Dennis Lehane : Der Abgrund in dir
Inhaltsangabe
Kritik
Rachel 1977 – 2010
Rachel wird 1977 in Massachusetts als Tochter der Psychologin und späteren Bestsellerautorin Dr. Elizabeth Childs geboren. Von ihrem Vater weiß sie nur, dass er wie ihre Mutter an einem College unterrichtete und James hieß, denn als er Elizabeth verließ, war Rachel erst drei Jahre alt. Rachel hat gerade mit dem Studium am College begonnen, als ihre Mutter an einer Kreuzung ein Rotlicht übersieht, mit einem Tanklaster kollidiert und dabei ums Leben kommt.
Elizabeth weigerte sich stets, ihrer Tochter mehr über den Vater zu erzählen. Nach ihrem Tod sucht Rachel einen Privatdetektiv auf, der nach James suchen soll. Aber Brian Delacroix rät ihr davon ab und nimmt den Auftrag nicht an. Solange sie nicht mehr als den Vornamen kenne, sagt er, gebe es keine Chance, ihn zu finden.
Nach dem Studium beginnt Rachel eine Karriere als Journalistin, zunächst bei Lokalzeitungen, dann beim Boston Globe und schließlich beim Fernsehen.
2007 nimmt Dr. Felix Browner Kontakt mit ihr auf. Er sei der Gynäkologe ihrer Mutter gewesen, behauptet er, und kenne den Namen ihres Vaters. Rachel findet rasch heraus, dass dem Arzt 2006 ein Berufsverbot auferlegt worden ist, weil er mehrere Patientinnen sexuell genötigt haben soll. Trotzdem verabredet sie sich mit Browner, und er schlägt ihr einen Deal vor: Er will ihr sagen, wer ihr Vater war, sobald ein Zeitungsartikel erschienen ist, in dem sie Zweifel an den Anschuldigungen der Frauen sät. Zum zweiten Treffen bringt Rachel den Text eines noch unveröffentlichten Zeitungsartikels mit. Browner ist entsetzt, als er ihn überfliegt, denn statt die Glaubwürdigkeit der Zeuginnen zu untergraben, porträtiert Rachel ihn als drogen- und alkoholabhängigen Vergewaltiger, der versuchte, eine Journalistin zu erpressen. Mit der Drohung, den Artikel im Boston Globe zu veröffentlichen, zwingt Rachel den Arzt, ihr den Namen ihres Vaters zu nennen und erfährt, dass es sich bei James um den Nachnamen handelt; er heißt Jeremy James.
Rachel recherchiert, dass der 63-Jährige seit 1983 mit der Kuratorin Maureen Widerman verheiratet ist und das Paar zwei Kinder hat: Theo (*1984) und Charlotte (*1986). 1990 wurde Jeremy James Privatdozent für Kunstgeschichte, fünf Jahre später Professor und seit einigen Jahren leitet er das Connecticut College in New London. Rachel ruft bei der Familie in Durham/North Carolina an und fährt dann hin.
Dort erfährt sie, dass Jeremy James zwar drei Jahre lang mit ihrer Mutter zusammenlebte, aber nicht ihr Vater ist. Weil das von Anfang zu ahnen gewesen sei, berichtet er, habe er sich durch Blutproben Gewissheit verschafft. Er wäre zwar bereit gewesen, nach außen den Schein zu wahren, aber Elizabeth verlangte von ihm, sich auch ihr gegenüber privat zu der Vaterschaft zu bekennen. Das brachte ihn schließlich dazu, sie und das Kind zu verlassen. Kurz vorher ging Elizabeth aus dem Haus, nachdem sie noch einmal mit ihm geschlafen hatte und kehrte dann mit Verletzungen zurück. Bei der Polizei gab sie an, man habe sie vergewaltigt. Inzwischen ist er überzeugt, dass sie sich absichtlich schlagen ließ, denn sie drohte ihm, ihn als Vergewaltiger anzuzeigen, falls er versuchen würde, mit Rachel Kontakt aufzunehmen.
In der Hinterlassenschaft ihrer Mutter entdeckt Rachel zwei Fotos aus dem Jahr 1976. Sie zeigen Elizabeth mit Freunden in Milo’s Bar in East Balimore. Jeremy James findet heraus, wer die anderen Gäste waren, aber keiner der Männer kommt als Rachels Vater in Frage. Daraufhin vermutet Rachel, dass es sich bei dem ebenfalls abgebildeten Barkeeper um ihren Vater handelt. Milo erinnert sich an ihn, er hieß Leeland („Lee“) David Grayson – und starb im Dezember 2004 im Alter von 54 Jahren.
Rachel 2010
Nach dem schweren Erdbeben im Januar 2010 berichtet Rachel für die großen Fernsehsender an der Ostküste aus Haiti, zunächst aus Port-au-Prince, dann fährt sie zum Epizentrum Léogâne. Dort herrscht ein Chaos, das eine Bande von einem halben Dutzend Männern dazu nutzt, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen. Rachel ist mit der elfjährigen Haitianerin Wildelene („Widdy“) Jean-Calixte zusammen. Das Kind meint, es wäre besser, sie würde sich den Männern zeigen, denn wenn diese nach einer längeren Suche zornig seien, drohe ihr nicht nur eine Vergewaltigung, sondern der Tod. Aber Rachel überredet Widdy, sich mit ihr zu verstecken. Im Morgengrauen werden sie von den Männern entdeckt. Diese wagen es zwar nicht, der amerikanischen Journalistin etwas anzutun, aber sie zerren Widdy weg, und ihr Anführer Josué Dacelus zwingt Rachel dazu, laut zu sagen, dass sie am Leben bleiben wolle. Deshalb fühlt sie sich von da an schuldig an Widdys Vergewaltigung und Ermordung.
Als Rachels Berichte aus Haiti immer bitterer werden, zieht die Redaktion sie ab, aber als im November desselben Jahres ein Hurrikan schwere Schäden auf Haiti verursacht, schickt man Rachel erneut hin. Bei einer Live-Schaltung erleidet sie jedoch einen Nervenzusammenbruch vor der Kamera und wird gefeuert.
Brian und Rachel 2011 – 2014
Ein Jahr nach der Entlassung wird ihre Ehe mit einem ehrgeizigen Fernsehproduzenten geschieden.
Am selben Tag trifft sie Brian Delacroix in Boston wieder. Er sei nur vorübergehend Privatdetektiv gewesen, sagt er. Seit Jahren leite er das internationale Geschäft des kanadischen Holzhandels-Familienunternehmens Delacroix Timber Ltd.
Brian und Rachel verlieben sich und ziehen zusammen. Zur Hochzeit lädt Brian niemanden aus seiner Familie ein und erklärt es Rachel mit einem Zerwürfnis. Seine Beziehungen zur Familie seien nur noch geschäftlicher Art.
Seit 2001 leidet Rachel unter Panikattacken, und seit den schrecklichen Erlebnissen auf Haiti folgen sie in kürzeren Abständen aufeinander. Dass sie während der häufigen langen Auslandsreisen ihres Mannes allein ist, macht es noch schwerer für sie. Nachdem sie sich eineinhalb Jahre lang kaum noch aus der Wohnung wagte, bringt er sie eines Tages geduldig dazu, mit ihm U-Bahn zu fahren und durch ein Einkaufszentrum zu gehen. So hilft er ihr auch, ihr Selbstwertgefühl zurückzugewinnen.
Während sie Brian im Mai 2014 in London glaubt, sieht sie zufällig, wie er aus dem Hancock Tower in Boston kommt und mit einem SUV wegfährt.
Brian erzählte ihr einmal von einem Doppelgänger – Scott Pfeiffer aus Grafton/Vermont -, der als Pizzabote arbeitete, um sein Studium an der Johnson-&-Wales-University in Providence/Rhode Island zu finanzieren, während Brian an der renommierten Brown University studierte. Aber Rachel glaubt nicht, dass sie ihren Mann mit Scott Pfeiffer verwechselte.
Nach Brians Rückkehr findet sie in seinen Taschen unter anderem ein Flugticket, eine Magnetkarte des Hotels Covent Garden in London und einen Kassenzettel aus London mit dem Datum 05/09/14. Es dauert einige Zeit, bis ihr auffällt, dass man das Datum im United Kingdom anders geschrieben hätte: 09/05/14.
Als Brian behauptet, geschäftlich nach Moskau zu fliegen, folgt Rachel ihm mit einem rechtzeitig bestellten Leihwagen. Wie erwartet, fährt er nicht zum Flughafen. Vor einem Gebäude in Providence stellt er sein Auto auf einen für Alden Minerals Ltd reservierten Parkplatz. Während sie ihm dann weiter folgt, erhält sie eine SMS von ihm, angeblich aus Moskau. Sie beobachtet, wie er Blumen und Champagner kauft, bevor er schließlich von einer offensichtlich schwangeren Frau Mitte 30 an der Haustüre begrüßt wird.
Unter den Darstellern auf der Hülle einer alten VHS-Kassette entdeckt Rachel den Schauspieler Brett Alden, der Brian wie ein Ei dem anderen gleicht. Alden – wie Alden Minerals!
Im Internet recherchiert sie, dass es sich bei Alden Minerals um ein Bergbauunternehmen in Providence handelt, das über eine Goldgrube auf Papua-Neuguinea verfügt. Als Inhaber werden Brian und Nicole Alden genannt. Rachels früherer Kollege Glen O’Donnell findet für sie heraus, dass die unabhängige Beratungsfirma Borgeau Engineering vor zwei Jahren bei einer Prüfung der Mine die Ressourcen auf 400 Millionen Feinunzen schätzte. Trotz Geheimhaltung sickerte das Ergebnis durch, und der Hauptkonkurrent Vitterman Copper & Gold strebt seither eine feindliche Übernahme von Alden Minerals an.
Rachel holt die Pistole ihres Mannes aus dem Versteck. Sie bittet Brians Freund und Partner Caleb Perloff, zu ihr zu kommen. Ihn und seine Ehefrau Haya kennt sie gut. Die beiden haben eine sechs Monate alte Tochter namens Annabelle.
Ein Mal – mehr nicht – waren sie [Rachel und Caleb] einen Moment lang allein miteinander gewesen. Das war, als Brian und sie sich gerade erst kennengelernt hatten. In der Speisekammer der Wohnung eines Freundes von Brian in der Fenway Street. Rachel hatte Oliven geholt, Caleb war, wenn sie sich recht erinnerte, mit einer Packung Cracker herausgekommen, und sie hatten kurz innegehalten, als sie aneinander vorbeigingen. Ihre Augen waren sich begegnet, und einer hatte den Blick gesenkt. Dann wurde eine Art Wettbewerb daraus – wer würde als Erster blinzeln?
„Hi“, hatte sie gesagt.
„Hi.“ Das Wort drang tief aus seiner Kehle heraus.
Vasokonstriktion, hatte sie gedacht. Der Prozess, durch den die Hautkapillaren sich zusammenziehen, um die Körperkerntemperatur anzuheben. Entsprechender Anstieg der Atemfrequenz und des Herzschlags. Erröten.
Sie neigten sich im selben Augenblick zueinander, und ihre Köpfe berührten sich, Rachels Brüste drückten gegen seinen Brustkorb, und seine rechte Hand strich über ihre links, als er sie auf ihre Hüfte legte. Dieses leichte Steifen ihrer Hände war von all den Punkten, an denen sich ihre Körper in diesen ein oder zwei Sekunden trafen, der intimste. […]
Vasodilatation: Wenn die Körperkerntemperatur zu hoch ist, weiten sich Blutgefäße unter der Haut, damit die Hitze aus dem Körper strömen kann und die Kerntemperatur wiederhergestellt wird.
Es dauerte fast fünf Minuten, bis sie endlich diese verdammten Oliven gefunden hatte.
Nachdem sie Caleb mit den Ergebnissen ihrer Recherchen konfrontiert hat, zwingt sie ihn mit vorgehaltener Waffe, sie zu Brian zu fahren. Caleb bringt sie zu einer Yacht, auf der sie Brian antreffen. Nachdem Brian ihr die Pistole aus der Hand gewunden hat, legt er sie zusammen mit seiner Waffe auf den Tisch. Dann fahren sie hinaus aufs Meer.
Brian gesteht, dass er der Pizzabote in Providence war und aus Grafton in Vermont stammt. Allerdings heißt er nicht Scott Pfeiffer, sondern Brian Alden. Brett Alden war sein Künstlername als Schauspieler. Seit er damals den Unternehmersohn Brian Delacroix sah und merkte, wie ähnlich sie sich sahen, gibt er sich als Brian Delacroix aus.
Die beiden Männer auf dem Boot geraten in Streit und prügeln sich. Als Rachel befürchtet, Brian werde Caleb totschlagen, nimmt sie seine Pistole vom Tisch, richtet sie auf ihn und drückt ab. Blut breitet sich auf seiner Brust aus. Er stürzt rücklings ins Wasser und versinkt.
Wenn Sie noch nicht wissen möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte erst einmal die weitere Inhaltsangabe.
Spoiler
Caleb und Rachel kehren an Land zurück. Er drängt sie, mit ihm zu einem abgelegenen Haus zu fahren, in dem sich Haya bereits mit dem Baby versteckt. Aber Rachel möchte erst noch ihren Laptop aus der Wohnung holen.
Während sie dort sind, klingelt Detective Trayvon Kessler von der Polizei in Providence mit zwei Kolleginnen an der Tür und fragt nach Brian Delacroix. Rachel bleibt nichts anderes übrig, als die drei hereinzubitten und ihnen Caleb Perloff als Geschäftspartner ihres nach Moskau geflogenen Ehemanns vorzustellen. Kessler zeigt ihnen ein Foto, auf dem Rachel die schwangere Frau erkennt, die Brian kürzlich besuchte: Nicole Alden. Die Bankangestellte wurde in ihrer Wohnung erschossen, und weil ein Zeuge ungefähr zur Tatzeit Brian Delacroix‘ Auto dort sah, steht er unter Mordverdacht.
Kurz nachdem die Polizisten das Haus verlassen haben, klingelt es erneut. Rachel bemerkt den Hut, den der Detective vergaß, und weil sie annimmt, er sei an der Tür, öffnet sie arglos. Aber draußen stehen zwei Kerle mit Schusswaffen in der Hand.
Sie fragen Caleb nach einem Schlüssel, und als er behauptet, nichts zu wissen, schlägt einer der Gangster Rachel mit aller Kraft in den Solarplexus. Dennoch tut Caleb weiter so, als habe er keine Ahnung, wovon die Rede sei – bis ihn einer der Männer ohne Vorwarnung erschießt.
Der Knall ist kaum verhallt, als es erneut an der Tür klingelt und Detective Kessler von draußen ruft, er habe seinen Hut vergessen. Rachel nutzt die Chance, die Wohnung zu verlassen.
Später kehrt sie zurück, zieht Calebs Schlüssel aus seiner Hosentasche und fährt mit seinem Wagen zu einer Hütte in Maine, in der sie Brian vermutet. Inzwischen weiß sie, dass er lebt, weil in seiner Pistole Platzpatronen waren. In der Hütte trifft sie ihn zwar nicht an, aber als sie wieder losfährt, sitzt er hinter ihr im Auto.
Er berichtet, dass er vor fünf Jahren eine bankrotte Goldmine auf Papua-Neuguinea kaufte und Alden Minerals gründete, während Caleb – ein Schauspieler wie er selbst – eine Beraterfirma ins Leben rief. Bevor Borgeau Engineering vor zwei Jahren eine „unabhängige“ Prüfung durchführte, war die Mine an einigen Stellen mit Goldpartikeln besprüht worden. Wie geplant, erfuhr Vitterman Copper & Gold von dem Ergebnis – 400 Millionen Feinunzen – und versucht seither, den Konkurrenten Alden Minerals zu übernehmen. Um die feindliche Übernahme zu verhindern, lieh die Risikokapitalgesellschaft Cotter-McCann der bedrohten Firma 70 Millionen Dollar, allerdings in der Erwartung, das vermeintlich lukrative Bergbauunternehmen selbst schlucken zu können.
Die 70 Millionen liegen bei einer Bank auf den Cayman Inseln. Aber viel zu rasch fand Cotter-McCann heraus, dass man auf einen Betrug hereingefallen war. Die von dem Unternehmen angeheuerten Killer folgten Brian offenbar zu Nicole – seiner schwangeren Schwester –und ermordeten sie, nachdem sie ihn um ein paar Minuten verfehlt hatten.
Brian ist entsetzt, als er hört, dass Caleb tot ist, denn der hatte den Schlüssel zu einem Bankschließfach bei sich, in dem Fluchtgeld und gefälschte Pässe deponiert sind. Brian und Caleb wollten sich nämlich mit Nicole, Haya, dem Baby Annabelle und Rachel nach Amsterdam absetzen und von dort an die Millionen herankommen. Auf die Caymans zu fliegen, wäre zu riskant.
Den Schlüssel hat Rachel bei sich. Sie fand ihn durch Zufall im Handschuhfach von Calebs Auto.
Nachdem Rachel geübt hat, Nicoles Unterschrift zu fälschen, holt sie das Fluchtgeld und die Pässe aus einem Schließfach der Cumberland Savings & Loan in Johnston/Rhode Island.
In der Nähe des abgelegenen Hauses, in dem Haya sich mit dem Baby versteckt, steht ein Pickup. Augenscheinlich sind die Killer bereits im Haus, aber trotz des Risikos wollen Brian und Rachel nicht ohne die Witwe und ihr Kind fliehen.
Rachel fährt allein auf das Haus zu. Die beiden Gangster, die sie bereits kennt, stehen auf der Veranda, als sie aussteigt. Ebenso wie Rachel haben sie Waffen in der Hand und amüsieren sich über sie, denn sie glauben, leichtes Spiel mit ihr zu haben. Aber als einer der Männer auf sie zugeht, erschießt Brian ihn, und im nächsten Augenblick jagt Rachel dem anderen Killer eine Kugel in die Schulter.
Brian geht ins Haus, um nach Haya und dem Baby zu sehen. Haya ist tot; sie wurde ermordet. Der verletzte Gangster versucht zu fliehen, aber Rachel erschießt ihn aus nächster Nähe.
Brian kommt mit dem Baby im Arm aus dem Haus …
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Dennis Lehane beginnt seinen Roman „Der Abgrund in dir“ folgendermaßen:
An einem Dienstag im Mai, im Alter von sechsunddreißig Jahren, erschoss Rachel ihren Mann. Er stolperte mit einem seltsam wissenden Gesichtsausdruck rücklings, als ob er schon immer geahnt hätte, dass sie es tun würde.
Gleichzeitig wirkte er auch überrascht. Sie nahm an, dass sie ähnlich aussah.
Ihre Mutter wäre nicht überrascht gewesen.
Ihre Mutter, die niemals verheiratet gewesen war, hatte einen berühmten Ratgeber geschrieben, wie man erfolgreich verheiratet blieb.
Nach dem gut drei Seiten langen Prolog erzählt Dennis Lehane erst einmal ausführlich von Rachel, ihrer Mutter und der Suche der Tochter nach dem Vater. Rachel beginnt erfolgreich eine Karriere als Journalistin – bis sie nach schrecklichen Erlebnissen psychisch zusammenbricht. Erst in der Mitte des Buches gelangen wir wieder zu der Szene, in der Rachel auf ihren Ehemann schießt, und „Der Abgrund in dir“ mutiert von einer Art Charakterstudie zum Thriller.
Wer Action und Suspense erwartet, muss einiges an Geduld aufbringen, bis es losgeht. Der erste Teil ist überhaupt zu lang geraten, und die beiden Buchhälften passen nicht wirklich zusammen, zumal einiges aus der Vorgeschichte für die Thrillerhandlung bedeutungslos ist.
Nachdem Rachel sich eineinhalb Jahre lang wegen ihrer Neurosen nicht aus dem Haus gewagt hat, fährt sie plötzlich wieder Auto und gerät nicht einmal in Panik, als sie sich mit dem Wagen zweimal überschlägt. Selbst in lebensbedrohlichen Konfrontationen mit Verbrechern handelt sie souverän. Dass Rachel ihre schwere psychische Störung durch Brians Hilfe kurzerhand überwindet und dann auch gleich weit über sich hinauswächst, wirkt ebenso unglaubwürdig wie ein paar andere Entwicklungen.
Dennis Lehane spielt mit unseren Erwartungen und Vermutungen; er sät Zweifel, schafft Unsicherheit und überrascht uns mit Plot Twists. Das macht den Reiz der Lektüre von „Der Abgrund in dir“ aus.
Das Ende von „Der Abgrund in dir“ bleibt weitgehend offen. Allerdings deutet Dennis Lehane in den letzten Zeilen ein Happy End an – für die Überlebenden.
Den Roman „Der Abgrund in dir“ von Dennis Lehane gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Bibiana Beglau.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Dennis Lehane (kurze Biografie / Bibliografie)
Dennis Lehane: Absender unbekannt / Dunkelheit, nimm meine Hand
Dennis Lehane: In tiefer Trauer
Dennis Lehane: Mystic River (Verfilmung)
Dennis Lehane: Shutter Island (Verfilmung)
Dennis Lehane: The Drop. Bargeld