Bela B Felsenheimer : Scharnow

Scharnow
Scharnow Wilhelm Heyne Verlag, München 2019 ISBN 978-3-453-27136-4, 414 Seiten ISBN 978-3-641-22865-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Während zwei politisch motivierte Killer im Gebüsch auf der Lauer liegen, folgt ein mit dem Smartphone filmendes Manga-Mädchen neugierig vier Männern, die sich Papiertüten als Masken aufsetzen und splitternackt ausziehen, bevor sie den einzigen Supermarkt in Scharnow überfallen. Die Ladenbesitzerin will die Polizei rufen, landet jedoch in der Warteschleife ...
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Kritik

In eine Schublade lässt sich "Scharnow", der Debütroman des Musikers Bela B Felsenheimer, nicht pressen, aber man könnte von einer Persiflage auf das Genre des Schund- bzw. Groschenromans mit Versatzstücken eines Comics sprechen. Der Autor erzählt mit überbordender Fabulierlaune, sprudelndem Einfallsreichtum und viel Sprachwitz eine durchgeknallte Geschichte.
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Schauplätze

Die meisten Ereignisse finden in Scharnow statt, einer kleinen Gemeinde unweit der Kreisstadt Sahsenheim, nördlich von Berlin in Brandenburg.

Schauplätze in Scharnow sind: ein „Silo“ genanntes Wohnhochhaus in einer Plattenbausiedlung und eine „Siedlung im Norden“, ein „Billkauf“ und „Hakans Kiosk & Internetcafé“, die Polizeistation und (in einer Rückblende) ein Schullandheim. In Sahsenheim gibt es drei Locations: die Boutique „Gentlemen’s Corner“, das angesagte Café „Cheng Luigi’s“ und Peter Märses Loft.

Die wichtigsten Figuren in „Scharnow“

Ron Thorsten Wassmann: Nachdem ein seltsames Buch mit dem Titel „Horror Vacui“ in die Hände des Literaturbloggers gelangt ist, zerfetzt er es, vertilgt die Seiten und bringt sich in seiner Wohnung auf grausame Weise um. Polizeihauptwachtmeister Dietmar Senger ermittelt und befragt die Nachbarn im 3. Stockwerk des „Silo“ genannten Wohnhochhauses in Scharnow: Agnes Petri und Susanne Scharster.

Dietmar Senger: Polizeihauptwachtmeister in Scharnow, seit 34 Jahren im Dienst.

Susanne Scharster: Die alleinerziehende Mutter zog erst kürzlich mit ihrer 14-jährigen Tochter Dalida ins „Silo“. Den Lebensunterhalt verdient sie als „Chantal“, indem sie vor der Online-Kamera Kundenwünsche erfüllt. Mehr Geld erhält sie hin und wieder als Pornodarstellerin „Eve Everdear“, aber das ist auch sehr viel anstrengender. Kurz bevor sich ihr Nachbar Ron Thorsten Wassmann das Leben nimmt, hört sie aus seiner Wohnung ihr eigenes Stöhnen.

Thies und Deborah Brahms: Familie Brahms wohnt weiter oben im „Silo“. Das Elternpaar schleppt die halbwüchsige, mit Dalida Scharster befreundete Tochter Suske zu rechtsradikalen Veranstaltungen und tut so, als teile es dieses Gedankengut. Damit befolgen Thies und Deborah Brahms den Rat einer Psychologin, die natürliche Rebellion von Kindern gegen die Eltern in diesem Alter zu nutzen, damit Suske sich zu einer liberalen Frau entwickelt.

Walther Pfannschmidt: Der 84-Jährige wohnt in der „Siedlung im Norden“ von Scharnow. Kurz vor seinem eigenen Tod bildet er einen Seelenparkplatz für soeben verstorbene Menschen und Tiere, über deren weiteren Verbleib noch nicht entschieden ist.

Hamid Yussuf Kaoum: Der Flüchtling aus Syrien lebt bei seinem Onkel Abdan in Scharnow. Er absolviert ein Betriebspraktikum bei Billkauf, dem einzigen Supermarkt des Ortes, hilft aber auch seinem Onkel, der „Hakans Kiosk & Internetcafé“ betreibt.

Trotsky: Unter dem Tarn- bzw. Kampfnamen „HeidEgg“ gehört Trotsky neben 22 anderen Männern und vier Frauen dem „Bund skeptischer Bürger“ (BsB) an. Er sucht „Hakans Kiosk & Internetcafé“ in Scharnow auf, um den beiden Mitverschwörern Jan-Uwe Paslička und Hans Zarm („Zarmo“) konspirativ den Auftrag für einen ersten Anschlag gegen die „Weltverschwörer“ zu erteilen. Hamid verfolgt zwar den kryptischen Chat am Zentralrechner seines Onkels Abdul und schöpft Verdacht, aber Trotsky gelingt es, die Aufzeichnung vor dem Verlassen des Internetcafés zu löschen.

Von Scharnow fährt Trotsky in die nahe Kreisstadt Sahsenheim, um den Arzt, der ihn kürzlich untersuchte, nach den Ergebnissen zu fragen. Dabei benutzt er die Privatversicherungskarte seines früheren Schulfreundes Peter Märse, der ihn vorübergehend in seinem Loft in Sahsenheim aufgenommen hat. Dr. Brunner hat keine guten Nachrichten für ihn: Trotsky alias Peter Märse leidet unheilbar an Leukämie.
Da vergeht ihm die Lust, die hübsche Sprechstundenhilfe Sabrina nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Stattdessen geht er zu einer Bushaltestelle gegenüber dem Ärztehaus, zieht sich aus, legt Peter Märses Brieftasche auf den Kleiderhaufen – und beginnt zu fliegen.

In seiner Verzweiflung zertrümmert er Schornsteine am Industriehafen. Alle verfügbaren Polizeikräfte aus dem Umkreis werden zusammengezogen. Çem Schmöller leitet das Sondereinsatzkommando, aber nicht einmal mit Hubschraubern gelingt es, den fliegenden Mann zu fassen.

Peter Märse: Unter dem Namen „Dave Diamond“ tritt Peter Märse als Erotiktänzer auf. Vor einiger Zeit spielte er in einem Pornofilm mit und lernte dabei „Eve Everdear“ (Susanne Scharster) kennen. Er bewohnt ein Loft in Sahsenheim. Seine Papiere hat er gerade einem früheren Schulfreund geliehen, damit dieser sich im Ärztehaus als Privatpatient ausgeben kann.

Benita Karpski: „Nami“ wuchs in Scharnow auf. Als sie 15 Jahre alt war, bekam ihre alleinerziehende Mutter eine Anstellung in Berlin und zog deshalb dorthin. Nami verbrachte auch weiterhin viel Zeit bei ihrer Großmutter in Scharnow. Inzwischen ist sie 17 und kleidet sich nicht mehr im Gothic-Style, sondern wie ein Manga-Mädchen. Sie ist gerade wieder nach Scharnow gekommen und hat in „Hakans Kiosk & Internetcafé“ eine Creme-Rolle als Mitbringsel für ihre Großmutter gestohlen. Aber Elsa Karpski, die in der Siedlung im Norden wohnt, ist nicht zu Hause. Deshalb setzt Nami sich auf die Wiese vor dem Billkauf in Scharnow und trinkt von dem süßen Rotwein, der eigentlich auch als Geschenk für die Großmutter gedacht war.

Jan-Uwe Paslička: Der dem „Bund skeptischer Bürger“ angehörende Waffennarr besitzt unter anderem ein Präzisionsgewehr, das er liebevoll „Carla“ nennt. Um damit am „Tag X“ den ersten, von „HeidEgg“ in Auftrag gegebenen Anschlag des BsB auszuführen, legt er sich im Gebüsch neben der Wiese vor dem Billkauf in Scharnow auf die Lauer. Er und sein in der Nähe postierter Komplize Zarmo kommunizieren mit Walkie Talkies. Im Fluchtauto, einem Fiat Panda, wartet Olaf Trönse.

Jan-Uwe Paslička beobachtet vier Männer, die sich Papiertüten mit Augenschlitzen aufsetzen und splitternackt ausziehen, bevor sie den Supermarkt betreten.

Pakt der Glücklichen: Bei den vier Männern handelt es sich um den „Pakt der Glücklichen“. Karl Friedrich Spranger („Kalle“), Aristide Olt („Sieben“), Niels Emmerich und Lars Pitkowski („Pit“) haben diesen Pakt geschlossen und leben in einer Wohngemeinschaft in der Siedlung im Norden von Scharnow. (Pit ist der Einzige, der hin und wieder statt in der WG bei seiner Mutter auf dem Bauernhof schläft.) Sie saufen zusammen ein Gemisch aus Korn und Fanta („Mische“), schauen sich Videos mit Splatter- oder Pornofilmen an und masturbieren dabei. Als sie den Gestank aus der Küche nicht mehr ertragen, mauern sie den Eingang zu. Dummerweise vergessen sie den Kühlschrank. Der läuft zwar noch, aber sie können ihr Bier nicht mehr kühlen.

Als sie wieder einmal kein Geld haben, kommen sie auf die Idee, den Billkauf zu überfallen. Weil die Kassiererin Sylvia Pathé die vier Männer bei allen ihren Einkäufen gesehen (und dennoch jedes Mal nach der Payback-Karte gefragt) hat, machen sie sich vor dem Supermarkt unkenntlich, indem sie sich entkleiden und Papiermasken aufsetzen.

Die Kassiererin erkennt sie dennoch. Außer ihr sind noch ein paar Kunden und der Betriebspraktikant Hamid Yussuf Kaoum im Laden. Nami, die den nackten Männern neugierig gefolgt ist, filmt den Überfall mit dem Smartphone und lädt das Video in ihren Youtube-Kanal. Durch einen Einwegspiegel beobachtet auch die Chefin Marlies Maria Henkel das Geschehen. Sie versucht, die Polizei zu alarmieren, bleibt jedoch in der Warteschleife hängen, weil der einzige Beamte der Dienststelle, Polizeihauptwachtmeister Dietmar Senger, erst einmal verschnaufen möchte. Als Marlies Henkel deshalb Feueralarm auslöst, um die Räuber zu vertreiben, sind diese ohnehin schon mit ihrer Beute – Schnaps, Fanta, Bier, Chips und Erdnüsse – auf dem Weg nach draußen.

Weil Namis Akku leer ist, folgt sie Hamid ins Lager und leiht sich sein Smartphone, damit sie nach den Klick-Zahlen für ihr Video bei Youtube sehen kann. Sie sind enorm. Als Sylvia Pathé ins Lager kommt, sieht sie, wie Hamid und Nami sich küssen.

Sylvia Pathé: Die Lehrer-Tochter Sylvia Petersen kam nach der Heirat mit dem „Gülliardär“ Felix Pathé nach Scharnow.

Felix Pathé musste sein BWL-Studium abbrechen, um die mittelgroße Rinder- und Schweinezucht seines Vaters am Rand von Scharnow zu übernehmen. Geschäftstüchtig machte er daraus einen Großvertrieb für Naturdünger und brachte es zu einem Milliarden-Vermögen („Gülliardär“). Im neunten Ehejahr begannen Selbstzweifel an ihm zu nagen, und als Sylvia vor drei Jahren einen portugiesischen Wasserhund anschaffte, ohne ihn vorher zu fragen, räumte er die Konten leer und verschwand ohne Abschied nach Kanada, denn er hasste Tiere. In Kanada kaufte er einen Zirkus, hatte damit jedoch wenig Erfolg.

Nach dem Überfall geht Sylvia Pathé mit der Hündin Cloudy auf die Wiese bei Billkauf hinaus. Vor ihren Augen wird Cloudy erschossen.

Jan-Uwe Paslička hat seinen Auftrag erfüllt, die Schwester von Bo, dem Hund der Familie Obama, zu töten, um die ungreifbare „Weltenlenker-Verschwörung“ aufzuschrecken. Er und Zarmo entkommen unerkannt. Weil aber Jan-Uwe Paslička Tiere liebt und darunter leidet, eines getötet zu haben, steigt er beim „Bund skeptischer Bürger“ aus und schenkt einige seiner besten Waffen – darunter „Carla“ – seinem Komplizen. (Das wird sich später als verhängnisvoll erweisen.)

Sylvia lernt in „Gentlemen’s Corner“, einer Boutique in Sahsenheim, wo sie im Zweitjob arbeitet, einen seltsamen Kunden kennen, der sich Dave nennt und einen Smoking kauft. Den trägt er, als sie zusammen ausgehen wollen. Weil er jedoch im „Cheng Luigi’s“ die Pornodarstellerin Eve Everdear entdeckt, behauptet er, das angesagte Lokal sei voll und überredet Sylvia, mit ihm in sein Loft zu kommen. Als der Pizzabote klingelt, öffnen sie nicht, denn sie sind bereits nackt.

Nachts hört Sylvia Geräusche. Sie schaut durch den Türspion. Im Treppenhaus ist es dunkel, aber da bewegt sich etwas. Plötzlich wird die Tür aufgesprengt. Der Druck schleudert Sylvia zu Boden. Eine Blendgranate explodiert.

Die Polizei glaubt inzwischen, den Namen des vergeblich gejagten fliegenden Mannes zu kennen, denn auf einem bei einer Bushaltestelle abgelegten Kleiderhaufen fand man Ausweispapiere. Çem Schmöller, der Leiter des SEK, erschießt den aus dem Schlaf hochgeschreckten Peter Märse kurzerhand vor Sylvias Augen.

Auf einer Pressekonferenz gibt die Polizei dann bekannt, der fliegende Mann habe sich der Festnahme entziehen wollen und sei deshalb getötet worden.

Zwei Wochen nach dem Verlust ihres neuen Liebhabers erhält Sylvia Pathé Besuch von Jan-Uwe Paslička. Das frühere Mitglied des BsB ist gekommen, um der Besitzerin des von ihm getöteten Hundes zu beichten, was er getan hat. Bevor er dazu kommt, macht sie sich in der Küche zu schaffen, um ihn mit Tee zu bewirten. Da knallt es zweimal. Die Fensterscheibe und eine Vase zerbersten, und der Kater Dave, der früher Gregor Gysi gehörte und den Sylvia vor ein paar Tagen aus dem Tierheim holte, springt aus dem neunten Stock. Unten schreit ein Kind: „IIIIIIIIIIIIIIIHHH. Mami, da liegt eine total zermatschte Katze!“. Jan-Uwe erkennt an einem der Projektile, dass Zarmo vom 25 Meter entfernten Hausdach des „Silo“ gegenüber geschossen hat – und zwar mit „Karla“. Nicht einmal mit dem teuren Präzisionsgewehr traf er den Kater.

Elsa Karpski: Namis Großmutter wohnt in der Siedlung im Norden in Scharnow, und zwar im Parterre gegenüber dem „Pakt der Glücklichen“. Kurz nachdem sie am Tag X gehört hat, dass Billkauf von vier splitternackten Männern überfallen wurde, sieht sie ihre Nachbarn, die mit dem Auto ankommen, unbekleidet sind und mit Flaschen und Beuteln gefüllte Schachteln ins Haus tragen.

Daraufhin ruft sie die Polizeidienststelle an und berichtet Polizeihauptwachtmeister Dietmar Senger, was sie gesehen hat. Weil er wegen des Großeinsatzes gegen den fliegenden Mann keine Verstärkung anfordern kann, reaktiviert er kurzerhand die in der Wohnung ihrer verstorbenen Mutter im „Silo“ hausenden arbeitslosen Brüder Axel und Jason Weinbarth, die zur inzwischen aufgelösten Freiwilligen Polizeireserve gehörten.

Während Dietmar Senger die beiden abholt, nimmt Elsa Karpski die VHS-Videokamera ihres verstorbenen Ehemanns Ortwin aus dem Schrank und schraubt sie auf ein Stativ, denn sie will den Polizeieinsatz filmen.

Sobald sie etwas im Treppenhaus hört, öffnet sie die Wohnungstür einen Spalt und drückt den Einschaltknopf.

Sobald Dietmar Senger und seine Begleiteer die Etage erreichen, geraten die cholerischen Brüder in Streit, bedrohen sich mit den Waffen, die ihnen der Polizeihauptwachtmeister mitgebracht hat – und erschießen sich gegenseitig. Elsa Karpski bricht ohnmächtig zusammen, und das Stativ kippt um.

Aber auch für den Polizisten ist der Stress zu viel: Er verliert ebenfalls das Bewusstsein.

Der Lärm im Treppenhaus schreckt die WG auf. Die Männer tragen den Uniformierten in ihre Wohnung, setzen ihn aufs Sofa und wecken seine Lebensgeister mit Mische. Dann rufen sie wegen der im Treppenhaus liegenden Nachbarin einen Krankenwagen, und bevor die Sanitäter kommen, zerren sie die beiden Leichen weg (die sie später zerstückeln und in schwarzen Müllsäcken entsorgen).

Auch nachdem Elsa Karpski im Krankenhaus aus dem Koma erwacht ist, bleibt sie stumm. Erst als sie nach ihrer Entlassung zu Hause im Rollstuhl sitzt, vergeblich nach ihrer Enkelin klingelt, aus ihrem Schlafzimmer Geräusche hört und Nami mit einem dunkelhäutigen Jungen in flagranti erwischt, spricht sie, genauer gesagt: schreit sie wieder, wenn auch nur einen einzigen Satz:

„VERFICKTE HURENKACKE NOCHMAL, MÜSSTE IHR EURE BEPISSTEN FICKSPIELE UNBEDINGT IN MEINEM SCHEISSBETT VERANSTALTEN?“

Noch einmal spricht sie zwei Wochen später, als Hans Zarm gerade Sylvia Pathés Kater erschossen hat:

„Miez, Miez, Miez, du kleine Seele.“

Axel und Jason Weinbarth finden sich in Malaysia wieder, und zwar beide zusammen im Körper einer Feuerschnecke (Platymma tweediei). „Scheiße!“, stöhnen sie beide zur selben Zeit.

Patty: Susanne Scharster hat sich in Cheng Luigi’s mit ihrer Freundin Patty verabredet. (Peter Märse sieht sie dort sitzen.) Bis Patty verspätet auftaucht, hat Susanne schon vier Gläser Cocktail geleert. Am Ende nimmt Patty der Betrunkenen die Autoschlüssel ab und fährt sie nach Hause. Nachdem sie die Freundin abgesetzt hat, will sie zu ihrer Mutter. Sie muss ein Auge zukneifen, um das Schlüsselloch zu treffen.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis die Tür aufging. Sie wankte in den Flur und blieb verwundert stehen. Irgendetwas war anders. Im Dunkel kam ihr eine große Gestalt entgegen. Ihre Mutter konnte das nicht sein, die schaffte es kaum aus dem Bett. Wieso stand sie überhaupt in einem Flur? So etwas gab es im Bauernhaus ihrer Mutter doch gar nicht. Panisch suchte sie nach dem Lichtschalter, der nicht dort war, wo er sein sollte.
Was war hier los?
Endlich fand sie den Schalter.
Und drückte ihn.

Sieben richtete seine ganze Konzentration auf die Geräusche, die der Schlüssel im Schloss machte.
Wer konnte das sein? Es war bestimmt schon halb zwei.
Pit, wer sonst!
Aber Pit war bei seiner Mutter. […] Vielleicht war Pit überfallen worden, und nun hatte jemand anders den Schlüssel und wollte sie bestehlen. […]
Ein lautes Knacken riss ihn aus seinen Gedanken.
Die Tür öffnete sich mit einem Ruck. Sie war seit einer Weile ziemlich verzogen. Sieben hatte die Scharniere längst nachziehen wollen. Knarrend schwang sie auf.
Eine große Gestalt stand schwer atmend im Türrahmen. Im Treppenhaus hinter ihr brannte Licht, deswegen sah Sieben nur eine schwarze Silhouette. Doch er konnte zumindest erkennen, dass es sich um eine ziemlich große Frau handelte, die da schwankend auf ihren hohen Absätzen die Wohnung betrat. Ihre weißblonden Locken schimmerten. Sie hatte eine riesige Handtasche dabei.
[…] Die Hand des Wesens tastete nach dem Lichtschalter. Als die nackte Glühbirne an der Decke plötzlich anging, kniffen Sieben und die Frau beide erst die Augen zusammen, bevor sie sich ansahen. „Scheiße nochmal!“, entfuhr es Sieben.
„Scheiße nochmal!“, sagte Pit.

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„Scharnow“ lautet der Titel des Romandebüts von Bela B Felsenheimer. Als „Bela B“ hat sich Dirk Albert Felsenheimer – so heißt der 1962 geborene Berliner bürgerlich – einen Namen gemacht. Er spielt Schlagzeug und Gitarre, singt und komponiert, vor allem in der Punkrock-Band „Die Ärzte“. Auch als Schauspieler, Synchron- und Hörbuch-Sprecher betätigt sich Bela B Felsenheimer.

Den Roman „Scharnow“ hat er seiner Jugend in Spandau gewidmet.

In ein Genre lässt sich „Scharnow“ nicht pressen. Bela B Felsenheimer persifliert einen Schund- bzw. Groschenroman mit Versatzstücken eines Comics.

Die rudimentäre Handlung spielt vor fiktiven Kulissen: Scharnow und Sahsenheim. Sie dreht sich um Provinztristesse, um allein erziehende Mütter, Abgehängte und Außenseiter, Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker, einen syrischen Flüchtling und ein Manga-Mädchen.

Beinahe von Seite zu Seite wechselt Bela B Felsenheimer in „Scharnow“ die Erzählperspektive. Dadurch ergeben sich nicht nur Spiegelungen und Variationen, sondern auch Ergänzungen, Widersprüche und Korrekturen. Außerdem erkennen wir Missverständnisse, etwa wenn sich ein Killer in seiner Meinung über die moralische Verkommenheit der Gesellschaft bestätigt fühlt, als er beobachtet, wie sich vier Männer splitternackt ausziehen und ihnen ein Mädchen folgt.

Vielleicht hätte Bela B Felsenheimer auf ein paar Passagen verzichten können, aber er erzählt mit überbordender Fabulierlaune, sprudelndem Einfallsreichtum und viel Sprachwitz eine durchgeknallte Geschichte. „Scharnow“ ist origineller, intelligenter und unterhaltsamer Klamauk.

Den Roman „Scharnow“ von Bela B Felsenheimer gibt es auch als Hörbuch, gelesen vom Autor (ISBN 978-3-8371-4626-4).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Bela B Felsenheimer / Wilhelm Heyne Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.