Martin Horváth : Mohr im Hemd

Mohr im Hemd
Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten Originalausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012 ISBN 978-3-421-04547-8; 345 Seiten ISBN 978-3-641-08304-5 (eBook) Taschenbuch: btb, München 2014 ISBN 978-3-442-74768-9
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 15-jährige Afrikaner Ali beobachtet die anderen Flüchtlinge in einem Wiener Asylantenheim. Viele von ihnen sind unvorstellbaren Lebensbedingungen entkommen und von Grausamkeiten traumatisiert. Sie hoffen auf einen Neuanfang, aber bis zu einer Entscheidung müssen sie bangen, ob sie nicht wieder abgeschoben werden.
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Kritik

Die Schicksale der Romanfiguren sind erschütternd, aber Martin Horváth macht daraus keinen deprimierenden Roman, sondern überlässt das Wort einem pikaresken Ich-Erzähler, der "Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten" zum zugleich ergreifenden und unterhaltsamen Schelmenroman werden lässt.
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Ali Idaulambo (Teil 1)

Der afrikanische Flüchtling Ali Idaulambo – das ist nicht sein richtiger Name – lebt seit kurzem in einem Asylantenheim in Wien.

Damit Sie’s gleich wissen: Meine Haut ist braun. Dunkelbraun. Man könnte auch sagen kaffeebraun, was man natürlich in dieser Stadt der tausend Kaffeehäuser etwas präziser formulieren muss: Je nach Tageslicht und Laune zeigt sich mein schöner Teint nämlich einmal heller, einmal dunkler, schimmert morgens meist in feinem Melangebraun, gibt sich mittags kleiner- oder großerbraunerbraun, verfärbt sich nachmittags zu elegantem Einspännerbraun, um am Abend schließlich – Herr Ober, zahlen bitte – bei sattem Espresso- oder Mokkabraun zu landen.
In dieser Stadt der tausendundein Konditoreien kann man Kaffee natürlich nicht ohne Kuchen- oder Tortenstück genießen. Doch Linzer Torte will ich nicht, auch Apfelstrudel kommt mir keiner auf den Tisch, es steht mir der Sinn nicht nach Indianerkrapfen oder anderem Unfug für Bleichgesichter, nein, Herr Ober, ein Mohr im Hemd muss es sein, so viel ist klar. Mohr im Hemd will ich, sonst fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut, Mohr im Hemd krieg‘ ich, sonst wähne ich mich nicht willkommen in diesem Land.
So. Nachdem wir das geklärt haben, können wir ja beginnen. Mein Name ist Ali und ich bin neu in dieser Stadt. Seit kurzer Zeit lebe ich in einem Heim unweit der Donau und kenne mittlerweile alle hundertdreißig Mitbewohnerinnen und -bewohner sowie alle Betreuerinnen und Betreuer beim Namen.

Weil Ali angeblich 15 Jahre alt ist, wohnt er mit anderen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) in der vierten Etage über den Stockwerken mit den erwachsenen Asylbewerbern. Nachts hören ihn andere im Zimmer des Öfteren schreien, aber er beteuert, keine Albträume zu haben.

Es gibt ja auch nicht allzu viel zu berichten: ein bisschen Folter hier, ein bisschen Einschüchterung da, meine Mutter und meine Geschwister hat man umgebracht, mein Vater ist verschollen […]

Obwohl er es nicht wahrhaben will, hört Ali nachts seine Mutter und die Schwestern schreien. Militärs vergewaltigen seine ältere Schwester, und ein weiterer Soldat versucht, die Mutter zu bändigen.

Ich stehe wie gelähmt da, ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Vater und mein Bruder sind in die Stadt gefahren, die meisten Nachbarn sind auf den Feldern, ich kann nirgendwo Hilfe holen, allein kann ich nichts ausrichten gegen mehrere bewaffnete Männer. Plötzlich höre ich schwere Schritte, dann taucht der Soldat, der vorher vor dem Eingang stand, an der Ecke auf, er erblickt mich, ich will weglaufen, kann mich aber nicht bewegen, es fällt ein Schuss – – – und ich wache auf.

Statt mit seinen eigenen Erlebnissen beschäftigt sich Ali mit den Geschichten der anderen. Er beobachtet sie, belauscht ihre Gespräche, hat seine Augen und Ohren überall, behauptet, 40 Sprachen zu beherrschen und malt sich die Vergangenheit der Schicksalsgefährtinnen und -gefährten aus.

Nun, meine Aufgabe ist es, den Geschichten meiner Mitbewohner hinterherzuspüren. Es sind Geschichten mit vielen exotischen Namen, die schwer zu merken sein mögen, Geschichten, so sei ausdrücklich gewarnt, in denen eindeutig die dunklen Kapitel überwiegen. Dunkel, weil viele Bewohner dieses Hauses Schlimmes erlebt haben; dunkel, weil manche nichts von sich preisgeben wollen; dunkel aber auch, weil nicht immer klar ist, ob sie die Wahrheit sagen oder sie zurechtbiegen und Dunkles erfinden, um sich zwecks Erlangung von Asyl in ein besseres Licht zu rücken. Ich, ich bin jedenfalls hier, um die Geschichten aufzuspüren, sie der Finsternis zu entreißen, um solcherart Licht ins Dunkel zu bringen, und zwar in jeder Hinsicht.

George Yaya Nagbe

George Yaya Nagbe stammt aus Liberia, gab in seinem Asylantrag jedoch Côte d’Ivoire als Herkunftsland an, weil er sonst kaum eine Chance hätte, in Österreich bleiben zu dürfen. Bevor Yaya nach Europa fliehen konnte, brach ein Bürgerkrieg im Staat Elfenbeinküste aus.

Worum es in diesem Krieg eigentlich geht, das weiß niemand so genau. Es gibt Rebellen, die gegen die Regierung kämpfen, es gibt Rebellen, die auf der Seite der Regierung gegen andere Rebellen kämpfen, und dann gibt es noch Soldaten mit blauen Helmen, die die anderen am Kämpfen hindern sollen. Goualé liegt genau mittendrin zwischen allen Fronten.

[Yaya] ist zwölf oder dreizehn, so genau weiß er es selbst nicht, die Soldaten haben ihn ein paar Wochen zuvor in seinem Dorf rekrutiert. Sie haben dem Chief mit Waffengewalt gedroht, der ließ alle Burschen ab zehn Jahren auf dem Dorfplatz antreten. […] Aber selbst jene, die wie Yaya das Angebot ablehnten, wurden schließlich gegen ihren Willen im Morgengrauen aus den Betten gejagt, ein Vater, der gar zu eifrig seinen Sohn zu verteidigen versuchte, wurde erschossen.

Die Uniform, in die der Kindersoldat Yaya gesteckt wird, ist ihm zu groß und weist ein Loch auf, dort, wo sein Vorgänger tödlich in die Brust getroffen wurde. Bei der Ausbildung müssen die Jungen mit Steinen bewaffnet gegeneinander kämpfen.

Die Rebellen nehmen Yaya bei einem Überfall auf ein Dorf mit. Sie rauben einer Familie das Getreide und die Ziegen. Zum Spaß schießt der Kommandant dem Vater von vier Kindern ins Bein. Adjoua, das älteste der Kinder, ist 14. Ob ihm das Mädchen gefalle, fragt er Kommandant Yaya und hebt lachend Adjouas Rock hoch. Einige Tage später ziehen der Kommandant und vier erwachsene Soldaten mit Yaya erneut zu dem Haus der ausgeraubten Familie.

Wir haben nichts mehr, was ihr uns wegnehmen könntet, sagt der Vater mit zitternder Stimme. Doch, doch, antwortet der Kommandant. Er packt Adjoua am Arm und zieht sie mit einer schnellen Bewegung zu sich. Wie heißt du, mein schönes Kind, fragt er, und sie nennt kaum hörbar ihren Namen. Er reißt ihr den Rock herunter, dann das T-Shirt, jetzt stößt er sie brutal zu Boden. Der Vater versucht, sich auf ihn zu stürzen, doch die Maschinengewehre hindern ihn daran. So, sagt der Kommandant nicht unfreundlich zu Yaya, jetzt nimm sie dir endlich, du kleiner Scheißer.

Wenn Yaya überleben will, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die nackte 14-Jährige vor allen Augen zu vergewaltigen. Nach dem Orgasmus glaubt er, die Mutprobe bestanden zu haben, aber nun befiehlt ihm der Kommandant, das Mädchen zu erwürgen.

Bring sie endlich um, du Feigling, brüllt [der Kommandant], scheinbar enttäuscht von seinem Schützling, der mit erschlafftem Glied über dem Mädchen kauert. Jetzt dreh der kleinen Hure schon den Hals um! Yaya denkt an die Drohungen des Kommandanten und der Soldaten, er weiß, dass es keine leeren Drohungen sind, jeder weiß von den zehn- oder elf- oder zwölfjährigen Burschen, die vergewaltigt und erschlagen wurden, und langsam legen sich seine Hände um den Hals des Mädchens.

Weil Yaya zu wenig Kraft hat, um das Mädchen zu erwürgen, reicht ihm der Kommandant einen großen Stein und bringt ihn dazu, Adjoua totzuschlagen.

Anunu Okode

Die Nigerianerin Anunu Okode lebt seit zwei Jahren im Asylantenheim. Ihr Verfahren läuft noch. Vor sechs Monaten gebar sie eine Tochter namens Abiona, und inzwischen ist sie erneut schwanger.

Ein Ausweisungsbescheid trifft ein, nicht für Anunu, sondern für das Baby Abiona Okode.

Bei der Antragstellerin, im folgenden Ast. genannt (also noch einmal, langsam, zum Mitschreiben: Die Ast. ist SECHS MONATE ALT und IN ÖSTERREICH GEBOREN!!!), bestünden laut Angaben der Kindesmutter keine eigenen Fluchtgründe, so heißt es in dem Bescheid. Bei einer Ausweisung nach Nigeria liege daher nach Ansicht der erkennenden Behörde keine Bedrohung für die Ast. vor, aus diesem Grund sei der Antrag negativ beschieden worden. Somit ergäbe sich der rechtswidrige Aufenthalt der Ast., zur Beendigung dieses Aufenthaltes sei eine Ausweisung dringend geboten, da der Verbleib der Ast. eine gewichtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung bedeuten würde. Die Ausweisung stelle des Weiteren keinen Eingriff in das Privat- oder Familienleben der Ast. oder der Kindesmutter dar, da beide ohnehin getrennt vom Kindesvater lebten. Auch sonst seien nach sorgfältiger Interessenabwägung keine Umstände zutage getreten, die für eine gegenteilige Entscheidung zugunsten der Ast. sprechen würden.

Manu

Ali erzählt die Geschichte von Manu dem Tomatenpflücker.

Manu wächst in Guinea-Bissau auf. Dort gibt es Cashewbäume, aber keine Tomaten.

Manu besitzt die Frechheit, nicht verhungern zu wollen. Er will nach Spanien, Spanien liegt in Europa, in Europa sind die Menschen reich, sie wohnen in großen Häusern, haben teure Autos und genug Geld für alles, was sie brauchen, Manu weiß das aus dem Fernsehen. In Spanien braucht man Tomatenpflücker, auch das weiß er aus dem Fernsehen.

Manu schafft es nach Spanien und wird Tomatenpflücker. Er erntet 400 Kilogramm pro Stunde, an 12 Stunden pro Tag, denn er möchte den Job behalten.

Es ist heiß und stickig in den Gewächshäusern, der Rücken schmerzt, die Augen tränen von dem Gift, das in der Luft liegt, das an den Tomaten klebt […].
Manu lebt zusammen mit anderen Tomaten- und Gurken- und Erdbeerpflückern unter einem Dach aus Plastikplanen. Es gibt viele solche Hütten aus Holz und Plastik und Blech hier, sie bilden eine ganze Siedlung mit zwei- oder dreihundert Einwohnern, nebenan liegen ein Schrottplatz und ein Friedhof.

Manu, der sich illegal in Spanien aufhält, bekommt meistens weniger Lohn als vereinbart und kann nichts dagegen unternehmen.

Beschwer‘ dich doch, sagt der Mann, der ihm das Geld verweigert, beschwer‘ dich nur, wiederholt er und lacht.
Tomaten aus Spanien werden übrigens auch nach Guinea-Bissau exportiert, denn im Schatten der Cashewbäume würden die Früchte nicht gedeihen.

Amal Mbowe

Amal Mbowe stammt aus Westafrika und behauptet, erst 17 Jahre alt zu sein, um noch als UMF zu gelten.

Neneh, so nennt Ali sie, als er ihre Geschichte erzählt, lebt mit ihrer Mutter und den Geschwistern in einem kleinen Dorf. Als sie um die 14 Jahre alt ist, kommen mehrmals zwei Männer und eine Frau aus der Stadt ins Dorf und verhandeln auch mit Nenehs Mutter.

Nenehs Mutter ist arm. Sie hat acht Kinder zur Welt gebracht, drei sind gestorben, die anderen fünf kann sie kaum ernähren, der Vater ist verschwunden, sie ist müde und krank, mit ihren eingefallenen Wangen sieht sie fast aus wie eine Greisin. Sie packt ein paar Kleidungsstücke in eine schäbige Tasche. Da, sagt sie zu Neneh, du wirst eine Weile bei der Tante in der Stadt wohnen, dort wird es dir viel besser gehen als hier im Dorf. Die Tante zwingt sich zu einem kurzen Lächeln, bevor ihr Mund sich wieder verhärtet. Die Männer überreichen der Mutter einen Briefumschlag.

Mit dem Auto wird Neneh in die Stadt gebracht. Im Haus der Frau teilt sie sich mit zwei anderen Mädchen ein Zimmer. Nach ein paar Monaten sagt die Frau, Nenehs Mutter sei gestorben und man werde sie nun mit Papieren auf den Namen Amal Mbowe nach Europa bringen.

Du heißt ab jetzt Amal, schärft sie ihr ein, hörst du? Und du kommst aus Gambia.

Amal hat nun im Haushalt eines afrikanischen Diplomaten zu helfen und auf die beiden fünf bzw. sieben Jahre alten Kinder aufzupassen. Der Mann ist selten zu Hause. Einmal greift er ihr zischen die Beine und versucht, sie zu küssen. Da kommt seine Frau ins Zimmer und schreit: „Lass‘ meinen Mann in Ruhe, du kleine Hure!“

Jahre vergehen. Dann zieht die Diplomatenfamilie nach Japan und lässt Amal zurück.

Liu Xingjian

Liu Xingjians Eltern schufteten in China und baten Freunde und Verwandte um Geld, damit sie ihren zwölfjährigen Sohn zu Verwandten nach Europa schicken konnten.

Liu wurde Zeuge, als sich drei Schlepper eines Nachts an einem jungen Mädchen aus Nepal vergingen, und er konnte nichts dagegen tun, denn die Männer waren bewaffnet. Drei Leute erstickten, als ein Lkw zwei Tage lang mit fest verschlossenen Türen in der prallen Sonne stand, das Mädchen aus Nepal war darunter. Liu hatte Glück und kam durch. Und Liu hatte Glück, dass er im Gegensatz zu anderen, die nach Deutschland oder Frankreich oder Holland wollten, tatsächlich an sein Ziel gebracht wurde.

Ein Cousin seiner Mutter betrieb ein Restaurant in Wien. Im Lagerraum durfte Liu schlafen. Er musste hart arbeiten, erhielt dafür kaum Geld, und der Verwandte zweigte auch noch von den Beträgen, die Liu seinen Eltern zukommen lassen wollte, stets etwas ab. Nach einiger Zeit schloss der Verwandte das Restaurant in Wien und zog mit seiner Familie nach Amsterdam.

Seither wohnt Liu im Asylantenheim. Hier wird ihm das für die Eltern gesparte Geld gestohlen. Und nachdem sein Asylantrag abgelehnt wurde, führen ihn zwei Polizisten mit einem Schubhaftbefehl ab.

Djamila al-Shibli

Die Arzttochter Djamila wuchs in einem der besseren Vororte Bagdads auf. Ihre Mutter hatte das Medizinstudium nach der Geburt von Djamilas älterer Schwester Khalisa abgebrochen. Sie bekam noch eine dritte Tochter: Subaia.

Obwohl es bedeutete, den gesamten Besitz zurückzulassen, versuchte die fünfköpfige Familie, aus dem Irak zu fliehen. An einer Straßensperre wurde der Vater verschleppt, aber der Mutter gelang es, mit den drei Töchtern nach Damaskus zu kommen, wo man sie in einem überfüllten Flüchtlingslager aufnahm.

Aziza, die 16-jährige Tochter der Nachbarn, musste sich prostituieren, damit ihre Familie nicht verhungerte. Djamilas Familie blieb diese Schmach erspart, denn die Mutter fand Arbeit als Hilfskrankenschwester. Ihr Fluchtziel war Södertälje in Schweden, wo ein Onkel lebt. Weil das Geld zunächst nur für eine Person reichte, schickte die Mutter Djamila los.
Djamila ist erst einmal in Wien gestrandet.

Dort erreichen sie nach einiger Zeit gute Nachrichten: Der Vater wurde im Irak freigelassen und ist unterwegs nach Damaskus, und der Onkel in Södertälje bemüht sich darum, die ganze Familie nach Schweden zu holen.

Djaafar Kalakani

Nachdem ich vom Mittagessen und von Pitras Curry noch ziemlich angefüllt bin, begnüge ich mich heute damit, Freund Djaafar ein wenig von seinem Salat zu rauben. Djaafar Kalakani kann zumindest nicht lautstark protestieren, denn man hat ihm in seiner Heimat Afghanistan die Sprache aus dem Leib geschlagen, gründlich und Wort für Wort.

Djaafars Familie legte in Afghanistan alles Geld zusammen, um Schlepper bezahlen zu können, die den Jungen auf den Weg zu einem in Belgien lebenden Onkel bringen sollten. Der letzte der Männer, die ihn nach Westen transportierten, setzte ihn nachts in einem Wald aus.

Belgique? Jaja, Belgique antwortete der und scheuchte ihn weg wie eine lästige Fliege.
Djaafar hielt […] jedem, der ihm begegnete, seinen Zettel mit der Adresse seines Onkels in Liège unter die Nase, doch die meisten verstanden nicht, was er wollte, oder reagierten mit Worten, die er nicht verstand. Erst als er von der Polizei ins Lager gebracht wurde und dort auf Landsleute und andere des Persischen mächtige Menschen stieß, wurde er darüber aufgeklärt, dass er sich nicht hinter belgischem, sondern hinter österreichischem Stacheldraht befinde.

Nachdem die Post Djaafar einen negativen Asylbescheid zweiter Instanz zugestellt hat, kommt die Fremdenpolizei ins Asylantenheim, und er muss seine Sachen packen.

Murad Magomazov

Murad Magomazov stammt aus Tschetschenien und ist angeblich 16 Jahre alt. Als er im Asylantenheim ein Zimmer zugeteilt bekommt, in dem auch die beiden Afroamerikaner Ali und Yaya untergebracht sind, protestiert er.

Die Neger, sagt er dann trotzig, warum muss ich mit zwei Negern im Zimmer sein?

Und als die Betreuerin Mirela („Mira“) Obranović erklärt, hier dulde man keinen Rassismus, meint Murad, sie sei eine Frau und habe ihm deshalb gar nichts zu sagen.

Einige Zeit später hält er Nino Bakuradze drei Hemden zum Bügeln hin, und als die Georgierin ihn zunächst verständnislos anblickt und dann zurückweist, versucht er es bei Amal Mbowe und bietet ihr drei Euro dafür. Da schreitet Ali ein:

Murad Magomazov, sage ich so leise, dass nur er mich hören kann, ich warne dich: Wer andere schickt ans Bügelbrett, der kommt dafür aufs Prügelbett.

Nino Bakuradze

Die 15-jährige Nino Bakuradze stammt aus Georgien.

Drei Monate lang treibt sie sich mit Abu-Bakr al Kamal herum, der ebenso wie sie zu den UMF im Asylheim gehört.

Nachdem sie sich von ihm getrennt hat, merkt sie, dass sie schwanger ist. ihre Mutter war bei Ninos Geburt auch erst 16 Jahre alt. Einen Vater hat sie nie gekannt, und ob die Mutter noch lebt, weiß sie nicht.

Die Betreuerin Mira redet mit ihr über die Möglichkeit einer Abtreibung. Es sei nicht leicht, als Jugendliche allein ein Kind großzuziehen, sagt Mira, und als Asylbewerberin werde sie es doppelt schwer haben. Am Ende entscheidet sich Nino für das Kind – ebenso wie Mira es bei ihrer Tochter Alenka getan hatte.

Nino trägt immer noch die Frucht eines kurzen, lustvollen Augenblicks im Leibe und hat sich entschlossen, die Konsequenzen dieses Augenblicks ein Leben lang zu tragen.

Familie Dolas

Gülertan und Halima Dolas aus einem kurdischen Dorf in Anatolien wohnen mit ihren fünf Kindern im Asylantenheim.

Im Morgengrauen, während Halima Dolas bereits arbeiten gegangen ist, holt die Fremdenpolizei ihren Mann und drei der Kinder ab. Sie sollen in die Türkei abgeschoben werden.

Maria Nicoleta Cubreacov

Ali beobachtet, wie Nicoleta von einem Fremden Mitte 40 belästigt wird. Sie eilt auf ihr Zimmer. Ali geht den Mann an. Der hat den Printout eines Fotos von Nicoleta bei einer Fellatio in der Hand. Das Internet sei voll mit Bildern von ihr, sagt er, und er habe sie nur gefragt, wie viel sie für einmal Blasen verlange.

Nachdem Ali den Widerling davongejagt hat, geht er ins Internet und findet dort tatsächlich eine Serie pornografischer Fotos mit Nicoleta. Er forscht weiter nach.

Maria Nicoleta Cubreacov wurde am 23. März 1989 in Chișinău geboren. Der Ort gehörte damals noch zur Sowjetunion und ist heute die Hauptstadt der Republik Moldau. 1992 zog die alleinerziehende Mutter, eine Krankenschwester, mit Nicoleta und deren Bruder nach Tiraspol in Transnistrien, wo Nicoleta später auch zur Schule ging, ohne einen Abschluss zu machen. Als Nicoleta fünf Jahre alt war, verlor die alkoholkranke Mutter die Anstellung und infolgedessen auch die Dienstwohnung. Die Behörden brachten Nicoleta und ihren Bruder in verschiedenen Heimen unter.

Zehn Jahre später wurde Nicoleta von Männern angesprochen, die vor dem Heim herumlungerten. Man bot ihr und ihrer Freundin Timea an, sie nach Italien zu bringen und ihnen Arbeit als Kellnerinnen zu besorgen. Mit wechselnden Autos und Fahrern überquerten sie Grenzen und glaubten schließlich, Italien erreicht zu haben. Erst später erfuhren sie, dass es sich um Serbien handelte. Nicoleta und Timea wurden in Niš zur Prostitution gezwungen, und von ihren Einnahmen durften sie nichts behalten. Sie müssten die Kosten für die Reise, die falschen Papiere, Kost und Logis abarbeiten, hieß es. Drei Tage lang wurden die Mädchen in verschiedenen Posen nackt fotografiert.

Nach acht Monaten gelang es Nicoleta, einen österreichischen Fernfahrer, der von Istanbul nach Wien unterwegs war und in Niš seinen 43. Geburtstag feierte, zu überreden, sie mitzunehmen. In der Schlafkabine seines Sattelschleppers meinte Kurt: „Du bist mei Geburtstagsgeschenk!“ Immerhin schmuggelte er sie nach Österreich, wo sie einen Asylantrag gestellt hat.

Gjergi Halimi

Der 48 Jahre alte Asylant Gjergi Halimi aus dem Kosovo stirbt.

Beim Begräbnis lernt Ali Gjergis Freund Egzon Bokshi kennen. Der kam zu spät, um Gjergi mitzuteilen, dass kürzlich ein Massengrab ausgehoben wurde und man unter den Toten Gjergis vermisste Familienangehörige identifiziert habe: seine Frau Fatmire und die Tochter Afërdita.

Am Tag der Beerdigung trifft ein positiver Asylbescheid für Gjergi Halimi ein.

Mirela („Mira“) Obranović

Mirela („Mira“) Obranović gehört zum Betreuerteam im Asylantenheim.

Um mehr über sie herauszufinden, folgt Ali ihr unbemerkt, als sie nach Hause fährt.

Ich warte hinter einer Litfaßsäule und schwinge mich im letzten Augenblick auf das Achterdeck der roten Tram, Mira findet ganz vorne einen Sitzplatz, ich ganz hinten. Die füllige Erscheinung, neben die ich mich setze, man sieht es gleich, ist Mutter eines Manta-Fahrers, Großmutter zweier verzogener Gören, ihre Lieblingslektüre heißt Neue Post, die Lieblingsbeschäftigung ist Nachbarn beobachten. Sie wirft mir einen abschätzigen Blick zu und rückt demonstrativ zur Seite. Ich beiße nicht sehr fest, sage ich beschwichtigend zu ihr, es tut normalerweise nicht wirklich weh. Die Doppelkinnlade fällt herunter, der Mund öffnet sich zu einem Kommentar, doch es fehlen ihr die Worte, ich habe ihr die Sprache verschlagen.
[…]
Guten Tag, die Fahrausweise bitte, tönt es […] durch den Wagen. Zwei Kontrolleure walten ihres Amtes, langsam nähert sich einer der beiden der letzten Sitzreihe, links von mir kann ich die Vorfreude der Manta-Fahrer-Mutter richtig spüren: Jetzt erwischen’s ihn, den frechen Neger, steht in deutlichen Lettern, Times New Roman, 20 Punkt, auf ihrer Stirn geschrieben. Ich krame in meinen Taschen, links, rechts, vorne, hinten. Na komm, denke ich mir, sag schon was, mach irgendeine rassistische Bemerkung, Na, hat der Bimbo keinen Fahrschein, zum Beispiel, oder Für Drogen habt ihr Geld, aber für Fahrscheine nicht, oder nenn‘ mich einfach Nigger, das ist auch okay. Aber nein, der Mann wartet geduldig, und als ich endlich meine Monatskarte präsentiere, die mir und allen anderen jugendlichen Flüchtlingen der Manta-Fahrer und die Manta-Fahrer-Mutter von ihren Steuergeldern gekauft haben, bedankt sich Schwarzkäppchen höflich und geht zur nächsten Sitzreihe weiter.

Ali observiert sie weiter, als sie mit ihrer elfjährigen Tochter Alenka in einem Restaurant isst.

Was machst du da, fragt plötzlich eine Stimme neben mir. Ich drehe mich um, ein weißer Mann starrt mich an. Was du machen, fragt er erneut mit bierschwangeren Worten. Was ich machen? Ja, was du machen? Ich lege den Finger auf die Lippen. Pst, flüstere ich, nicht so laut. Was, wieso, fragt er verwirrt. Ich sein Moslem, lasse ich ihn wissen. Ja … was? Das heißt, ich planen Anschlag, wie alle Moslem. Er duckt sich, als hörte er schon das Krachen der Bomben. Furchtbares Anschlag, mit furchtbar viel Tote, flüstere ich. Er blickt mich mit großen Augen an. Aber du … du bist doch schwarz. Bingobongo, bestätige ich. Aber … wie kannst du dann Moslem sein? Du meinen, Schwarze machen Handel mit Drogen, Moslem machen Anschlag? Sein Blick erhellt sich. Ja, genau, ganz genau! Ich ziehe ihn ein wenig weiter weg von Miras Tisch. Schwarzer Moslem noch viel gefährlicher wie weißer Moslem, kläre ich ihn auf. Schwarzer Moslem macht alle tot, mit Drogen oder mit Anschlag, ist ganz egal. Große Besorgnis macht sich auf seinem Gesicht breit.

Auf dem Naschmarkt trifft Mira sich mit ihrem Lebensgefährten Lukas Neuner, der im Asylantenheim Unterricht gibt. Ali hört, wie Lukas Neuner sie fragt, warum sie sich als Jugoslawien betrachte. Der Balkanstaat sei doch längst zerbrochen.

Mein Vater kam aus Bosnien, meine Mutter war Kroatin mit mazedonischen Vorfahren, mein Ehemann ein Serbe, ich habe in Beograd, Zagreb und Sarajevo gelebt – was bin ich sonst, wenn nicht Jugoslawin?

Ihr Ehemann Mladko Obranović musste nach vier Ehejahren in den Krieg und gilt seit elf Jahren als vermisst. Nach der Flucht lebte die Lehrerin zunächst monatelang mit Alenka in einem zum Auffanglager umfunktionierten Fabrikgebäude in Wien. Weil ihre Diplome nicht anerkannt wurden, konnte sie nicht in ihrem Beruf arbeiten, sondern musse putzen gehen.

Dieser idiotische Krieg, bricht es plötzlich aus Mira hervor, hätte es diesen blöden Krieg nicht gegeben, wäre ich heute noch in Sarajevo, und ich wäre wahrscheinlich immer noch mit Mladko verheiratet. Wir kannten uns, seit wir beide zwölf waren, mit sechzehn waren wir ein Paar, mit zwanzig haben wir geheiratet.

Unerwartet taucht Mladko eines Tages wieder auf. Erst jetzt erfährt er von der Tochter und Mira gesteht, dass sie nicht sicher ist, ob er Alenkas Vater ist.

Mira ist zwar bereit, die Ehe zum Schein weiterzuführen, damit Mladko in Österreich bleiben darf, aber nach einer Weile verschwindet er wieder. Bereits zuvor hat Mira sich auch von Lukas getrennt.

Sommercamp

Die jugendlichen Asylbewerber dürfen nach Kärnten in ein Sommercamp fahren.

Der Busfahrer Alfred ärgert sich unterwegs über den Fahrer eines Pkws und schimpft über den „Scheiß-Pollacken“.

A Freind von mir, beginnt er [dem Betreuer Odo Enkel] zu erzählen, offensichtlich inspiriert von so vielen exotischen Gesichtern, der woa amoi mit ana Negerin zsamm, i waaß eh, des sagt ma net, aber i bin da net so haglich. Liab woas jedenfois, fesch woas und a Figur wiera Ansa. Und beim Tanzen, i sag das, wannst dera zuagschaut hast … waaßt eh, die ham des anfoch im Bluat. Owa mei Hawara, noch zwaa Monat woar der fertig, total fertig woa der. Waaßt warum? Nein, entgegnet der Onkel, aber es interessiert mich auch nich‘. Doch Alfred interessiert wiederum des Onkels fehlendes Interesse nicht. Weu die Oide anfoch net zum davögeln war, fährt er ungebremst fort. No amoi, Schatzi, hat’s zum Hawara gsagt, no amoi, du machst des sooo super, dreimoi, viermoi, fünfmoi, bis von eam nix mehr da woa, gar nix mehr. Der hat ausgschaut zum Schluss, bist du gelähmt! Ringe unter die Augen, eingfallene Wangen, zehn Kilo weniger, wia der Itzig nach drei Jahr in Auschwitz. Aus, hat er gsagt, Schluss, und sie hat gwaant, oba a Wochen späda hots scho an neichn Hawara ghobt, waaßt eh, wias san.

Bitte, sagt er dann, i muass ja net reden, i kriag ja net fias Reden zoit, sondern fias Foan. Ob i red oder net, die Marie is die gleiche, oba i bin halt a höflicher Mensch. Small Talk, durchs Reden kumman d’Leit zsamm, hat mei Mutter immer gsagt. Owa bitte, muass ja net sein, ma wü ja eh net mit alle Leit zsammkumman.

Ali Idaulambo (2. Teil)

Ali will Djaafar Kalakani und Gülertan Dolas aus dem Polizeigefängnis befreien.

Öffnet die Tür, rufe ich dem Mann in Uniform, der uns den Weg versperrt, mit Donnerstimme zu, ich bin Djibrail, ich bin gekommen, um den Frevel zu beenden und Gerechtigkeit zu bringen! Ich bin Djibrail, ich biete Schutz für die, die des Schutzes bedürfen, und bringe den Tod jenen, die ihn verdienen! […] Beim Schall meiner Worte fällt der Uniformierte betäubt zu Boden und bleibt mit dem Gesicht nach unten liegen, die Tür öffnet sich von allein.

Als Ali die Augen öffnet, beugen sich ein Arzt und eine Krankenschwester über ihn. Er liegt im Krankenhaus. Er sei auf der Straße zusammengebrochen, heißt es. Wo die Befreiten seien, fragt Ali seine Besucher aus der Asylantenunterkunft, aber sie sehen ihn nur irritiert an.

Die Ärzte diagnostizieren bei Ali eine Dissoziative Identitätsstörung als Reaktion auf mehrfache Traumatisierung, verbunden mit einer offenbar genetisch bedingten Hypomanie. Und Frau Dr. Erzsébet Bathory macht eine Psychodynamisch-Imaginative Trauma-Therapie mit ihm.

Nino besucht ihn. Ali erschrickt, denn ihr Schwangerschaftsbauch ist verschwunden. Ob sie das Ungeborene verloren habe, fragt er besorgt. Verwundert antwortet Nino, nein, Ilarion habe sie im Asylantenheim gelassen, Nicoleta passe auf den Säugling auf.

Ilarion? Was soll das heißen? Vorige Woche warst du doch gerade noch im fünften Monat schwanger, willst du mich auf den Arm nehmen? Nino blickt mich an, als käme ich von Mond oder Mars. Ich belasse es dabei und befrage sie nicht weiter, es ist mir peinlich, aber mir wird schmerzlich bewusst, dass ich offenbar wirklich der einzig normale Mensch in einer Welt voller Verrückter bin.

Nach der Entlassung aus der Klinik glaubt Ali, drei Wochen lang dort gewesen zu sein, aber im Asylantenheim tun alle so, als sei er mehrere Monate fort gewesen.

Ali beschließt, den neuen Innenminister zu entführen, ein Fernsehstudio während der Abendnachrichten zu stürmen, die Bedingungen für die Freilassung in die Kameras zu diktieren und zu einem Streik aufzurufen.

Unvermittelt stehen drei Frauen in der Tür. Die Älteste stürzt auf ihn zu, ruft „Tamim“ und fällt ihm um den Hals. Ob er seine eigene Mutter nicht mehr erkenne, fragt die Frau bestürzt.

Ich verschwinde rasch, bevor ich noch völlig von anderer Leute Wahnvorstellungen angesteckt werde.

Epilog

Und dann kommen sie und holen uns. Sie treiben uns im Erdgeschoss zusammen, sie durchsuchen jeden Winkel des Hauses vom Keller bis zum Dach, um nur ja niemanden zu übersehen […].

Ali und die anderen Flüchtlinge werden in eine Straßenbahn getrieben, geknebelt und angekettet. Der Mob ist entfesselt. Mira und Alenka werden erschlagen. Ihre Leichen zerfallen zu Staub.

[…] Mira und Alenka machen sich auf ihre letzte Reise, bald haben sie ihr Ziel am äußeren Ende der Milchstraße erreicht, als rötlich funkelndes Sternbild Mater et Filia beherrschen sie von nun an den südlichen Nachthimmel, eng aneinandergeschmiegt sitzen sie da, und nichts und niemand kann die beiden je wieder entzweien.

Verwesungsgestank mischt sich mit dem Geruch von Punsch und Glühwein. Stille Nacht, Heilige Nacht, dröhnt es aus Lautsprechern in der ganzen Stadt, Stille Nacht, Heilige Nacht, grölt es aus Tausenden Kehlen, während die Straßenbahn im Kreis herumfährt.

Mein Fahrer, salutiert ein Uniformierter vor dem Steuermann, nachdem die Meute verschwunden ist und sich nichts mehr regt, ich melde gehorsamst, die Straßenbahn ist ausländerfrei.

Nino versucht zu entkommen.

Rotkäppchen ist schnell, doch der Wolf ist schneller, er ereilt sie hinter den Sieben Bergen, er bringt sie zur wartenden Großmutter. Du kommst spät, tadelt ihn die Frau mit dem Kopftuch, er krümmt sich in Erwartung der Schläge, die da fallen werden, jetzt geh’ und hol’ meine Söhne, du Nichtsnutz, befiehlt sie, und fort eilt der Wolf. Großmutter, warum hast du so große Augen, fragt Nino derweilen. Damit ich dich besser sehen kann, wenn meine Söhne dich quälen. Großmutter, warum hast du so große Ohren? Damit ich dich besser hören kann, wenn du um Gnade winselst. Großmutter, warum hast du eine so große Nase? Damit ich besser riechen kann, wie du dir vor Angst in die Hose machst. Großmutter, warum hast du so große Hände? Damit ich besser in deinen Eingeweiden wühlen kann, wenn meine Söhne dich zerhackt haben. Großmutter, warum bist du so gemein zu mir? Weil ich nicht deine Großmutter bin, du kleine Kanakenschlampe.

Die sieben kleinwüchsigen Söhne der alten Frau müssen Nino auf dem Küchentisch foltern. „Volltrottel!“, schreit sie, als die Jungen Nino gefünf- statt gevierteilt haben. „Das bringt Unglück!“, kreischt sie.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Martin Horváth (* 1967) hat einen langen Titel für seinen Debütroman gewählt: „Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten“. Ein Österreicher wie Martin Horváth versteht unter einem Mohr im Hemd eine Süßspeise, einen mit Sahne (Schlagobers) garnierten Schokokuchen. Ebenso wie beim Mohrenkopf gilt die Bezeichnung inzwischen als diskriminierend.

„Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten“ führt uns Schicksale von Asylbewerbern vor Augen. Viele von ihnen sind unvorstellbaren Lebensbedingungen entkommen und von Grausamkeiten traumatisiert. In Wien erhoffen sie sich einen Neuanfang, aber bis zu einer Entscheidung müssen sie bangen, ob sie nicht wieder abgeschoben werden. Und sie werden mit der Xenophobie wenn nicht dem Fremdenhass Einheimischer konfrontiert. Viel Neues über Flüchtlinge erfährt man in „Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten“ nicht, aber Martin Horváth fokussiert auf ein wichtiges Thema.

Dabei zeigt er die Asylanten nicht nur als Opfer, sondern weist auch auf finstere Aspekte hin. In der Wiener Flüchtlingsunterkunft, die im Mittelpunkt des Romans steht, wird gestohlen, und Asylbewerber aus verfeindeten Gebieten fallen hasserfüllt übereinander her.

Bei uns im Haus kann man übrigens wunderbar im Kleinen beobachten, was draußen in der großen weiten Welt zu bewaffneten Auseinandersetzungen und Kriegen führt.

Die Schicksale sind erschütternd, aber Martin Horváth macht daraus keinen deprimierenden Roman, sondern überlässt das Wort einem pikaresken Ich-Erzähler, einem angeblich 15 Jahre alten Afrikaner, der seine Augen und Ohren überall hat und dabei wirkt, als sei er mit übernatürlichen Wahrnehmungsfähigkeiten ausgestattet. Ali fungiert als auktorialer Erzähler und ist zugleich unzuverlässig, nicht zuletzt, weil er selbst traumatisiert ist, von Albträumen heimgesucht wird und nicht immer zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden kann. Wie ein Hofnarr thematisiert er auf clowneske Weise ernste Themen. So wird „Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten“ zum Schelmenroman.

Um eine tiefer gehende Ausleuchtung der zahlreichen Charaktere geht es Martin Horváth nicht; es zählen nur die Geschichten der Romanfiguren. Das passt zum halbwüchsigen Ich-Erzähler.

Ali beherrscht nicht nur 40 Sprachen, sondern erweist sich auch als besonders sprachbewusst. Er liebt es, mit Formulierungen zu jonglieren und beherrscht sowohl Straßenslang als auch Poesie.

Zehn kleine Negerlein, die tanzten Ringelreih’n, sie tanzten durch die Sahara, da waren’s nur noch neun. Neun kleine Negerlein, man sah sie nicht bei Nacht, sie fuhren über’s Mittelmeer, da waren’s nur noch acht. Acht kleine Negerlein, die war’n nun also drüben, doch eines, das ist krank gewor’n, da waren’s nur noch sieben. Sieben kleine Negerlein, die trafen Kommissar Rex, der Kommissar fraß eines auf, da waren’s nur noch sechs. Sechs kleine Negerlein, die stahlen ein Paar Strümpf‘, doch eines ward dabei erwischt, da waren’s nur noch fünf. Fünf kleine Negerlein, die blieben gerne hier, doch eines wurde abgeschob’n, da waren’s nur noch vier. Vier kleine Negerlein, die fühlten sich so frei, doch eines wurde eingesperrt, da waren’s nur noch drei. Drei kleine Negerlein, die kauften sich ein Ei, es reichte nicht für alle aus, da waren’s nur noch zwei. Zwei kleine Negerlein, die waren sich uneins, das eine schlug das andere tot, da gab es nur noch eins. Ein kleines Negerlein, das fiel hinein in‘ Dreck, keiner hat die Hand gereicht, da war es plötzlich weg.

Mira steigt schließlich aus, betritt eine U-Bahn-Station, Eurydike auf dem Weg in die Unterwelt. Als ich, Orpheus, ihr folgen möchte, stellt sich mir Zerberus in den Weg, fletscht seine furchterregenden Zähne, doch nein, es ist nur eine Westfälische Dachsbracke, die kurz ihrer Besitzerin entkommen ist. Ich setze meinen Weg in die Tiefe fort, ein wildes Brausen kommt auf, ein Sturm peitscht mir die Haare ins Gesicht, nur kurz blicke ich Charon in die grausamen Augen, als er mit seinem Silbergefährt herannaht, lang genug jedoch, um von Angst beinahe überwältigt zu werden. Ich zaudere, ich zögere, Tsugfeatab, ertönt der wilde Ruf des Fährmannes, und erst im allerletzten Augenblick fasse ich mir ein Herz und springe auf. Pfeilschnell gleiten wir durch die nächtliche Schattenwelt, und ich bereite mich auf die bevorstehende Begegnung mit Pluto vor, doch der lässt sich nirgendwo blicken. Beim Westbahnhof verlässt Mira-Eurydike das schwankende Gefährt, hinan, hinan geht es über Stufen und rollende Treppen, dem Licht des Tages entgegen, ich Ali-Orpheus bleibe dicht auf ihren Fersen, hoffentlich dreht sie sich nicht um, sonst bin ich verloren …

Im ersten Teil des zunehmend ernsten Romans „Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten“ lässt Martin Horváth den Ich-Erzähler aber auch immer wieder ins Platte, Seichte entgleisen. Zwei Beispiele:

An sich ist es ja vergnüglich, Mädchen beim Fußballspielen zuzusehen. Bälle in den verschiedenen Größen – Orangen, Äpfel, Birnen, manchmal auch Melonen – hüpfen fröhlich über das Spielfeld und wackeln paarweise dem einen Ball hinterher, als Mitspieler oder Gegner hat man von Zeit zu Zeit Gelegenheit zur Tuchfühlung, kurz gesagt – Fußballerinnen und -ballerinen aller Länder, tanzt für mich, høj de møpsen, es lebe der FC Wackelpudding!

Es gibt zwei Köchinnen, Khady aus dem Senegal und Chin aus dem chinesischen Sichuan. Wenn Khady kocht, dann ist die Welt in Ordnung. Zwar ist sie keine Götterköchin wie Pitra, doch man übersteht ihre Kochkünste relativ unbeschadet. Wenn Chin Dienst hat, ist hingegen Vorsicht geboten: Angeblich musste sie wegen ihrer miserablen Kochkünste aus China flüchten, und seit sie hier arbeitet, ist die Anzahl der Hunde im Bezirk signifikant zurückgegangen. Heute ist Chin-Tag, diesmal musste ein Dobermann dran glauben, und wenn sie sparsam mit dem Fleisch umgeht, dann kann sie uns damit auf Wochen hinaus in allen nur erdenklichen Varianten erfreuen. Ich habe aber keine Lust auf süßsauren Dobermann oder Dober Man Wan Tan […].

Martin Horváth fügt dem Hauptteil einen langen surrealen Epilog an, der sein Spiel mit Realitätsebenen übersteigert.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es Martin Horváth mit „Mohr im Hemd oder wie ich auszog, die Welt zu retten“ gelungen ist, ein ebenso ernstes wie brisantes Thema durch einen originellen Ich-Erzähler zugleich ergreifend und unterhaltsam zu gestalten.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Deutsche Verlags-Anstalt

Paul Auster - Die Musik des Zufalls
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