Susanne Kliem : Lügenmeer
Inhaltsangabe
Kritik
Magnus‘ Rückkehr, Februar 2018
In der nordfriesischen Kleinstadt Schwanbek spricht sich rasch herum, dass Magnus Berg nach 19 Jahren zurückgekommen ist. Er wuchs hier auf. Obwohl er beim Abitur hervorragend abgeschnitten hatte, studierte er zunächst nicht, sondern begann auf Falk Priesels Werft eine Ausbildung zum Bootsbauer. Aber als im Oktober 1998 die 18-jährige Emilia („Milla“) Schmied im Hallenbad vom 5-Meter-Turm auf den Kachelboden stürzte, hieß es, er habe sie in den Tod gestoßen. Dass er vom Gericht aus Mangel an Beweisen frei gesprochen wurde, überzeugte viele in Schwanbek nicht von seiner Unschuld. Die Werft kündigte ihm, und wegen der Anfeindungen verließ er seinen Geburtsort.
Magnus studierte Jura, arbeitete dann als Justitiar bei einer Bank und lebte in den letzten zwölf Jahren mit seiner Frau Johanna im Stadtteil Ottensen. Vor vier Jahren bekam das Paar eine Tochter. Sie heißt Merle. Im Februar 2018, nach dem Scheitern seiner Ehe, kauft Magnus sich in Schwanbek eine Neubauwohnung und eröffnet eine Anwaltskanzlei in seiner Heimatstadt. Er will endlich herausfinden, was vor 19 Jahren geschah.
Als er eine Annonce über ein zum Verkauf angebotenes Boot entdeckt und am 26. Februar 2018 zu der angegebenen Adresse zwischen Rodersdorf und Weckendorf fährt, findet er einen maroden Schärenkreuzer auf einem abgelegenen, verdreckten Hof vor, an dessen Bau er damals als Lehrling beteiligt gewesen war. Wie hatte er den Auftraggeber beneidet! Es handelte sich um Berthold Lütjes, den Bademeister des Schwanbeker Hallenbades, der durch eine Erbschaft zu Geld gekommen war. Lütjes wurde allerdings 1998 von Kurdirektor Roland Beckerkamp entlassen, weil der Bademeister angeblich eine gesundheitsschädliche Menge Chlorgas ins Wasser gemischt hatte. Arbeitslosigkeit, Alkohol und Verwahrlosung haben Lütjes schwer zugesetzt, aber er erkennt den Kaufinteressenten und meint: „Ich verkaufe mein Boot nicht an einen Mörder.“
Am Ende kann Magnus den Schärenkreuzer doch haben. Ihn wieder herzurichten, bedeutet sehr viel Arbeit, aber der Anwalt hat noch keine Mandanten und deshalb Zeit. Asgar Thomsen, der Geschäftsführer einer Werft in Schwanbek, erlaubt ihm, das Boot auf dem Gelände abzustellen und instand zu setzen.
Enno und Svenja
Bei der Gerichtsverhandlung vor 19 Jahren sagte Enno Reimers gegen Magnus aus. Er behauptete, Milla sei von Magnus in die Tiefe gestoßen worden. Er habe es gesehen. Inzwischen ist Enno mit Svenja verheiratet, der Tochter des Kurdirektors Roland Beckerkamp. Die beiden haben einen 16-jährigen Sohn namens Lovis, der gerade ein Schuljahr in den USA verbringt. Enno ist jetzt Hafenmeister in der Marina von Schwanbek. Svenja arbeitet als Physiotherapeutin. Jede freie Minute verwendet sie, um nach ihrem seit einem Schlaganfall pflegebedürftigen Vater zu sehen. Dass er eine professionelle Pflegekraft ins Haus holt, lässt sie nicht zu, und am liebsten hätte sie auch die verwitwete Nachbarin Änne Friedrichsen von ihrem Vater ferngehalten.
Als Jugendliche waren Magnus, Milla und Svenja eng befreundet. Das „magische Dreieck“ bildete den Kern einer Clique, der auch Björn und Enno angehörten.
Enno ist nach wie vor von Magnus‘ Schuld überzeugt und will verhindern, dass der ehemalige Freund Svenja durch Fragen an Millas Tod erinnert, der sie damals so aufwühlte, dass sie zwei Monate lang psychiatrisch behandelt werden musste.
Annik
In Mechthild Wagemanns Buchhandlung trifft Magnus deren Nichte Annik Voigt an, die früher die Schulferien in Schwanbek verbrachte und ihrer allein stehenden Tante half. Sie ist drei Jahre jünger als Magnus. Seit einem halben Jahr – seit der Trennung von ihrem gewalttätigen Ehemann – assistiert Annik der unheilbar an Krebs erkrankten Buchhändlerin. Mechthild möchte, dass Annik den Laden nach ihrem Tod weiterführt.
Beim Aufräumen findet Annik einen Brief, den Svenjas Mutter Karin Beckerkamp am 15. Dezember 1987, kurz vor ihrem Tod, an Mechthild Wagemann schrieb. Darin bat sie ihre engste Freundin, auf Svenja aufzupassen und erwähnt ein Geheimnis, von dem ihre Tochter nichts erfahren dürfe. Annik lässt ihrer Tante keine Ruhe, bis diese ihr anvertraut, dass Svenja als Kind von ihrem Vater missbraucht wurde und Karin das herausfand, ihn aber nicht anzeigte, weil sie sich finanziell abhängig von ihm fühlte.
Im Hallenbad, 14. März 2018
Magnus wundert sich, als er Svenjas markant lackiertes Fahrrad vor dem seit vielen Jahren geschlossenen und inzwischen völlig verfallenen Hallenbad in Schwanbek entdeckt. Der Hintereingang ist unverschlossen. Svenja kauert im leeren Becken neben einem Haufen Glasscherben. Niemand wusste bisher, dass sie sich immer wieder in die Ruine zurückzieht.
Erinnert sie sich daran, wie Milla ums Leben kam? Weil sie seine Fragen nicht beantwortet, kommt Magnus auf die Idee, mit ihr auf den 5-Meter-Turm zu klettern. Er hofft, dass sie unmittelbar am Ort des Geschehens mit den verdrängten Bildern von damals konfrontiert wird und sich eingesteht, was sie am 24. Oktober 1998 wahrnahm.
Obwohl Svenja unter Höhenangst leidet, folgt sie seiner Aufforderung.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Oktober 1998
Weil Annik, von Milla provoziert („wetten, du traust dich nicht“), am 9. Oktober 1998 vom abgesperrten 5-Meter-Turm des Hallenbades sprang und Milla mit abgelegtem Bikini-Oberteil eine Show abzog, um die Aufmerksamkeit von Enno, Björn und Magnus wieder auf sich zu ziehen, erteilt der Bademeister Berthold Lütjes der 18-jährigen aufmüpfigen Pfarrerstochter für den Rest der Saison ein Hausverbot.
Trotz des Hausverbots kommt Milla auf die Idee, Svenjas 18. Geburtstag am 24. Oktober mit einer nächtlichen Party der Clique im Hallenbad zu feiern. Sie weiß, dass die Tochter des Kurdirektors an einen Generalschlüssel herankommt.
Ein paar Stunden vor der geplanten Geburtstagsfeier geraten Milla und Magnus nach dem Besuch eines Feuerwehrfestes in Streit. Das rebellische Biest provoziert den Freund so lange, bis er die Kontrolle verliert und zuschlägt. Als Milla dann mit Svenja Getränke ins Hallenbad trägt und Kerzen aufstellt, berichtet sie ihr, dass sie sich von Magnus getrennt habe. Gleich darauf fällt der silberne Anhänger einer unter Svenjas T-Shirt verborgenen Halskette zu Boden. Es handelt sich um ein Geschenk von Magnus für Milla, die glaubte, es verloren zu haben. Damit endet auch die Freundschaft der beiden Mädchen.
Weil Björn und Enno bei der Geburtstagsfeier nur Augen für Annik haben, schleicht Svenja unbemerkt hinaus, öffnet mit dem Generalschlüssel den Raum mit der Chlorgas-Anlage und dreht die Ventile weiter auf. Die Party wird bald vorbei sein, denn das Gift wird nicht nur die Augen tränen lassen, sondern außerdem Übelkeit und Kopfschmerzen verursachen.
Als Svenja ins Bad zurückkommt, droht Milla, auf den Sprungturm zu klettern und von dort oben eine Ansprache zu halten, die den anderen die Augen über die Diebin öffnen soll. Rasch klettert sie nach oben und ruft: „Hey! Alle mal herhören! Ich muss euch was erzählen! Über unsere liebe, gute Svenja!“ Trotz ihrer Höhenangst folgt Svenja der ehemaligen Freundin, um sie am Weiterreden zu hindern. Auf der Plattform wird ihr übel und sie stöhnt: „Milla, hilf mir!“ Verzweifelt greift sie nach Milla, die daraufhin ihrerseits um Hilfe schreit.
Magnus, der sich mit Björn und Enno um Annik gekümmert hat, die sich übergeben musste, eilt zum 5-Meter-Turm und klettert nach oben. Er ignoriert Milla und kümmert sich um Svenja. Milla schickt sich an, wieder nach unten zu klettern, aber plötzlich ist Svenja über ihr, und Magnus taucht hinter Svenja auf. Milla findet keinen Halt, kippt nach hinten, rudert mit den Armen, greift nach Magnus‘ ausgestreckter Hand, fasst jedoch ins Leere und stürzt in die Tiefe.
Auf dem Sprungturm, 14. März 2018
Annik kommt ins Hallenbad. Sie klettert zu Magnus und Svenja hinauf.
Svenja rechnet damit, dass Magnus gleich anfangen wird, Annik zu berichten, was er soeben von ihr über die Ursache von Millas tödlichem Sturz erfahren hat. Die Situation kommt ihr wie die damalige vor: Svenja will verhindern, dass schlecht über sie geredet wird. Sie tritt an die Absprungkante und lässt sich fallen.
27. März 2018
Eine Pflegerin schiebt Roland Beckerkamp mit dem Rollstuhl, damit er an der Beisetzung seiner Tochter teilnehmen kann.
Magnus erzählt Annik, dass er seine Kanzlei nach Kiel verlegen, aber die Wohnung in Schwanbek behalten werde. Sie vertraut ihm an, dass Svenja als Kind von ihrem Vater missbraucht wurde. Die beiden beschließen, Roland Beckerkamp mit dem Vorwurf zu konfrontieren und fahren hin. Die Haustüre steht offen. Die Nachbarin Änne Friedrichsen, die über einen Zweitschlüssel verfügt, kommt heraus und ruft: „Er ist tot. Er hat Tabletten genommen. Ich habe ihn gefunden. Gerade eben.“
Epilog
Bald darauf stirbt Mechthild Wagemann im Hospiz.
Enno unterstellt Magnus, nicht nur Milla vom Turm gestoßen, sondern nun auch Svenja in den Selbstmord getrieben zu haben. Hasserfüllt versucht der Hafenmeister zu verhindern, dass Magnus einen Liegeplatz für seinen Schärenkreuzer bekommt, aber der Rechtsanwalt setzt sich mit juristischen Mitteln durch.
Und Annik, die ihre von der Tante geerbte Buchhandlung in Schwanbek gründlich renoviert hat, begleitet Magnus bei seinen ersten Törns.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Der Kriminalroman „Lügenmeer“ von Susanne Kliem spielt im Frühjahr 2018 in der fiktiven nordfriesischen Kleinstadt Schwanbek, aber es gibt noch eine zweite Zeitebene, denn Magnus und Svenja kommen nicht los von den Erinnerungen an die Party zu Svenjas 18. Geburtstag am 24. Oktober 1998, die mit dem Tod ihrer gemeinsamen Freundin Milla endete. Magnus musste seinen Geburtsort verlassen, weil man ihn für schuldig hielt, obwohl ihn ein Gericht aus Mangel an Beweisen freisprach. Nach 19 Jahren kehrt er zurück nach Schwanbek, um endlich herauszufinden, was damals geschah.
Die Aufklärung, die sich im Verlauf der Lektüre zunächst andeutet und dann immer deutlicher abzeichnet, sorgt für Spannung. Susanne Kliem geht es in „Lügenmeer“ nicht darum, Leserinnen und Leser durch Action außer Atem zu bringen oder durch spektakuläre Bluttaten zu fesseln. Stattdessen kommt es ihr auf das Beziehungsgeflecht der Romanfiguren an, auf Konflikte und Manipulationen, Lügen und Intrigen, Traumen, Verdrängungen und andere psychische Fehlentwicklungen. Dementsprechend arbeitet sie die Beweggründe der Handelnden heraus und vermeidet dabei Effekthascherei.
Zunächst hin und wieder, dann immer hektischer blendet Susanne Kliem in „Lügenmeer“ auf die fatale Ereigniskette von 1998 zurück. Sie wechselt nicht nur zwischen den beiden Zeitebenen, sondern auch zwischen den sich gegenseitig widersprechenden, zugleich ergänzenden Perspektiven von Magnus, Svenja, Annik und Milla.
Weil Susanne Kliem das Geschehen anschaulich inszeniert, entstehen beim Lesen Bilder wie in einem Film, und man sieht beispielsweise das längst geschlossene, verwahrloste Hallenbad mit seiner gruseligen Atmosphäre vor sich.
In der folgenden Textpassage sitzt übrigens nicht Svenja, sondern Annik neben Mechthild:
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Mechthilds Blick wanderte zu den fadenscheinigen Hausschuhen an Anniks Füßen. „Woher hast du denn die alten Dinger? Ich bring es nicht übers Herz, sie wegzuwerfen. Sie haben mal Karin gehört.“
Svenja setzte sich wieder zu ihr aufs Sofa. „Wie war das eigentlich, ist sie ganz plötzlich gestorben? Ich kann mich gar nicht mehr erinnern.“
„Du und Svenja, ihr wart ja noch Kinder“, sagte Mechthild.
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © C. Bertelsmann Verlag