Kai Weyand : Applaus für Bronikowski

Applaus für Bronikowski
Applaus für Bronikowski Originalausgabe: Wallstein Verlag, Göttingen 2015 ISBN: 978-3-8353-1604-1, 188 Seiten ISBN: 978-3-8353-2764-1 (eBook) Taschenbuch: btb, München 2017
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

An seinem 31. Geburtstag erhält NC, wie üblich, telefonische Glückwünsche seines fünf Jahre älteren Bruders, der inzwischen bei einer Bank in London Karriere gemacht hat und sich besorgt gibt, denn NC hat es weder als Gärtner-Azubi noch als Hausmeister längere Zeit ausgehalten. Bei einem ziellosen Spaziergang fällt NC ein Bestattungsinstitut auf. Er bewirbt sich und wird als Hilfskraft eingestellt ...
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Kritik

Kai Weyand wechselt in der leise-melancholischen Tragikomödie "Applaus für Bronikowski" zwischen Ernst und Slapstick. Skurril sind nicht nur die Romanfiguren, sondern auch die Szenen, die Kai Weyand lako­nisch-beiläufig veranschaulicht.
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Als Dionysos („Nies“) 13 Jahre alt ist, eröffnen die Eltern ihm und seinem fünf Jahre älteren Bruder Bernd, dass sie im Lotto gewonnen haben. Das Geld reiche für einen Neuanfang, meint der Vater, aber Nies kann sich nicht vorstellen, wozu das gut sein soll, denn er ist zufrieden mit den Verhältnissen. Die Eltern wollen sich einen Lebenstraum erfüllen und nach Kanada auswandern. Weil der Vater das deutsche Bildungssystem für besser als das kanadische einschätzt, haben die Eltern beschlossen, die Söhne in Deutschland zurückzulassen. Bernd, der kürzlich eine Banklehre begann, soll auf seinen jüngeren Bruder aufpassen und dabei lernen, Verantwortung zu übernehmen. Während der 18-Jährige die geplante Veränderung freudig aufnimmt, fühlt sich Nies von den Eltern im Stich gelassen, und er ändern seinen Namen in „NC“ für „No Canadian“.

An seinem 31. Geburtstag erhält NC, wie üblich, telefonische Glückwünsche seines Bruders, der inzwischen bei einer internationalen Bank in London Karriere gemacht hat und noch immer überzeugt ist, dass sich alles in der Welt berechnen lässt. Seit der Auswanderung der Eltern fühlt er sich für seinen jüngeren Bruder verantwortlich, aber die Kontakte der beiden sind auf ein Minimum beschränkt.

Nach dem Schulabschluss begann NC eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner. Die brach er ab und versuchte es in der Systemgastronomie, dann wurde er Hausmeister. Bernd äußert sich besorgt:

„Du sollst endlich erwachsen werden. Freundin verloren, Job verloren, da ist ja nicht mehr so viel Luft nach unten. Mal ehrlich, Hausmeister, das ist nichts, was man wird, sondern das, was einem bleibt, wenn man nichts geworden ist. Und selbst den Job hast du verloren. Mann, Mann, ich mach mir Sorgen um dich.“

Nach dem Telefongespräch denkt NC über die Worte seines Bruders nach:

Er war einunddreißig, hatte keinen Job, keine Freundin und nicht genügend Geld, um die Miete für den nächsten Monat bezahlen zu können. Börsennotiert wäre der Kurs seiner Lebensaktie wohl wirklich auf Ramschniveau gesunken. Aber: Er glaubte nicht an Aktien, und er wollte nicht heute damit anfangen.

Bei einem ziellosen Spaziergang fällt ihm ein älterer Herr mit einem Hund auf. Das Tier – es heißt November – scheint ganz normal zu laufen, obwohl es bei einem Unfall als Welpe einen Lauf verloren hat.

Was bedeutete es für das Selbstverständnis eines Hundes, wenn er das Bein nicht heben konnte?

NC fragt sich das. Aber dann denkt er weiter:

Vierbeinige Hunde mussten ja nur deshalb ein Bein heben, weil sie eben vier Beine hatten.

In einer Bäckerei, an der er bei seinem Spaziergang zufällig vorbeikommt, lässt er sich von der molligen Verkäuferin Maria März nicht nur ein Teilchen empfehlen, sondern auch wohin er gehen soll. So gelangt er in die Holpenstraße, und da entdeckt er das Schild eines Bestattungsinstituts.

[…] er blieb stehen und bemerkte, dass Tod ein einsilbiges Wort war. Das gefiel ihm. Komplizierte Dinge bestanden aus mindestens zwei Silben, das Wort Liebe zum Beispiel. Noch schlimmer: Liebesverhältnis. Zwei Hauptwörter, zusammengesetzt, fünf Silben. Wahnsinn.
Tod.
Drei Buchstaben. Absolut ausreichend. Nicht mehr als die Mindestanzahl für ein Hauptwort. Mehr Buchstaben oder gar ein mehrsilbiges Wort wären geradezu geschwätzig für ein Ereignis des Verstummens, um das es sich ja handelte. Außerdem fand NC es passend, dass in der Mitte des Worts ein O platziert war. Sowohl von der Mundformung als auch von der Zeichenform her symbolisierte es das Loch, das am Ende auf einen wartete. Sprachlich gesehen besaß das Wort Tod im Grunde die optimale Korrelation zwischen Anzahl und Verteilung der Buchstaben und dem, was sie bedeuteten.

Ein wie Abraham Lincoln aussehender, jedoch Manfred Wege heißender Mann öffnet die Tür und fragt NC, was er für ihn tun könne.

Ich habe draußen das Schild gesehen, sagte NC.
Das hoffe ich doch, sagte Lincoln, wenn Sie es nicht gesehen hätten, hätte ich es schlecht angebracht.

Manfred Wege führt den Jobsuchenden in einen Raum mit einem Tisch, an dem zehn Personen Platz finden würden. Die Tür geht auf, ohne dass NC jemanden hereinkommen sieht.

Dann sah er einen rotblonden Haarschopf oberhalb der Stuhllehne auftauchen, aber kein Gesicht. Im ersten Moment dachte NC an ein Kind, aber es war eine sehr kleine Frau, wie er feststellte, als sie neben Lincoln stand. Selbst stehend reichte sie dem sitzenden Lincoln nicht bis zur Stirn.

Bei der Kleinwüchsigen handelt es sich um Sabine, die Ehefrau des Bestatters. Sie erledigt die Büroarbeit. Fürs Grobe zuständig ist Viktor, ein seit 20 Jahren in Deutschland lebender ehemaliger kasachischer Juniorenmeister im Gewichtheben. Zu dessen Unterstützung stellt Manfred Wege den zufällig vorbeigekommenen Bewerber ein: Er soll Viktor beim Transport der Toten helfen, die Särge ausschlagen, die Leichen waschen und Trauerfeiern vorbereiten.

Wenn NC morgens mit dem Bus zur Arbeit fährt, beobachtet er, wie ein Schüler namens Marcel von den anderen Jungen gemobbt wird.

Warum wehrst du dich nicht?, zischte ihm NC einmal genervt zu. Sie nennen dich Spast, schlagen dich, und du lässt das einfach so mit dir machen.
Meine Mutter meint, es ist stärker, wenn ich nichts mache.
NC lachte höhnisch auf. Vielleicht sollte deine Mutter mal neben dir im Bus sitzen, sagte er und schüttelte den Kopf. Aber gut, wenn du den Jesus spielen willst, bitte schön.

An einem der nächsten Tage packt NC den Anführer der Schüler, die es auf Marcel abgesehen haben und bricht ihm mit zwei Faustschlägen die Nase. Der Busfahrer ruft die Polizei. Ein Beamter nimmt NCs Personalien auf und meint, er müsse mit einer Anzeige wegen Körperverletzung rechnen.

Auf dem Weg vom Bestattungsunternehmen nach Hause kauft NC regelmäßig in der Bäckerei ein Teilchen und freut sich, die mollige Verkäuferin zu sehen.

Sie schien ihren Körper zu mögen, und vielleicht war das der Grund, warum ihre Bewegungen anmutig wirkten und nicht plump, wenn sie süße Teilchen aus der Ablage nahm oder ein Brot aus dem Regal. Das, was sie tat, machte sie mit Liebe, und nie hatte NC das Gefühl, sie wolle eigentlich etwas anderes tun. Es schien keinen Traum zu geben, der ihre Gedankenwelt beanspruchte und sie fortzuziehen suchte. Sie lebte im Moment.

Als NC mit Viktor zusammen die tote Frau Langfeld abholt, stellt er fest, dass die Verstorbene gerade einmal drei Jahre älter war als er selbst. Die Geschwister, Frau Bach und Herr Langfeld, können sich nicht darauf einigen, wie die Leiche bestattet werden soll. Frau Bach meint, ihre Schwester hätte sich eine Seebestattung gewünscht, denn sie schwamm leidenschaftlich gern. Aber der Bruder hasst das Wasser, seit er als 16-Jähriger hilflos mit ansehen musste, wie sein Freund von der Strömung ins offene Meer hinausgezogen wurde. Erst nach acht Tagen wurde die Leiche gefunden. Weil Herr Langfeld für die Kosten aufkommt, beansprucht er das Recht, zu entscheiden. Er ist zwar auch für eine Kremation, aber die Urne soll auf den Friedhof kommen.

Frau Bach bedrückt das sehr, und aus Mitleid verspricht NC ihr unter vier Augen, er werde eine Seebestattung organisieren.

NC wurde etwas flau im Magen, als ihm bewusst wurde, welche Erwartungen er geweckt hatte. Tatsächlich hatte er noch keine Ahnung, wie er sein Versprechen einlösen könnte. Er hatte sie trösten wollen, aber ihr Blick, die Freude, die sich darin spiegelte, Teil eines Plans zu sein, der etwas Außergewöhnliches schaffen würde, nämlich die Seebestattung ihrer toten Schwester, bereitete NC nun Unbehagen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Vor der Trauerfeier für Frau Langfeld füllt NC zwei Kannen Wasser in den Sarg. Wie geplant, beginnt es während Manfred Weges Rede aus dem Sarg zu pritscheln. Ein Schrei ertönt.

Oh mein Gott, schrie jemand, sie läuft aus. Nein, wie schrecklich.
Das ist Leichenfett, brüllte ein anderer, das ist giftig.
Der Sarg ist nicht dicht, brüllte ein Dritter, Herrgott, das gibt’s doch nicht.“

Ein Tumult bricht los. Vergeblich versucht NC den Trauergästen die Poesie und die Bedeutung seines Einfalls zu erklären.

NC nahm sich vor, bei Gelegenheit genauer über den Begriff Würde nachzudenken. Er schien ihm komplex zu sein.

Manfred Wege kann Frau Bach und Herrn Langfeld nur mit Mühe von einer Anzeige abhalten. Trotzdem beschäftigt er NC auch weiterhin. Und er vertraut NC sogar den Bereitschaftsdienst über Weihnachten an.

Ausgerechnet Herr März ruft an und bestellt einen Sarg für seinen verstorbenen Schwiegervater. NC ist es unangenehm, der Bäckereiverkäuferin als Bestatter zu begegnen, aber es bleibt ihm nichts übrig, als mit Viktor hinzufahren. Der Tote liegt im Obergeschoss des Einfamilienhauses. Ihr Vater sei Theaterschauspieler gewesen, erklärt Frau März, und man habe ihn respektvoll den alten Bronikowski genannt. Viktor hat verdorbene Muscheln gegessen und sucht nach der Ankunft sofort die Toilette auf, um sich geräuschvoll zu übergeben. Weil der Kasache nicht in der Lage ist, die Leiche in den Sarg zu heben, lässt NC sich von den Hinterbliebenen helfen, aber dabei verrenkt sich Herr März den Rücken. Allein kann NC den Sarg nicht über die steile Treppe nach unten tragen. Er hat eine Idee und empfiehlt Frau März, es als letzte Rolle ihres Vaters zu betrachten.

Sie meinen, der tote alte Bronikowski soll einen toten alten Bronikowski spielen, verstehe ich Sie richtig?
NC nickte.
Und die Treppe?
Gehört zum Stück. Eine Requisite.

NC schiebt den Sarg bis zum Treppenrand.

Der Sarg?, fragte Frau März plötzlich, geht er nicht kaputt, wenn …
NC schluckte. Daran hatte er nicht gedacht. Der Sarg. Fichtenholz. Die Frage traf ihn so unvorbereitet wie ein unvermittelter Stromschlag beim unvorsichtigen Überqueren eines Weidezauns.

Schon bei der dritten Stufe splitterte das Holz. Der alte Bronikowski rutschte auf der Matratze durch den berstenden Sarg und mit flatterndem weißen Haar schlitterte er noch ein Stück über den Kachelboden im Erdgeschoss.

Wegen des kaputten Sargs transportieren NC und der inzwischen aus der Toilette gekommene Viktor den Toten nicht auf der Ladefläche, sondern setzen ihn auf die Beifahrerbank des Leichenwagens.

Nachdem sie den Toten im Bestattungsinstitut in einen Sarg gelegt haben, nimmt NC den verwaisten dreibeinigen Hund mit nach Hause, denn seit Tagen hat er den alten Mann nicht mehr gesehen.

Am 27. Dezember begleitet ihn November zum Bestattungsinstitut. Vor neun Monaten fing NC dort zu arbeiten an. Nun kündigt er. Manfred Wege sieht ihn lange an und sagt ihm, Frau März habe am Morgen angerufen und alles erzählt. Sie wolle nicht, dass er Ärger bekommt.

Vielleicht bist du deiner Zeit voraus, sagte Manfred, ich weiß es nicht, aber wenn sich deine Methoden herumsprechen, bin ich bald bankrott. Er reichte NC die Hand. Alles Gute, ich habe deine Papiere schon fertig gemacht.

Als Nächstes wird NC mit November eine Metzgerei suchen.

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Der Roman „Applaus für Bronikowski“ von Kai Weyand dreht sich um Außenseiter: eine Kleinwüchsige, einen dreibeinigen Hund und vor allem um einen 31-Jährigen, der sich weigert, erwachsen zu werden oder gar eine Karriereleiter zu erklimmen. NC will weder so werden wie sein älterer Bruder, der Banker, der seine Entscheidungen nach Kosten-Nutzen-Abwägungen trifft, oder seine in einer Werbeagentur tätige Ex-Freundin Kornelia, die sich nur im Zustand drohender Überforderung lebendig fühlt. Neun Monate lang arbeitet NC für einen Bestatter und entwickelt dabei „kreative“ Ideen, die den Bestand des Unternehmens gefährden.

Kai Weyand beweist mit „Applaus für Bronikowski“, dass sich Komik auf der einen, Würde und Respekt auf der anderen Seite nicht ausschließen. Die melancholische Tragikomödie wechselt zwischen Ernst und Slapstick. Skurril sind nicht nur die Romanfiguren, sondern auch die Szenen, die Kai Weyand lakonisch-beiläufig, ohne Effekthascherei und mit großer Leichtigkeit veranschaulicht. Mit Ausnahme der titelgebenden Szene ist „Applaus für Bronikowski“ ein leises und feinfühliges Buch.

Mit „Applaus für Bronikowski“ schaffte es Kai Weyand auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2015.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Wallstein Verlag

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