Giuliano da Empoli : Der Magier im Kreml

Der Magier im Kreml
Le Mage du Kremlin Éditions Gallimard, Paris 2022 Der Magier im Kreml Übersetzung: Michaela Meßner Verlag C. H. Beck, München 2023 ISBN 978-3-406-79993-8, 265 Seiten ISBN 978-3-406-79994-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Wadim Baranow studiert an der Moskauer Schauspielakademie und avanciert dann zum Fernsehproduzenten. In dieser Funktion gewinnt er das Vertrauen des Medienmoguls Boris Beresowski, der 1999 den farblosen Geheimdienst-Direktor Wladimir Putin zum Regierungschef aufbaut. Aber Beresowskis Einschätzung, im Hintergrund die Fäden ziehen zu können, erweist sich als falsch ...
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Kritik

In seinem literarisch nicht besonders anspruchsvollen Roman "Der Magier im Kreml" versetzt sich Giuliano da Empoli in die Gedankenwelt eines Putin-Beraters. Er vermittelt einige interessante Gedanken über russische Besonderheiten und den Putinismus, aber aus einzelnen Aspekten wird keine umfassende oder tiefschürfende Analyse.
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Rahmenhandlung

Der Autor, ein Literaturwissenschaftler, reist 2020 von Paris nach Moskau, um sich mit dem Schriftsteller Jewgeni Iwanowitsch Samjatin (1884 – 1937) zu beschäftigen. Offenbar fällt er dem abgesetzten Präsidentenberater Wadim Alexejewitsch Baranow auf, denn der lässt ihn abholen, in sein abgelegenes Refugium bringen und erzählt ihm spätabends seine Lebensgeschichte – bis seine vier oder fünf Jahre alte Tochter Anja ins Zimmer kommt, weil sie nicht schlafen kann.

Das neue Narrativ

Wadim Baranow studiert an der Moskauer Schauspielakademie und avanciert dann zum Fernsehproduzenten. In dieser Funktion gewinnt er das Vertrauen von Boris Abramowitsch Beresowski (1946 – 2013), dem 49 Prozent der Fernsehgesellschaft ORTV gehören.

Mitte 1999 fragt der Medienmogul den Fernsehproduzenten:

„Was hältst du davon, wir hören auf, Fiktionen zu erschaffen, und erschaffen stattdessen die Realität?“

Beresowski geht es nicht nur darum, den zur Belastung gewordenen Staatspräsidenten Boris Nikolajewitsch Jelzin (1931 – 2007) durch einen Nachfolger seiner Wahl zu ersetzen, sondern zugleich ein neues Narrativ zu verbreiten, denn die Bevölkerung ist durch die von Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1931 – 2022) ausgelösten Umwälzungen verunsichert und verlangt nach neuer Ordnung. Sein Plan sieht vor, Wladimir Wladimirowitsch Putin (*1952) für eine Kandidatur um das Amt des Staatspräsidenten zu gewinnen und ihm zum Sieg zu verhelfen. Dass der Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB so farblos wie ein Abteilungsleiter bei der Post wirkt und nichts mit den verrufenen Regierungskreisen zu tun hat, dürfte dazu entscheidend beitragen.

Putin wird im August 1999 Ministerpräsident, übernimmt am 31. Dezember 1999 kommissarisch das Amt des Präsidenten der Russischen Föderation und wird bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2000 im Amt bestätigt.

Aber Beresowskis Vorstellung von einer von ihm gelenkten Galionsfigur an der Spitze des Staates erweist sich rasch als Fehleinschätzung. Putin verfolgt seine eigenen Ziele und statt auf Oligarchen zu hören, ernennt er Baranow zu seinem Berater.

Putin als Garant der neuen Ordnung

Die Sprengstoffanschläge auf Wohnhäuser in Moskau im August und September 1999 mit mehr als 200 Toten nutzen Putin. Zwar gibt es Gerüchte über eine Verwicklung Putins, aber der macht tschetschenische Separatisten für den Terror verantwortlich, beginnt den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999 – 2009) und inszeniert sich als führungsstark.

Die Politik […] reagiert auf die Ängste der Menschen. Deshalb wird der Staat in dem Moment, in dem er nicht mehr in der Lage ist, seine Bürger vor der Angst zu schützen, bis auf die Grundfesten seiner Existenz wieder infrage gestellt.

Putin erklärt Baranow, dass Stalin nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Massaker geliebt worden sei. Als Stalin beispielsweise nach einer Serie von Unfällen im Bahnverkehr dafür sorgte, dass der Eisenbahndirektor Nikolai Karlowitsch von Meck zum Tod durch Erschießen verurteilt wurde, löste das zwar nicht das Problem, zeigte aber der Bevölkerung, dass da einer für Ordnung sorgte. Bei politischem Versagen nutze es nichts, der Bevölkerung die Probleme zu erklären, meint Putin, sondern es müsse ein Sündenbock geopfert werden.

Dieser Gedanke leitet Putin auch, als er Michail Borissowitsch Chodorkowski (*1963) zu langjähriger Lagerhaft verurteilen lässt. Chodorkowski nutzte die Phase des Raubtierkapitalismus nach dem Zerfall der Sowjetunion, um als CEO einer der ersten russischen Privatbanken zum Oligarchen aufzusteigen und seinen Einfluss und Reichtum dann als Vorstandsvorsitzender des Konzerns Jukos weiter auszubauen. Mit der Zerschlagung von Jukos erreicht Putin mehrere Ziele auf einmal: Er warnt die Oligarchen, demonstriert, dass er die Macht hat, jeden von ihnen zu vernichten und untermauert in der Öffentlichkeit das Bild, dass er für Ordnung sorgt.

Krieg gegen den Westen

Putin hat nicht die Schmach vergessen, dass US-Präsident Bill Clinton 1995 einen Lachanfall bekam, als Boris Jelzin in einer Pressekonferenz betrunken neben ihm stand. (Später, 2014, wird US-Präsident Barack Obama den Fehler machen, Russland als Regionalmacht abzutun.) Der russische Präsident weist seinen Berater Baranow darauf hin, dass die UdSSR bzw. Russland entscheidend dazu beigetragen habe, den Kalten Krieg zu beenden.

„Wir waren es, die die Berliner Mauer zum Einsturz brachten […]. Wir waren es, die den Warschauer Pakt auflösten, wir waren es, die ihnen die Hand reichten als Zeichen des Friedens, nicht der Kapitulation.“

Im Winter 2013/14 weiten sich Studentenproteste auf dem Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) in Kiew aus (Euromaidan), bis die Polizei die Demonstrationen gewaltsam beendet, wobei mehr als hundert Menschen umkommen. Putin will verhindern, dass die nach seiner Überzeugung von den USA, der EU und Milliardären wie George Soros angeheizte Oppositionsbewegung auf Moskau übergreift. Früher hätte die CIA Militärputsche angezettelt, erklärt er seinem Berater; inzwischen versuchten die Amerikaner, vor allem die Jugend der Welt übers Internet, durch Konzerte und NGOs zu beeinflussen.

Baranow zieht daraus die Konsequenz, und um eine Revolution wie in der Ukraine in Russland unmöglich zu machen und zugleich die Gesellschaften im Westen zu destabilisieren, facht er das Meinungschaos nicht zuletzt durch Trollfarmen an.

„Vielleicht gibt es jemanden, der gegen Impfungen ist, ein anderer ist gegen Jäger oder Umweltschützer oder Schwarze oder Weiße. Spielt keine Rolle. Hauptsache, jeder hat etwas, das ihm am Herzen liegt, und jemanden, der ihn zur Weißglut bringt.
Wir müssen niemanden bekehren, Jewjeni, nur herausfinden, woran sie glauben, und sie dann darin bestärken, verstehst du? […] Sie in Rage bringen. Alle. Ständig ein wenig mehr. Die Tierschützer auf der einen Seite und die Jäger auf der anderen. Die Black-Power-Leute auf der einen Seite und die White Supremacists auf der anderen. Die Schwulenaktivisten und die Neonazis. Wir haben keine Präferenzen, Jewgeni.“

Die Datenexplosion hat aus der Menschheit ein einziges Nervensystem gemacht, einen Mechanismus aus vorhersehbaren Standardkonfigurationen, gleich einem Vogel- oder Fischschwarm.

Alexander Sergejewitsch Saldostanow (*1963), der Gründer und Präsident des russischen Motorrad- und Rockerclubs „Nachtwölfe“, gehört zu Männern, an die sich Baranow wendet. Er soll die russische Jugend gegen die Dekadenz des Westens mobilisieren. Als Saldostanow nach der Annexion der Krim und der Besetzung des Donbass auf einen militärischen Sieg hofft, erklärt ihm Baranow:

Im Gegenteil, unser Erfolg darf nie vollständig, die Eroberung nie endgültig sein. Was soll Russland mit zwei weiteren Regionen anfangen? […] Hier ist unser Ziel nicht die Eroberung, sondern das Chaos. Jeder soll sehen, dass die Orange Revolution die Ukraine in die Anarchie gestürzt hat.

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Giuliano da Empoli (*1973) ist Professor für vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris und beriet den italienischen Ministerpräsidenten Matteo Renzi.

In seinem literarisch nicht besonders anspruchsvollen Roman „Der Magier im Kreml“ versetzt er sich in die Gedankenwelt eines Putin-Beraters. Wadim Alexejewitsch Baranow ist zwar eine fiktive Figur, aber Giuliano da Empoli hat dafür Wladislaw Jurjewitsch Surkow als Vorbild gewählt.

Surkow (*1964) war 1998/99 in leitender Position beim Fernsehsender ORT beschäftigt. Dann wechselte er in die Politik, amtierte von Ende 2011 bis 2013 als Vize-Ministerpräsident der russischen Föderation und beriet bis zu seiner Entlassung im Februar 2020 Wladimir Putin. Der Oligarch gilt als Chefideologe, „Magier im Kreml“ und Vordenker des Putinismus. 2014 setzten die USA und die EU Wladislaw Surkow wegen der russischen Annexion der Krim auf ihre Sanktionslisten.

Der ehemalige Fernsehproduzent Baranow versteht Politik als Theaterinszenierung, und macht damit Putin auf sich aufmerksam, der ähnlich denkt, wenn er Sündenböcke verurteilen lässt oder auch beispielsweise 2007 die Bundeskanzlerin Angela Merkel von einer Labrador-Hündin umschleichen lässt, weil er weiß, dass sie sich vor Hunden fürchtet.

„Der Magier im Kreml“ wird als „Innenansicht eines immer tödlicheren Machtzentrums“ verkauft. Das klingt reißerisch, stimmt jedoch insofern, als wir Putin aus dem Blickwinkel eines (fiktiven) persönlichen Beraters zu sehen bekommen. Giuliano da Empoli vermittelt einige interessante Gedanken über russische Besonderheiten und den Putinismus. Ein Beispiel:

In Russland zählt nur das Privileg, die Nähe zur Macht. Alles andere ist nebensächlich. So war es zu Zeiten des Zaren, und in den Jahren des Kommunismus erst recht. Das sowjetische System fußte auf dem Status. Geld spielte keine Rolle. […] Hast du deine Datscha nicht von der Partei geschenkt bekommen, sondern sie dir gekauft – was man selbst damals konnte –, hieß das, dass du dir nicht sicher warst, wichtig genug zu sein, sie geschenkt zu bekommen. Was zählte, war der Status […].

Aus einzelnen Aspekten wird in dem Roman „Der Magier im Kreml“ allerdings keine umfassende oder tiefschürfende Analyse. Und als Giuliano da Empoli das Manuskript schrieb, konnte er die am 24. Februar 2022 beginnende „militärische Sonderaktion“ Putins nicht voraussehen, einen im Grunde bereits seit der Besetzung der Krim im Februar 2014 dauernden imperialistischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Verlag C. H. Beck

Aischylos - Die Perser
In der 472 v. Chr. erstmals aufgeführten Tragödie "Die Perser" versetzt sich der Grieche Aischylos in die Lage der geschlagenen Perser. Er prahlt nicht mit dem Sieg über die Angreifer, sondern interpretiert Xerxes' Scheitern als Folge von Frevel und Selbstüberschätzung.
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