzige, was ihn im Moment in seiner Verlassenheit beruhigen konnte, war die Tatsache, dass außer ihm niemand seinen Irrtum bemerkt hatte.
Zurück in Paris, zieht der Ich-Erzähler bei Marie aus. Sie sehen sich nur selten, aber im Sommer schlägt Marie überraschend einen gemeinsamen Aufenthalt im Haus ihres vor zwei Jahren verstorbenen Vaters in Rivercina auf Elba vor. Die Liebe des Mannes flackert wieder auf.
Danach wartet er allerdings vergeblich auf einen Anruf von Marie. Am Fenster stehend, denkt er an sie.
Marie die Geschäftsfrau, Marie die Chefin eines Unternehmens, die Verträge unterschrieb und in Paris und in China Immobilientransaktionen betrieb, den tagesaktuellen Dollarkurs kannte und die Entwicklung an den Börsen verfolgte, Marie die Modeschöpferin, die weltweit mit Dutzenden von Assistenten und Mitarbeitern zusammenarbeitete.
Nach einer Weile schlagen seine Gefühle für Marie in Gereiztheit um.
Doch mit Voranschreiten der Zeit hielt ich nichts mehr zurück und ließ meinem Groll schließlich freien Lauf. Maries letzte Sprunghaftigkeit, mich erst für zwei Wochen mit ihr nach Elba einzuladen, um mich danach derart hängenzulassen und kein Lebenszeichen mehr von sich zu geben, war nichts anderes als der höchste Ausdruck ihrer absoluten Unbekümmertheit.
Auf die Idee, die Initiative zu ergreifen, kommt er offenbar gar nicht. Es dauert zwei Monate, bis Marie Ende Oktober anruft und sich mit ihm in einem Café verabredet. Er nimmt an, dass sie ihm etwas mitteilen möchte. Hoffentlich handelt es sich nicht wieder um einen Todesfall.
[…] immer, wenn Marie mich in letzter Zeit so unerwartet angerufen hatte, ging es darum, mir den Tod von jemandem mitzuteilen, den ihres Vaters vor zwei Jahren, den von Jean-Christophe de G. im vergangenen Juni […]
Als Marie das Café auf der Place Saint-Sulpice betritt, wundert er sich darüber, dass sie sich augenscheinlich nicht die geringste Mühe machte, sich für das Treffen mit ihm herzurichten. Tatsächlich kommt sie auf einen Todesfall zu sprechen: Maurizio ist gestorben, der Hüter des Hauses auf Elba. Marie hat es gerade von seinem älteren Sohn am Telefon erfahren, und nun fragt sie ihren Freund, ob er sie zur Beerdigung begleiten wolle.
Sie fliegen nach Pisa, fahren mit der Bahn nach Piombino und setzen mit der Fähre nach Portoferraio über, wo sie von Giuseppe, dem jüngeren Sohn des Verstorbenen, abgeholt werden. Francesco, sein älterer Bruder, arbeitet beim Finanzamt. Wie Giuseppe sein Geld verdient, wissen Marie und ihr Begleiter nicht. Er trägt schwarze Kleidung, aber der Erzähler hält es für möglich, dass der Trauerfall gar nicht Anlass dafür ist. Als er den Koffer in den Laderaum des Pickups hebt, fallen ihm zwei Benzinkanister auf, über die Giuseppe sofort eine Decke wirft.
Vor zwei Monaten mussten Marie und ihr Begleiter Elba wegen eines Feuers überstürzt verlassen. Jetzt brennt es erneut. In der Nacht ging die für ihre hervorragende Qualität bekannte Schokoladenmanufaktur Monte Capanne in dem vier oder fünf Kilometer von Portoferraio entfernten Dorf Schiopparello in Flammen auf. Die Feuerwehrleute sind noch immer im Einsatz. Die Büro-, Lager- und Fertigungsräume des Familienunternehmens sind zerstört. Ohne dem neben ihm zusammengedrängt sitzenden Paar etwas zu erklären, fährt Giuseppe hin, wechselt kurz ein paar Worte mit einem Polizisten, der ihn daraufhin durchlässt, geht zielstrebig in einen vom Feuer verschont gebliebenen Schuppen und versteckt beim Herauskommen etwas unter seinem Blouson. Es habe sich um Brandstiftung gehandelt, sagt er während der Weiterfahrt. Die Eigentümerfamilie Scalione habe geglaubt, ohne Schutzgeldzahlungen auszukommen.
Als sie sich Giuseppes Elternhaus nähern, sagt Marie, sie würde gern Maurizios Witwe Antonina begrüßen, aber Giuseppe meint, seine Mutter sei müde und Marie würde sie ohnehin am Nachmittag bei der Beerdigung sehen. Ohne anzuhalten bringt er das Paar zum Haus in Rivercina. Die beiden sind kaum ausgestiegen, da fährt er wieder los.
Beim Betreten ihres Schlafzimmers im Obergeschoss erstarrt Marie. Das Bett ist ungemacht, die Laken verknittert. Kleidungsstücke und Zigarettenkippen liegen herum. Während ihrer Abwesenheit muss jemand in ihrem Bett geschlafen haben! Sie will keine Sekunde länger bleiben und stürmt die Treppe nach unten. Ihr Begleiter zieht eine Schublade heraus, entdeckt Schachteln mit Patronen. Davon erzählt er Marie nichts, als sie mit dem Lieferwagen ihres Vaters nach Portoferraio zurückkehren.
Niemals wäre so etwas zu Lebzeiten von Maurizio passiert, sagte sie, niemals hätte er jemanden im Haus schlafen lassen, wenn wir nicht da sind. […]
Und jetzt war Maurizio noch keine Woche tot und schon werde das Haus als Unterschlupf für latitanti benutzt (sie sagte das Wort auf Italienisch, latitanti, mit unüberhörbarer Abscheu), und der Verantwortliche hatte für sie schon einen Namen, daran bestand kein Zweifel: Es war Giuseppe!“
Sie nehmen sich ein Zimmer in dem kleinen Hotel „Ape Elbana“ in Portoferraio, in dem der Erzähler schon einmal wohnte, als er wegen der Beerdigung von Maries Vater auf Elba war.
Sobald sie ihre Sachen abgelegt haben, fahren sie zum Friedhof. Dort nähern sie sich einer Gruppe von Trauergästen – aber es handelt sich nicht um Maurizios Begräbnis. Vergeblich suchen sie nach dem richtigen Grab. Schließlich finden sie kaum noch den Ausgang. Marie wird schwindlig; sie muss sich kurz setzen.
Aber was ist mit dir, Marie?, fragte ich sie mit leiser Stimme, was hast du denn? Was ich habe!, sagte sie und hob den Kopf zu mir hoch, aber siehst du denn nicht, was mit mir ist? Ich bin schwanger, sagte sie.
Das war es also, was sie ihm im Café auf der Place Saint-Sulpice sagen wollte! Die Nachricht von Maurizios Tod kam dazwischen.
Sie verlassen den Friedhof und fahren zurück nach Riverdina. Bei einer Kapelle am Weg fällt ihnen eine größere Ansammlung von Menschen und geparkten Autos auf: Maurizios Begräbnis! Die Zeremonie geht gerade zu Ende. Marie erblickt Antonina, hält an, springt aus dem Fahrzeug und rennt zu ihr, um sie schluchzend zu umarmen. Dann geht sie auf Giuseppe zu und stellt ihn zur Rede. Er weicht vor ihr zurück, steigt wütend in seinen Wagen und rast los.
Im Hotel stellen sie fest, dass die Heizung defekt ist. Während sich das Besitzerpaar mit einem Monteur darum kümmert, fahren sie erneut zum Haus in Rivercina, um den Lieferwagen dort abzustellen. Mit einem Taxi wollen sie dann nach Portoferraio zurückkehren und am nächsten Tag die erste Fährte nehmen.
Als sie an Maurizios Haus vorbeikommen, sehen sie, wie Giuseppe von Carabinieri abgeführt wird.
Im Haus in Rivercina führt Marie ihren Begleiter in das Schlafzimmer im Parterre, in dem sie vor zwei Monaten das Kind zeugten.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Sie ließ mich vor ihr eintreten, folgte mir, ohne das Licht einzuschalten, warf sich dann an mich, um mich zu küssen, und jetzt begriff ich, warum sie Wert darauf gelegt hatte, mich in dieses Zimmer zu führen, es war hier, in diesem Zimmer, in dem wir am Ende des Sommers uns geliebt hatten, und in meiner Vorstellung begannen diese beiden Momente, sich zu überlagern, ich befand mich gleichzeitig in der Gegenwart und in der Vergangenheit, in den letzten Tagen des Augusts, als Marie am frühen Morgen zu mir ins Zimmer gekommen war, und im Jetzt, in den Armen Maries schwankend […]
Mit „Nackt“ beendet der belgische Schriftsteller und Filmregisseur Jean-Philippe Toussaint (vorerst?) seine Romanreihe über die Liebesbeziehung eines Ich-Erzählers, dessen Namen wir nicht erfahren, und der Modeschöpferin Marie Madeleine Marguerite de Montalte. Die Tetralogie besteht aus folgenden Romanen:
- „Faire l’amour“ (2002) / „Sich lieben“ (Übersetzung: Bernd Schwibs, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 2003, 153 Seiten)
- „Fuir“ (2005) / „Fliehen“ (Übersetzung: Joachim Unseld, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 2007, 169 Seiten)
- „La vérité sur Marie“ (2009) / „Die Wahrheit über Marie“ (Übersetzung: Joachim Unseld, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 2010, 190 Seiten)
- „Nue“ (2013) / „Nackt“ (Übersetzung: Joachim Unseld, Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/M 2014, 157 Seiten)
„Nackt“ beginnt mit einer ebenso originellen wie amüsanten Episode über die Präsentation eines Honigkleides in Tokio. Im zweiten Kapitel wartet der Ich-Erzähler nach einem zweiwöchigen Elba-Aufenthalt mit Marie in Paris auf einen Anruf von ihr und denkt an sie. Dabei erinnert er sich auch an eine Vernissage in Tokio bzw. malt sich eine Szene dort aus. Erst im dritten, fast ausschließlich auf Elba spielenden Teil gibt es wieder eine Handlung im eigentlichen Sinn, sogar eine mit Thriller-Elementen.
Die Komposition von „Nackt“ ist minimalistisch, die Sprache klar und elegant. Jean-Philippe Toussaint hält die Figuren in „Nackt“ bewusst schemenhaft. Das gilt besonders für die Vernissage in Tokio, eine surreal wirkende Szene, die sich als Reflexion des Verhältnisses von Kunst und Leben interpretieren lässt. Es fällt auf, dass in diesem um eine Liebesbeziehung mit Trennungen und Annäherungen kreisenden Roman viel vom Tod die Rede ist. Und ein paar Mal überrascht Jean-Philippe Toussaint mit urkomischen Wendungen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Frankfurter Verlagsanstalt