Karl Wolfgang Flender : Helden der Nacht
Inhaltsangabe
Kritik
Bryan Auster
Bryan Auster ist Mitte 20 und wohnt noch in der Wohnung in Berlin-Neukölln, in der er gezeugt worden war und aufwuchs. Seine Freundin Laura Mullway trennte sich kürzlich von ihm. Sie ist jetzt bei dem von Lance Kilbourne geführten Unternehmen Valhalla Capital für die Firmenkultur zuständig und organisiert für die zahlreichen neuen Apps Launch-Events.
Bryans Mutter verließ die Familie vor einigen Monaten. Hin und wieder ruft sie ihren Sohn von wechselnden Orten in den USA an. Als sein Vater Oliver über Rückenschmerzen klagt und (angeblich) eine Kur antritt, bleibt Bryan nichts anderes übrig, als die schlechtgehende Privatdetektei seines Vaters vertretungsweise zu übernehmen. Seine Masterarbeit bei Prof. Neal Carey stagniert ohnehin.
Während einer Observation sieht Bryan an einem Fenster kurz eine attraktive Frau, deren Wimperntusche verlaufen ist.
Das war die Frau im purpurnen Dress, das war seine Carmen Sternwood, seine Femme fatale. Als hätte dieses Bild irgendwas in seinem Mediengedächtnis getriggert − verzweifelte Frau am Fenster, das ging quasi zurück bis zu Rapunzel −, wusste er instinktiv, was zu tun war. Er zerrte den Totschläger aus dem Handschuhfach, nahm einen letzten, tiefen Zug und behielt ihn lange in der Lunge. Dann stieg er aus, zu allem bereit wie Marlowe, wie Spade, seine Helden der Nacht.
Auf dem Klingelschild der entsprechenden Wohnung steht der Name Kipping. Bryan tritt die Tür ein. Sein Blick fällt auf die am Boden liegende, aus einem Fingerstumpf blutende Frau und ein vermummtes Paar. Der Mann, der dem Opfer eine Pistole an den Kopf hält, erschrickt so, dass er abdrückt.
Bryan schlägt die Tür gleich wieder zu und versteckt sich auf dem Dachboden vor dem Mörderpaar.
Colleen McCollum
Ohne zu ahnen, dass es einen Augenzeugen gibt, übernimmt die 34-jährige, seit siebeneinhalb Jahren im Polizeidienst stehende, mit dem Rechtsanwalt Martin Collum-Beck verheiratete Kommissarin Colleen McCollum die Ermittlungen im Fall der ermordeten jungen Frau.
Das Opfer wurde durch einen Kopfschuss getötet. Vorher hatte man sie augenscheinlich gezwungen, sich selbst den Ringfinger der rechten Hand abzuschneiden und ihn an die Wand zu nageln. Ausweise werden keine bei ihr gefunden. Als Mieterin der Wohnung ist Elisabeth Jones registriert, aber die starb vor drei Monaten im Alter von 72 Jahren. Als Hauptverdächtiger gilt ihr Neffe Harry Jones, ein polizeibekannter Kleinkrimineller.
Harry Jones
Bei der Festnahme erleidet er einen Schuss ins Knie.
Vor drei Monaten löste Harry Jones die Stripperin Audrey Estrelle aus. Die vom Betreiber des Nachtlokals geforderte Summe bezahlte er mit den Ersparnissen seiner toten Tante. Die Investition lohnte sich, denn mit Audrey zusammen konnte er ein Vielfaches davon erpressen. Die Masche ging so: Audrey verabredete sich in dem von Valhalla Capital vermarkteten Portal SideStep mit einer ganzen Reihe von untreuen Ehemännern in Elisabeth Jones‘ verwaister Wohnung. Der Name Kipping auf dem Klingelschild diente zur Tarnung. Harry Jones wartete im Auto und beobachtete auf seinem Smartphone die Aufzeichnung einer im Schlafzimmer seiner Tante versteckten Kamera, bis der mit Audrey verabredete Mann in flagranti zu sehen war. Dann stürmte Harry in die Wohnung, und das Pärchen erpresste den Ehebrecher.
Beim letzten Mal hörte Harry lieber die Übertragung eines Fußballspiels im Autoradio als auf das Smartphone zu schauen. Als sein Blick endlich auf den Bildschirm fiel, sah er, wie Audrey von zwei Maskierten mit einer Waffe gezwungen wurde, ihren abgetrennten Finger anzunageln. Er stürmte ins Haus. Das Verbrecherpaar kam ihm auf der Treppe entgegen. Die Frau erwischte er mit dem Baseballschläger, aber der Mann verpasste ihm einen Bauchschuss.
Trotz der schweren Verletzung begann Harry Jones einen Rachefeldzug unter den Erpressten, die er als Audreys Mörder verdächtigte.
Geschäftsidee
Als Jugendlicher träumte Bryan Auster davon, dass sein Vater einen ebenso abenteuerlichen Beruf habe wie die Helden der Nacht in den Klassikern der Kriminalliteratur. Nun merkt er, wie öde die Tätigkeit eines Schnüfflers in Wirklichkeit ist und wie miserabel das Geschäft geht.
Aber sein Kommilitone Kenneth („Kenny“) Gambol, eigentlich nur sein Lieferant für Haschisch, hat eine Idee: Er besorgt sich im Darknet die Datenbank von SideStep. Nun können er und Bryan die betrogenen Ehefrauen bzw. -männer anrufen, ihnen die Tarnnamen der Ehebrecher bzw. Ehebrecherinnen bei SideStep nennen und ihnen die Dienste der Privatdetektei anbieten. Das Geschäft boomt so, dass Bryan längst in Ruhestand gegangene Kollegen seines Vaters engagieren muss, um die Aufträge abarbeiten zu können.
Kenny stellt schließlich die Datenbank ins Internet und informiert darüber die Medien. Aufgrund des Datendiebstahls stürzt der Kurs der Aktie von Valhalla Capital ab. Der Politiker Bernhard Selb, ein Law-and-Order-Typ, nimmt sich das Leben, als er seinen Namen auf der Liste findet.
Als Colleen McCollum aus den Medien von der gestohlenen Datenbank erfährt, sucht sie die Privatdetektei Auster auf. Die wurde verwüstet. Sie befreit einen jungen unter einem umgestürzten Schrank eingeklemmten Mann. Ihm wurde der Ringfinger abgeschnitten, aber es gelang ihm, den Blutverlust mit einem Kabelbinder einzudämmen. Es handelt sich um Kenny Gambol. Oliver Auster sei für längere Zeit verreist, sagt er, und wo dessen Vertretung Bryan Auster sei, wisse er nicht.
Verschwörung
Bei seinen Ermittlungen gegen Vince und Kathleen, die er bei der Ermordung der Stripperin beobachtete, gerät Bryan Auster an Dr. Michael Canino, den Leiter des Deutschen Kulturvereins Vincentina. Bevor er sich versieht, wird er mit anderen zusammen in einen Bus verfrachtet und zu einem geheimen nächtlichen Boot-Camp irgendwo in Brandenburg gefahren.
Dort enttarnt ihn Michael Canino. Vince und Kathleen übernehmen es, ihn auf einer Waldlichtung zu töten, aber es gelingt ihm, Vince zu überlisten, an seine von Kenny im Darknet besorgte Pistole zu kommen, auf die beiden zu schießen und zu entkommen.
In der verwüsteten Detektei trifft er auf Kenny und die Kommissarin Colleen McCollum. Er sei einer Verschwörung auf der Spur, einer geplanten Revolution, erklärt er. Alles laufe bei Lance Kilbourne zusammen. Die 1000 von Valhalla Capital entwickelten Apps dienen seiner Meinung nach nur dazu, Daten zu sammeln und die Nutzer zu manipulieren.
Bryans Verschwörungstheorie interessiert Colleen McCollum nicht weiter; sie ist frustriert über ihre Ermittlungsergebnisse.
Manchmal kommt ihr die Kriminologie vor wie eine Illustration des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik: Die Energie fließt von warmen Körpern zu kalten, von lebenden zu toten, das Universum dehnt sich immer weiter aus, und Dinge, die eben noch zusammenhingen, driften auseinander, Spuren, die gerade noch heiß waren, erkalten mit der Unerbittlichkeit der thermophysikalischen Gesetze, und mit jeder Minute zerstreuen sich Beweise, Indizien, Hypothesen in der Unendlichkeit, sodass sich irgendwann gar keine Kausalität mehr zwischen ihnen herstellen lässt. Und alles stirbt seinen unausweichlichen Kältetod.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Soma
Dass Harry Jones trotz seines Bauchschusses ohne medizinische Behandlung weiterlebte, verdankt er Blutkonserven, die Valhalla Capital unter der Bezeichnung „Soma“ sammelt. Es war ihm gelungen, in das Gebäude einzudringen und einige davon zu rauben.
Der Ganove erklärt sich bereit, Colleen McCollum, Bryan Auster und Kenny Gambol durch die Kanalisation ins Hauptquartier des Unternehmens zu führen. Aber er nutzt die Gelegenheit zur Flucht.
Auch ohne ihn gelingt es den dreien, ins Gebäude zu kommen – wo sie allerdings von Lance Kilbourne bereits erwartet werden. Er hat auch Vince und Kathleen in seiner Gewalt, die ihre Schussverletzungen auch nur durch Soma überlebt haben.
Während Oliver Austers alte Kollegen das Gebäude stürmen, entdeckt Kenny eine auf einer Krankenliege festgeschnallte bewusstlose Frau, der augenscheinlich alles Blut abgezapft werden soll. Es handelt sich um die bei Lance Kilbourne in Ungnade gefallene Laura Mullway. Beherzt zertrümmert Kenny die Pumpe.
„Draufhauen hilft immer.“ Kenny klopft sich die Hände ab. „In dieser Hinsicht hat sich die Technik in den letzten hundert Jahren nicht wesentlich verändert.“
Sofortige Blutinfusionen retten Laura das Leben, und als sie die Augen aufschlägt, erblickt sie Bryan.
Währenddessen inszeniert Lance Kilbourne vor den Kameras der vorab informierten Medienvertreter die Übergabe des Mörderpaars Vance und Kathleen an die Polizei und weist darauf hin, dass er sie mit Hilfe der von Valhalla Capital entwickelten Gesichtserkennungs-Software FaceOff identifiziert habe.
Happy End?
Bryan erkennt im Wirt eines veganen Restaurants Michael Canino. Waren die Vorbereitungen für eine Revolution doch nur ein Spiel, wie behauptet wird?
Das Gebäude, in dem sich sowohl die Detektei Auster als auch die Privatwohnung der Familie befinden, brennt nieder. Ausgelöst wurde das Feuer durch einen Kabelbrand in der Detektei.
Zum Glück hat Laura sich mit ihrem Lebensretter ausgesöhnt, und Bryan kann zu ihr ziehen.
Früh am Morgen ruft sein Vater an und überrascht ihn damit, dass er sich in Kalifornien befindet. Bryans Mutter kommt ins Bild. Oliver Auster war gar nicht auf Kur, sondern fahndete nach seiner Frau, bis er sie nach einem halben Jahr in Los Angeles aufspürte und zurückgewann.
Als er hört, dass Wohnung und Detektei zerstört sind, beruhigt er Bryan mit der Annahme, dass die Hausratversicherung für den Schaden aufkommen werde. Er habe ohnehin vorgehabt, die Detektei zu schließen, sagt er, und wolle mit Bryans Mutter zusammen in Los Angeles ein kleines Restaurant mit dem Namen „Miss Marple“ eröffnen. Spezialität sollen Pancakes mit Ahornsirup sein.
Bryan fliegt zu seinen Eltern in die USA. Kenny begleitet ihn, und Laura hat versprochen, nachzukommen.
Während des Flugs fällt Bryan auf, dass Kenny wieder alle Finger hat. Ist der abgetrennte Ringfinger nachgewachsen? Handelt es sich bei ihm um einen Reptiloiden? Lispelnd meint Kenny, sein Freund habe ihn durchschaut. Er heiße in Wahrheit Ned Lud, gehöre einem Geheimbund an und sei ausgesandt worden, um Lance Kilbourne davon abzuhalten, die Menschheit mit Maschinenintelligenz zu unterjochen. Entsetzt springt Bryan auf. Kenny ruft, er habe nur einen Scherz gemacht. Ein bulliger Stewart zwingt Bryan zurück auf seinen Platz, denn die Maschine durchfliegt heftige Turbulenzen. Auf Kennys Laptop sieht Bryan, dass das Flugzeug vor Grönland Kurs auf den Tanker MSC Willeford genommen hat, auf dem sich die Server von Valhalla Capital befinden. Es scheint so, als werde der Einschlag in wenigen Sekunden erfolgen …
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In seinem Roman „Helden der Nacht“ transferiert Karl Wolfgang Flender den hard boiled detective in die von IT und Datenmissbrauch geprägte Welt.
Das Polizeirevier ist eine einzige Enttäuschung für Bryan. Wo sind Donuts, Tacos, Hosenträger, wo ist der Kaffee aus Pappbechern, Würfe auf den Papierkorb und Stofftaschentücher voll Männerschweiß? Wo sind Schnauzbärte, Aktenberge, Sekretärinnen mit Dauerwelle, zwischen Schulter und Ohr geklemmte Telefonhörer? Nichts, nichts und wieder nichts. An ergonomisch geformten Schreibtischen sitzen Beamte in Zivil und starren auf Flachbildschirme […] Alles hier ist effizient durchgearbeitet wie im Großraumbüro einer Versicherung.
Aber weder der unbedarfte Privatdetektiv Bryan Auster noch die erfolglose Kommissarin Colleen McCollum können sich mit Figuren wie Philip Marlowe von Raymond Chandler oder Sam Spade von Dashiell Hammett vergleichen. Das strebt Karl Wolfgang Flender auch gar nicht an, denn „Helden der Nacht“ ist ein satirischer Abgesang auf das hochgeschätzte Genre. Dementsprechend wimmelt es in „Helden der Nacht“ von Versatzstücken aus der klassischen Kriminalliteratur und Anspielungen auf den film noir. Obwohl die Handlung in Berlin spielt, tragen die Romanfiguren amerikanische Namen, und eine Reihe von Kapitelüberschriften ist englisch.
Bemerkenswert ist die anfängliche Zeitverschiebung zwischen den beiden Handlungssträngen: Colleen McCollum ermittelt schon lange im Mordfall Audrey Estrelle, als Bryan Auster auf Seite 173 Augenzeuge des Verbrechens wird, übrigens in einer Passage, in der Karl Wolfgang Flender das Wort ausnahmsweise einem Ich-Erzähler überlässt.
„Helden der Nacht“ ist weder stringent noch temporeich und weniger spannend als amüsant.
Charakteristisch für den Sprachwitz des Autos sind Schnoddrigkeit und zwischen Klammern eingefügte Kommentare:
Es folgt eine herzzerreißende Geschichte von Versuchung, Leidenschaft und Melanie, die nur sein Geld wollte (dieses Luder, wie unverfroren!), aber sonst ein feines Gerät war, dem er nicht widerstehen konnte (wer kann’s ihm verdenken) − trotz der langjährigen Ehe und der Kinder (Tränen).
Das Lesevergnügen entsteht nicht zuletzt durch eine immer wieder aufblitzende Metaebene wie in folgenden Beispielen:
Kopfschüttelnd geht sie auf das Haus zu. Sie fühlt sich irgendwie übertölpelt, denn nach dem ehernen Gesetz des Genres wäre frühestens am nächsten Vormittag mit der nächsten Leiche zu rechnen gewesen − alle hundert Seiten ein Toter, das ist doch der Leservertrag? Oder ist gleich Werbepause, und es muss vorher noch für ein bisschen Spannung gesorgt werden? Diese Cliffhanger machen sie noch wahnsinnig. Wie soll man da als ordentliche Polizistin noch mitkommen?
[…] die Schläge nach jedem Satz, das ist doch wie in einem Filmskript! Und wenn das so sein sollte, ist er sogar im Vorteil, weil er garantiert besser weiß, wie eine Exekution zu laufen hat, zumindest wenn man sich am klassischen Kanon orientiert … Wenn er Glück hat, machen sie den üblichen Gangster-Fehler und erzählen ihm alles, bevor sie ihn umlegen. Und weil er dann als Einziger weiß, was sie im Schilde führen, folgt daraus die dramaturgische Notwendigkeit, dass er in letzter Sekunde entkommt, um diese Informationen gegen sie zu verwenden und die noch ausstehende Katastrophe zu verhindern. Er muss nur mitspielen.
Auf Seite 236 stellt Doris, die Stimme der von Valhalla Capital entwickelten Sprachassistentin Sara, der Kommissarin einen Schriftsteller namens Karl Wolfgang Flender vor, der angeblich für einen Roman recherchiert. (Am Ende stellt sich heraus, dass es sich um einen Stalker handelt, der etwas ganz anderes vorhat.)
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © DuMont Buchverlag