Carsten Henn : Der Buchspazierer

Der Buchspazierer
Der Buchspazierer Originalausgabe Pendo Verlag (Piper Verlag), München 2020 ISBN 978-3-86612-477-6, 224 Seiten ISBN 978-3-492-99715-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Noch im Rentenalter trägt Carl Kollhoff Bücher aus. Eine gewitzte neunjährige Schülerin drängt sich dem schrulligen "Buchspazierer" auf und begleitet ihn von da an bei seinen Botengängen.
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Kritik

Der Wohlfühlroman "Der Buchspazierer" ist eine Hommage an die Literatur. Warmherzig und aus einer naiven Perspektive erzählt Carsten Henn eine märchenhafte, realitätsferne Geschichte für Jung und Alt.
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Die Buchhandlung

Seit ihr Vater Gustav Gruber vor drei Jahren in die Seniorenresidenz Münsterblick gezogen ist, führt Sabine Gruber die von ihm übernommene Buchhandlung „Am Stadttor“ (in einer nicht genannten Stadt). Carl Kollhoff, der seit Jahrzehnten in der Buchhandlung beschäftigt ist, trägt auch jetzt im Rentenalter abends noch bestellte Bücher aus. Er kennt die Inhaberin seit ihrer Geburt und war „Onkel Carl“ für sie, aber als sie seine Chefin wurde, wechselte sie zum Sie.

Er lebt allein und ist gewissermaßen aus der Welt gefallen, liest keine Zeitung und hat weder Radio noch Fernsehen. Auf seinem Klingelschild steht „E. T. A. Kollhoff“. Bücher sind seine Welt. Da kennt er sich aus. Und weil er sich im Alltagsleben keine Namen merken kann, assoziiert er seine Stammkunden mit Romanfiguren. Für ihn ist beispielsweise der 37-jährige Villenbesitzer Christian von Hohenesch der Gentleman Fitzwilliam Darcy aus dem Roman „Stolz und Vorurteil“ von Jane Austen.

Carl unterschied Leser in Hasen, Schildkröten und Fische. Er selbst war ein Fisch und ließ sich in einem Buch treiben, mal gemächlich, mal schnell. Hasen waren Schnellleser, sie rasten durch ein Buch und vergaßen ganz schnell, was sie wenige Seiten zuvor gelesen hatten. Deshalb mussten sie immer wieder zurückblättern, um nachzuschauen. Auch die Schildkröten machten das, weil sie so langsam lasen, dass Monate vergingen, bis sie ein Buch durchhatten.

Sascha und der Buchspazierer

Auf einem seiner abendlichen Botengänge wird Carl von einer Neunjährigen angesprochen. Sie heiße Sascha, habe ihn schon lange beobachtet und werde ihn von jetzt an auf seinen Runden begleiten, sagt sie.

„Du bist der Buchspazierer. So nenne ich dich.“

Das aufgeweckte Mädchen lässt sich nicht abschütteln, und als „Fitzwilliam Darcy“ öffnet, um ein bestelltes Buch in Empfang zu nehmen, läuft Sascha ins Haus hinein und schaut sich neugierig um. Aber statt zu schimpfen, wendet sich der Bewohner an den Buchspazierer:

„Sie haben da eine schlaue kleine Begleiterin.“
„Ich bin genauso überrascht wie Sie.“

Als Sascha und der Buchspazierer herausfinden, dass der von ihnen „Herkules“ genannte Bauhof-Arbeiter Mike Tröffer zwar regelmäßig Bücher bestellt, aber gar nicht lesen kann und sich nur Carls mündliche Inhaltsangaben einprägt, überreden sie die pensionierte Lehrerin Dorothea („Thea“) Hillesheim, deren Ehemann bei einem Gewitter vor sieben Jahren von einem Dachziegel erschlagen wurde, ihn zu unterrichten.

Unter den Stammkunden gibt es einen Mann, der in der Zigarrenmanufaktur Torcedor als Vorleser für die Mitarbeiter beschäftigt ist. Als Carl und Sascha erfahren, dass der Vorleser selbst einen Roman geschrieben hat, es aber nicht wagt, das Manuskript einem Verlag anzubieten, überredet das Mädchen ihn, es dem Buchspazierer mitzugeben. Und nachdem Carl es gelesen hat, suchen er und das Kind Mercedes Riemenschneider auf, die Inhaberin der Zigarrenmanufaktur. Sascha gibt sich als Nichte des Vorlesers aus, nimmt das bereitliegende Buch „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe weg und hinterlässt das Manuskript . Dem wenige Minuten später eintreffenden Autor bleibt nichts anderes übrig, als aus seinem unveröffentlichten Roman „Der stille Tango“ zu lesen. Es wird ein voller Erfolg.

Auch Andrea Cremmen gehört zu den Stammkunden des Buchspazierers. Die gelernte Krankenschwester arbeitet halbtags als Sprechstundenhilfe am Empfang einer Hausarztpraxis. Carl assoziiert die unglücklich aussehende Frau und ihren in der Versicherungsbranche tätigen Ehemann Matthias mit Effi Briest und Geert Baron von Innstetten. Carl und Sascha befürchten, dass „Effi Briest“ von ihrem Mann geschlagen wird, und als aus dem Haus zu hörende Schreie den Verdacht bestätigen, rufen sie die Polizei. Aber das Ehepaar versichert den beiden Streifenbeamten, nur das Fernsehgerät zu laut gestellt zu haben.

Daraufhin wenden sich Carl und Sascha an Schwester Maria Hildegard, die letzte Nonne des aufgelösten Benediktinerinnenpriorats St. Alban, Tochter eines Molekularbiologen und einer Astrophysikerin. Maria Hildegard folgt Carl und Sascha zum Haus des Ehepaars Cremmen und klingelt dort. „Effi Briest“ ist sofort bereit, mit ihr zu gehen, aber am Kloster hat soeben ein Handwerker das Schloss ausgewechselt, denn das Erzbistum hat nur darauf gewartet, dass die letzte Bewohnerin das Anwesen verlässt. Endlich können dort exklusive Eigentumswohnungen gebaut werden.

Die Nonne und „Effi Briest“ kommen in der Villa von „Fitzwilliam Darcy“ unter, der ohnehin geplant hat, einen Lesekreis zu gründen.

Ende 1

Gustav Gruber stirbt im Seniorenheim. Seine Tochter will nun endlich den altmodischen Lieferservice einstellen, aber als sie spürt, dass sie damit bei ihrem aus Vanessa Eichendorff, Julia Berger, Jochen Giesing und dem Schülerpraktikanten Leo bestehenden Team auf Ablehnung stößt, zögert sie zunächst. Erst einige Tage später entlässt sie Carl Kollhoff.

Weil er es nicht fertig bringt, seinen Stammkunden die Wahrheit zu sagen, verkauft er seine eigenen Bücher und bezahlt mit dem Erlös die bestellten Bücher. Die Empfänger bezahlen weiterhin ahnungslos auf das Konto der Buchhandlung, aber das wird erst nach einiger Zeit auffallen.

Carl vermisst Sascha. Er sucht nach ihr, und als er sie auf einem Schulhof entdeckt, klärt sie ihn darüber auf, dass sie eigentlich Charlotte heißt. Ihr verwitweter Vater hat ihr den Kontakt mit dem alten Mann verboten.

Bald darauf passt Saschas Vater den Buchspazierer auf der Straße ab, beschimpft ihn, wirft ihn zu Boden und lässt ihn liegen. Im Krankenhaus kommt Carl wieder zu sich. Der rechte Arm und das linke Bein sind eingegipst. Außerdem hat er eine Gehirnerschütterung. Er sei gestürzt, heißt es.

Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verkriecht sich Carl in seiner Wohnung und öffnet auch nicht, als Sascha klingelt.

Zu Hause redet der Vater mit ihr und gesteht, dass er den alten Mann umwarf und liegen ließ. Inzwischen bereut er es, denn Carl steckte ihm während der Auseinandersetzung noch das Kinderbuch „Ronja Räubertochter“ von Astrid Lindgren zu, und das öffnete ihm die Augen. Er folgt seiner Tochter zu Carls Wohnung und hämmert so lange gegen die Tür, bis dieser öffnet. Saschas Vater will sich entschuldigen, aber Carl unterbricht ihn:

„Geht einfach! Ich will niemanden mehr sehen.“

Ende 2

Damit gibt sich Sascha nicht zufrieden. In ihr Poesiealbum schreibt sie, wie sie sich das Ende der Geschichte vorstellt.

Ihr Vater bemüht sich zwar vergeblich, Sabine Gruber zur Rücknahme der Kündigung zu überreden, aber er erreicht, dass Hans Witton, der verwitwete Inhaber des Antiquariats „Moses“, Carl einstellt. Der Buchspazierer macht seine Runde nun mit einem von Saschas Vater besorgten Rollator und verschenkt Bücher an Menschen, die sich keine leisten können. Die Finanzierung übernimmt „Fitzwilliam Darcy“.

Carl Kollhoff verspricht Sascha, über all das ein Buch zu schreiben.

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Der Wohlfühlroman „Der Buchspazierer“ von Carsten Henn ist eine Hommage an die Literatur. Die rührende Handlung dreht sich auch um die Freundschaft zwischen einem schrulligen greisen Bücherfreund und einer vorwitzigen neunjährigen Schülerin. Die Figuren bleiben allerdings klischeehaft. Warmherzig, aus einer naiven Perspektive und in einfacher Sprache erzählt Carsten Henn eine märchenhafte, realitätsferne Geschichte für Jung und Alt. Das Buch lässt sich leicht lesen, und die Eloge auf die Bücherwelt ist sympathisch, aber „Der Buchspazierer“ gleitet leider immer wieder in Kitsch ab. Gelungen ist die Idee mit dem zweifachen Ende.

Das Buch gefällt jedoch sehr vielen Menschen. Auf der Jahres-Bestseller-Liste des „Spiegel“ 2021 stand „Der Buchspazierer“ bei Hardcover Belletristik auf Platz 6.

Den Roman „Der Buchspazierer“ von Carsten Henn gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Reinhard Kuhnert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Pendo Verlag / Piper Verlag

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