Judith Hermann : Daheim

Daheim
Daheim Originalausgabe S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2021 ISBN 978-3-10-397035-7, 189 Seiten ISBN 978-3-10-491270-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 57-jährige Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, lebt seit fast einem Jahr am Rand eines Dorfes an der Küste. Wurzeln möchte sie keine schlagen, aber die Zeit dort soll ihr helfen, sich selbst zu finden. Die alte Welt ist Vergangenheit. Als ihre Tochter im Alter von 19 Jahren fortzog und auf Reisen ging, verließ sie ihren sammelwütigen Ehemann und die Stadt ...
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Kritik

Der Roman "Daheim" dreht sich nicht nur um Bewahren und Loslassen, Übergang, Aufbruch und Neuanfang, sondern auch um die Spannung zwischen Nähe und Distanz zu anderen Menschen, Xenophobie und Ökologie. Judith Hermann bleibt auf Distanz, vermeidet Emotionen und setzt auf kühle Lakonie.
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Der Zauberer

In einem Sommer vor fast 30 Jahren lebt die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, in einer Einraumwohnung in einem städtischen Neubaugebiet und arbeitet am Band einer Zigarettenfabrik. Jeden Tag stiehlt sie so viele Zigaretten, wie sie rauchen möchte − und wartet darauf, bei der von einem Zufallsgenerator gesteuerten stichprobenartigen Taschenkontrolle am Ausgang erwischt zu werden.

Als sie in einer Tankstelle nahe ihrer Wohnung ein Eis kauft, wird sie von einem älteren Herrn angesprochen. Er sei Zauberer, sagt er, und suche eine Assistentin, die bereit sei, sich für den Trick mit der zersägten Jungfrau in eine entsprechend präparierte Kiste zu legen.

Eine Woche lang überlegt sie, dann fährt sie zu der angegebenen Adresse am anderen Ende der Stadt. Die Kiste steht im Wohnzimmer auf dem Boden. Die Ehefrau des Magiers ist auch da. Er sei für ein Vierteljahr auf der MS Aurora engagiert, erklärt er, das Schiff fahre nach Singapur und zurück. In einer Woche beginne die Reise.

Otis und Ann

Am Ende fährt die Erzählerin doch nicht mit. Sie begegnet Otis, heiratet und bringt die Tochter Ann zur Welt.

Otis wird ihre Erinnerung viele Jahre später korrigieren: Als der Magier sie ansprach, arbeitete sie nicht mehr am Band, sondern trug ein Kostüm und führte Besuchergruppen durch die Zigarettenfabrik. In der Kantine saß sie zwischen dem Bereich der Arbeiterinnen, zu denen sie nicht mehr gehörte, und dem der Schichtleiter. Was sie in der Nähe ihrer nicht Ein-, sondern Zwei-Zimmer-Wohnung kaufte, war kein Eis, sondern eine Flasche Wasser und eine Packung Zimtkaugummi, und es geschah nicht in einer Tankstelle, sondern in einem Supermarkt.

Ann war schlecht in der Schule. Es gab eine Lehrerin, die ihr zugetan war und feststellte, dass Ann mehr Raum um sich herum bräuchte als andere Leute, ab und an war Ann bei dieser Lehrerin gut in Biologie gewesen, ab und an gut in Geschichte. Sie fuhr gerne Fahrrad. Sie konnte niemals ihr Zimmer aufräumen. Sie holte sich Klamotten aus den Tonnen der Hilfsdienste, wusch sie zweimal, dann zog sie sie an. Sie fing früh an, zu rauchen, sie kiffte, sie nahm, soweit wir wussten, keine chemischen Drogen. Eine Zeitlang hörte sie Monk. Sie las Bücher, die sie vor uns versteckte, nicht mit uns teilen wollte, nur als sie Murakami las, wollte sie wissen, ob wir Murakami auch für einen Sadisten halten würden. Die kam mit ihrer ersten Tätowierung nach Hause, als sie vierzehn war, ein blauer, drei Zentimeter langer Strich auf ihrem Schienbein, von dem sie sagte, er solle sie immer an etwas Bestimmtes erinnern, später kamen Leuchttürme dazu, Kompasse, Sternbilder.

Im Alter von 18 Jahren bricht Ann die Schule ab und kommt mitunter monatelang nicht nach Hause. Mit 19 zieht sie ganz aus und geht auf Reisen.

Bald darauf verlässt die Erzählerin ihren Mann und lässt sich scheiden. Aber die beiden bleiben befreundet. Auch als Ehepaar und Familie hatten sie zwei Wohnungen in einem Mehrfamilienhaus gemietet, eine für Otis, die andere für Mutter und Tochter. Nach ihrem Auszug übernahm Otis auch die anderen Räume. Er benötigt sie für sein „Archiv“, in dem er Unmengen von allem Möglichen sammelt, während seine Ex-Frau einen Neuanfang sucht.

Daheim?

Seit fast einem Jahr lebt die inzwischen 57 Jahre alte Erzählerin nun an der östlichen Küste auf dem Land. Sie arbeitet für ihren etwas älteren Bruder, der in einer Baracke im Dorf die Kneipe „Shell“ betreibt. Obwohl sie auch bei ihm wohnen könnte, hat sie es vorgezogen, außerhalb des Dorfes ein billiges Haus zu mieten.

Sie erinnert sich, dass sie und ihr Bruder nicht wie die anderen Schulkinder einen Wohnungsschlüssel bekamen. Oft mussten sie im Treppenhaus warten, bis die Mutter heimkam, was manchmal erst nachts geschah. Hin und wieder war die Mutter auch da, öffnete aber erst nach Stunden die Tür und ließ die Kinder in die Wohnung.

Der Bruder hat sich mit Ende 50 in Nike verliebt, eine 21-Jährige Kellnerin der Kneipe „Zum Anker“. Angeblich wurde sie als Kind von der Mutter des Öfteren in eine Kiste gesperrt, manchmal tagelang, zuletzt als Zwölfjährige. Die Mutter soll sie auch an Männer vermietet haben. Weil sie kaum noch Zähne hat, zerstampft sie Chips in der Tüte und isst dann das Pulver. Vom Wirt der Kneipe „Shell“ lässt sie sich in die Stadt fahren und sowohl ihre Einkäufe als auch die Besuche im Nagelstudio bezahlen. Er bringt sie auch zu einem Trailerpark und wartet dort im Auto 20 bis 30 Minuten, bis sie zurückkommt.

Im Nachbarhaus der Erzählerin zieht eine nur wenig ältere Frau ein. Die Malerin und Bildhauerin hat drei gescheiterte Ehen hinter sich und ist kinderlos geblieben. Mimi stammt von einem Großbauernhof aus der Gegend und hatte vor Jahren eine Affäre mit dem Bruder der Erzählerin. Jetzt ist sie zurückgekommen.

Die Erzählerin erklärt Mimi, dass sie hier keine Wurzeln schlagen wolle.

Die beiden einsamen Frauen freunden sich an. Sie trinken zusammen Wein, fahren mit dem Rad herum und schwimmen im Hafenbecken. Bevor Mimi über die Leiter ins Wasser steigt, zieht sie sich unbekümmert aus. Einmal beobachtet ihre Nachbarin, wie Mimi splitternackt im Garten steht und ihren Körper von der Sonne wärmen lässt.

Mimi erzählt die Sage von einer Nixe, die den Fischern ins Netz ging.

Sie haben sie mit an Land genommen, in eine ihrer Hütten geschleppt, eingesperrt, gequält. Sie haben sie über Tage und Nächte hinweg gefoltert.
Ich sage, ach.
Mimi sagt, ja. Kannst du dir mal ausmalen, wie man eine Nixe foltert.
Ich sage, ich würde mir das nicht ausmalen wollen.
Sie sagt, dann erzähle ich es dir. Sie haben ihr die Schuppen einzeln ausgerissen, sie haben sie vergewaltigt, geschlagen, getreten. Alle nacheinander, noch mal von vorne. Sie hatten so etwas Wunderbares wie diese Nixe nie zuvor in ihrem Leben gesehen, und es ist ihnen nichts anderes eingefallen, als das kaputt zu machen.

Die Männer brachten die Nixe dann mit dem Boot wieder aufs Wasser hinaus. Das war ein Fehler, denn sie rächte sich mit einer Sturmflut, die alles zerstörte.

Ich glaube, sagt Mimi auf dem Nachhauseweg, dass die Nixe eine Fremde gewesen ist. Sie kam von irgendwoher. Sie sah anders aus als die anderen. Sie sprach ihre Sprache nicht, und sie hat ihnen Angst gemacht. Sie haben sie eingesperrt, vergewaltigt, umgebracht, und später haben sie ihr die Schuld gegeben an Seuchen, Sturmflut, Pest. Das denke ich […].

Die Falle

Mimi fährt mit ihrer neuen Freundin zu ihren Eltern Amke und Onno, die in einem Austragshaus wohnen, seit der Sohn Arild den Hof übernommen und die Schweinezucht zur Massentierhaltung ausgebaut hat.

Als die Erzählerin Arild berichtet, dass sie nachts ein Tier am Haus höre, tippt er auf einen Marder und stellt eine Lebendfalle auf. Aber kein Marder, sondern zunächst eine Katze und später eine Amsel geraten in die Falle.

So ist das, sagt Onno. Du fängst selten das, was du fangen willst. Du fängst mitunter was ganz anderes. Dann musst du sehen, was du damit machst.

Als Amke ihren 82. Geburtstag feiert, klagt Onno, er fühle sich krank. Amke wirft ihm vor, absichtlich die Feier stören zu wollen. Weil sie keinen Krankenwagen vor dem Haus haben will, solange die Gäste da sind, fahren Arild und die Erzählerin den alten Mann ins Krankenhaus, wo sich ein Arzt aus Kalkutta um ihn kümmert.

Ich sehe den indischen Arzt zwei Wochen später wieder, am frühen Abend im Flur vor den Kühlkammern der Pathologie. Er erinnert sich an mich. Er sagt, wie geht es ihrem Schwiegervater, ich sage, meinem Schwiegervater geht es gut, es war tatsächlich eher die Aufregung des Festes, der viele Besuch, die Anspannung […].

Sie identifiziert die Leiche, die der indische Arzt aus einem Kühlfach zieht. Es ist Nike. Sie war wohl bereits tot, als jemand sie überfuhr und ihr dabei Brust und Bauch aufriss. Der Bruder der Erzählerin hatte sie wieder einmal zu den Trailern gebracht, und als sie dann nicht anrief, um sich abholen zu lassen, fuhr er hin und fand sie dort tot vor. Der Mordverdacht fällt auf ihn, aber er beteuert, dass Nike zum Monatsende gekündigt habe und er die Kneipe aufgeben wollte, um mit ihr zu verreisen.

Und möglicherweise träume ich und habe alles geträumt, auch Nike, auch ihre hohen Wangenknochen, ihr Kartenspiel und ihre Wehrhaftigkeit, ich habe Ann geträumt und Otis, ich träume das Wasser, meine Kindheit, mich.

Mir fällt auf, dass ich die Rosen schon lange nicht mehr beschnitten habe, sie sind wild, verwahrlost und verwuchert wie eine Dornröschenhecke, und ich weiß, dass ich sie in diesem Leben nicht mehr schneiden werde […].

Arild schläft bei der Erzählerin, als sie hört, wie die Falle zuschnappt.

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Die 57-jährige Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, lebt seit fast einem Jahr am Rand eines Dorfes an der Küste. Wurzeln möchte sie keine schlagen, aber die Zeit dort soll ihr helfen, sich selbst zu finden. Die alte Welt ist Vergangenheit. Als ihre Tochter im Alter von 19 Jahren fortzog und auf Reisen ging, verließ sie ihren sammelwütigen Ehemann und die Stadt. Jetzt erinnert sie sich an das eine oder andere und denkt über Versäumtes nach. Sie arbeitet für ihren orientierungslosen älteren Bruder, der ohne Ehrgeiz in einer Baracke im Dorf eine Kneipe betreibt, freundet sich mit der neuen Nachbarin Mimi an, die nach drei gescheiterten Ehen gerade in ihre Heimat zurückgekommen ist und lässt sich ohne große Leidenschaft auf eine Affäre mit Mimis Bruder Arild ein, der den Bauernhof der Eltern übernommen hat und eine Schweinezucht im Stil der Massentierhaltung betreibt.

Der Roman „Daheim“ von Judith Hermann dreht sich nicht nur um Bewahren und Loslassen, Übergang, Aufbruch und Neuanfang, sondern auch um die Spannung zwischen Nähe und Distanz zu anderen Menschen, Xenophobie und Ökologie.

Judith Hermann springt in „Daheim“ zwischen der Gegenwart und den Erinnerungen der Protagonistin hin und her. Das wenige, was es an Handlung gibt, skizziert sie eher und inszeniert es nicht. Vieles deutet sie nur an oder lässt es ganz weg (literarische Ellipsen). Offen bleibt auch das Ende. Um uns noch mehr zu verunsichern, erwähnt Judith Hermann auf einer der letzten Seiten, dass es sich bei all dem, was wir gelesen haben, um einen Traum der Ich-Erzählerin gehandelt haben könnte.

Judith Hermann bleibt auf Distanz, vermeidet Emotionen und setzt auf kühle Lakonie. Das gilt auch für die Dialoge in „Daheim“, die zwar wörtlich sind, aber oft nicht wie lebendige Rede wirken. Die Sprache ist extrem asketisch und besteht vorwiegend aus aneinander gereihten Hauptsätzen (Parataxen).

Den Roman „Daheim“ von Judith Hermann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von der Autorin.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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