Brigitte Heidebrecht : Fernreise daheim

Fernreise daheim
Fernreise daheim. Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten Originalausgabe Verlag Große Sprünge, Ludwigsburg 2019 ISBN 978-3-9821383-0-5 Überarbeitete und erweiterte Neuauflage Verlag Große Sprünge, Ludwigsburg 2021 ISBN 978-3-9821383-2-9, 238 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Fernreise daheim. Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten" weist sowohl Züge eines Sachbuchs als auch eines Bandes mit Erzählungen auf, denn die Autorin Brigitte Heidebrecht widmet sich der Frage, wie es Asylbewerbern in Deutschland ergeht, aber statt sich abstrakt mit dem Thema auseinanderzusetzen, erzählt sie in mehr als 100 kurzen Kapiteln von ihren persönlichen Erlebnissen als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin.
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Kritik

Durch das Aufeinanderprallen von Kulturen werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Beim Lesen des Buches "Fernreise daheim" spürt man die Neugier und Aufgeschlossenheit der Autorin gerade auch dem Fremden gegenüber. Brigitte Heidebrecht beobachtet das Geschehen mit Empathie und Respekt, abgewogen und humorvoll, manchmal erstaunt oder verblüfft, dann auch wieder befremdet oder frustriert. Ihre Miniaturen sind konkret und anschaulich, prägnant und schnörkellos. Die Lektüre ist unterhaltsam und weitet den Blick.
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„Wir schaffen das!“

Brigitte Heidebrecht, eine kluge Frau Ende 60, die großen Wert auf ihre Eigenständigkeit legt und sich lange Zeit nur auf freiwillige Beziehungen einließ (bis im Juli 2017 die „Ehe für alle“ gesetzlich möglich wurde und sie ihre langjährige Lebensgefährtin heiratete), engagiert sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit, seit Angela Merkel am 31. August 2015 in der Bundespressekonferenz in Berlin „Wir schaffen das!“ sagte – und erlebt dadurch Tag für Tag den Zusammenprall von Kulturen.

Das beginnt schon damit, dass Familie für die Autorin zumindest in jungen Jahren nichts bedeutete, während sie für Afghanen das Wichtigste ist.

Sie kamen aus Ländern, in denen Familie alles ist. Und wo alles der Familie untergeordnet ist. Nun sind sie hier, ein jedes allein auf seine Art. Nicht gewohnt, allein zu sein. Nicht gewohnt, ein Individuum zu sein und sich ein eigenes Leben erfinden zu müssen.

Der junge afghanische Flüchtling Nasib steht vor dem Gartentor seiner Helferin in Ludwigsburg. Von Türklingeln hat er noch nichts gehört. Eine Weile steht er auf der Straße herum, dann geht er wieder – und Brigitte Heidebrecht wartet vergeblich auf ihn, glaubt an einen weiteren der zahlreichen Fälle, in denen Asylbewerber einen Termin nicht einhalten. Denn sie weiß inzwischen, dass ein Afghane, der auf dem Weg zu einer Verabredung zufällig einen Freund trifft, unbedingt eine Weile mit ihm plaudern muss, um nicht als unhöflich zu gelten.

Vorhersehbarkeit, Planung, Berechenbarkeit – das sind keine tragfähigen Kategorien im afghanischen Alltagsleben. Besuch kommt, wenn er kommt, und wird jederzeit eingelassen. Wer kommt, erwartet Empfang […].

Ich habe tausenderlei große und kleine, tragische und vernachlässigbare Missverständnisse erlebt.

Ein orientalisches Sprichwort lautet:

Die Europäer haben die Uhr, wir haben […] Zeit.

Ein syrischer Asylbewerber antwortet auf die Frage eines Journalisten, was in seinen Augen typisch für die Deutschen sei:

Entweder sie sind grad auf Weltreise oder sie haben keine Zeit.

Dass Deutsche spazieren gehen und Ausflüge unternehmen, halten die Flüchtlinge für eine Marotte. Über markierte Wanderwege staunen sie.

Brigitte Heidebrecht ärgert sich über die deutsche Sprache, eine „unlogische Sprachkrake“, die für Ausländer nicht leicht zu lernen ist. Wie soll jemand verstehen, warum die Steigerung von hoch nicht höcher, sondern höher lautet oder warum wir Deutsche zwar Maus und Mäuse, aber Haus und Häuser sagen?!

Was die Asylbewerber als erstes lernen, ist warten.

2 Jahre hat er gewartet, bis er seine Anhörung hatte, 3 weitere Jahre bis zu diesem Gerichtstermin. Nach der Gerichtsverhandlung [über seinen Einspruch gegen BAMF-Beschluss] wird er 2 Wochen warten müssen, bis der Bescheid des Richters im Briefkasten liegt. Dann noch einmal 4 Wochen, so lange das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge noch eine Möglichkeit zum Einspruch hat.

Geburtstage und Familiennamen

In Afghanistan merken sich nur wenige Mütter, wann sie ihre Kinder geboren haben.

Afghanen interessieren sich nicht für ihren Geburtstag. Ein Kind wird geboren – das ist wichtig. An welchem Tag, in welchem Monat, in welchem Jahr – das ist egal. Wird das Kind auf dem Lande geboren, ist es noch egaler. Irgendwann muss der Vater einmal in die Stadt, und wenn es da ein Amt gibt, dann meldet er bei der Gelegenheit das Kind an, sodass es später, wenn es größer ist, ein Ausweispapier bekommt.

Als Zafar 2015 einen Asylantrag stellt und nach seinem Geburtstag gefragt wird, ruft er seinen Vater in Afghanistan an. Der meint, Zafar sei 18 Jahre alt. Auf dem Papier wird daraus der 1. Juli 1997. Einige Zeit später schickt der Vater eine afghanische Tazkira, ein Personaldokument, in dem 1998 als Zafars Geburtsjahr genannt wird. Die Flüchtlingshelferin unterrichtet darüber die Behörden. Daraufhin schickt die Deutsche Rentenversicherung ein drei Seiten langes mit Paragrafen gespicktes Schreiben mit einer Begründung, warum das Geburtsdatum nicht mehr geändert werden könne und einem Hinweis auf die Regelung des Einspruchsrechtes gegenüber diesem Bescheid. Der Einspruch, den die Flüchtlingshelferin in Zafars Namen abgibt, wird dann abgelehnt.

Afghanen haben nur Vornamen, aber sobald sie die deutsche Grenze überqueren, benötigen sie einen Nachnamen. Den müssen sie erfinden.

Bei einem jungen Afghanen stellt sich heraus, dass in einem offiziellen Dokument ein anderer Vorname als der von ihm genannte steht. Er erklärt, diesen Namen habe er nach der Geburt erhalten, aber als er in der Kindheit schwer krank gewesen sei, habe der Familienrat seinen Namen geändert und ihm den Namen des Propheten gegeben, damit er gesund wurde.

Nachdem eine Ärztin bei dem Asylbewerber Raziq eine Erbkrankheit diagnostiziert hat, rät sie dazu, auch seine mit der Familie im Iran zurückgebliebene Schwester untersuchen zu lassen. Die Ärztin will einen Brief schicken, damit ihr Kollege im Iran erfährt, um was es geht, aber weder Raziq noch sein telefonisch kontaktierter Vater können eine postalische Adresse angeben. Nach mehr als einer Wegbeschreibung hat noch nie jemand gefragt.

Arrangierte Ehen

Brigitte Heidebrecht ist verblüfft, als Ayub sie als seine „große Schwester“ oder auch „Mutter“ um Rat bittet. Die Familie in Kandahar hat ihn als ältesten Sohn gefragt, ob er mit der Verheiratung seiner 17-jährigen Schwester mit einem bestimmten Bewerber einverstanden sei. Notgedrungen besinnt sich die Flüchtlingshelferin auf ihre Tätigkeit als Coach und versucht, Ayub bei der Klärung seiner Gedanken zu helfen. Die Entscheidung über die eheliche Verbindung ist eine Angelegenheit der gesamten Familie, und die übernimmt dann auch die Verantwortung dafür. Die einzige Person, die dabei nicht gefragt wird, ist die potenzielle Braut (und der Bewerber hat sie allenfalls in der Burka gesehen). Aber Ayub, der am Ende zustimmt, erklärt Brigitte Heidebrecht auf eine entsprechende Frage, dass sich seine Schwester ihm heimlich anvertraut hätte, wenn sie den Mann nicht hätte heiraten wollen, und er hätte dann den Kandidaten für ungeeignet erklärt.

Firuz berichtet seiner Flüchtlingshelferin, dass seine Mutter in Kabul eine Frau für ihn gefunden habe und er jetzt verheiratet sei. Brigitte Heidebrecht wundert sich, denn Firuz war die ganze Zeit in Ludwigsburg. Das sei kein Problem gewesen, erklärt Firuz, die Eheschließung vor dem Imam in Kabul sei am Telefon erfolgt.

Ja, mit der Braut habe er auch telefonieren dürfen, das sei eine moderne Familie.

Nun muss Firuz erst zusehen, wie er sich 2000 Euro für eine standesgemäße Hochzeitsfeier seiner Braut in Kabul borgen kann, bei der ihn seine Mutter vertreten wird. Dann muss er für seine eigene Party in Ludwigsburg sparen. Er ist optimistisch, seine Frau in zwei, drei Jahren nach Deutschland holen zu können, aber Brigitte Heidebrecht bezweifelt, das es möglich sein wird. Und nach Kabul kann Firuz wegen der Taliban nicht zurück. Würde er sich dann aber scheiden lassen, müsste sein Vater die vor dem Imam als Brautgeld vereinbarten Äcker abtreten.

Auch Navid wurde ferngetraut. Als Hochzeitsgeschenk möchte ihm Brigitte Heidebrecht ein Fotoalbum zusammenstellen und bittet ihn deshalb um Bilder. Aber da gibt es ein Problem: Nicht einmal die Namen der Frauen werden außerhalb der Kernfamilie genannt, und ein Schwager kennt auch nicht den Namen der Schwägerin. Völlig undenkbar ist ein Album mit Fotos der Braut, der Mutter oder Großmutter.

Sifat wird als Asylberechtigter anerkannt und erhält damit die Berechtigung, seine im Schutz der Großfamilie zurückgebliebene Ehefrau aus Afghanistan nachkommen zu lassen. Aber die Analphabetin, die nie eine Schule besuchen durfte, traut sich ein Leben in Europa nicht zu.

Abus Ehefrau wäre dagegen bereit, ihm nach Deutschland zu folgen. Aber um ein Visum beantragen zu können, müsste sie Deutschkenntnisse vorweisen und wie soll sie in einem Dorf ohne Schule im Hindukusch, in dem die Bewohner nicht einmal in der Muttersprache lesen und schreiben können, eine Fremdsprache lernen? Das wäre nur in einer Stadt möglich, aber in Afghanistan kann sich eine Frau nicht allein in einer Stadt aufhalten.

Fazit

Brigitte Heidebrecht mokiert sich darüber, dass sich ihre Freundinnen den Kopf über den nächsten Urlaub zerbrechen, während es für die Flüchtlinge ums Überleben geht.

Auf die Frage, was sie als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin gelernt habe, antwortet sie:

Ich habe einen noch viel größeren Respekt bekommen vor allem, was anders ist als ich.

Sie gesteht unumwunden ein, dass sie nicht alles positiv erlebt:

Doch, es gibt sie durchaus, die dunklen Stunden, wo man sich als Ehrenamtliche fragt, ob das alles Sinn macht.

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„Fernreise daheim. Von Flüchtlingen, Kulturen, Identitäten und anderen Ungereimtheiten“ weist sowohl Züge eines Sachbuchs als auch eines Bandes mit Erzählungen auf, denn die Autorin Brigitte Heidebrecht widmet sich der Frage, wie es Asylbewerbern in Deutschland ergeht, aber statt sich abstrakt mit dem Thema auseinanderzusetzen, erzählt sie in mehr als 100 kurzen Kapiteln von ihren persönlichen Erlebnissen als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin.

Durch das Aufeinanderprallen von Kulturen werden vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt. Beim Lesen des Buches „Fernreise daheim“ spürt man die Neugier und Aufgeschlossenheit der Autorin gerade auch dem Fremden gegenüber. Brigitte Heidebrecht beobachtet das Geschehen mit Empathie und Respekt, abgewogen und humorvoll, manchmal erstaunt oder verblüfft, dann auch wieder befremdet oder frustriert. Ihre Miniaturen sind konkret und anschaulich, prägnant und schnörkellos. Die Lektüre ist unterhaltsam und weitet den Blick.

Im Vorwort erklärt Brigitte Heidebrecht:

Natürlich schreibe ich nicht über „die“ Afghanen, und schon gar nicht über „die“ Geflüchteten. Ich schreibe über einige bildungsferne junge Männer, die ich seit 2015 kenne, die von einem sehr anderen Ende der Welt zu uns gekommen sind und für die die Integration in unsere Gesellschaft eine enorme Herausforderung ist (was immer wir uns unter Integration vorstellen mögen).

Brigitte Heidebrecht (* 1951) arbeitete zunächst als Gymnasiallehrerin, dann als Fachbereichsleiterin an einer Volkshochschule sowie als Projektleiterin im Amt für Soziale Dienste. Von 1980 bis 1988 führte sie den von ihr gegründeten Verlag Kleine Schritte und debütierte als Buchautorin mit dem Gedichtband „Lebenszeichen“ (1980). Sie begann sich 2015 als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin zu engagieren. Und 2019 gründete sie einen zweiten Kleinverlag, der sich auf das Thema „Migration, Integration und interkulturelles Verstehen“ konzentriert: Verlag Große Sprünge. Seit 2016 beschäftigt sich Brigitte Heidebrecht darüber hinaus als Tanzpädagogin, Coach, Mediatorin und Supervisorin.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Verlag Große Sprünge

Dorothy Baker - Zwei Schwestern
"Zwei Schwestern" ist ein mit­reißen­der, meisterhaft komponierter Roman. Dorothy Baker lässt die beiden Hauptfiguren abwechselnd in der Ich-Form zu Wort kommen und verzichtet auf objektive Erläute­run­gen. Das psychische Drama erschließt sich aus Dialogen und inneren Monologen.
Zwei Schwestern