Rohinton Mistry : Das Gleichgewicht der Welt

Das Gleichgewicht der Welt
Originalausgabe: A Fine Balance McClelland & Steward, Toronto 1995 Das Gleichgewicht der Welt Übersetzung: Matthias Müller Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt/M 1998 ISBN 3-8105-1249-4, 863 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1975 reisen der 46-jährige Ishvar Darji und sein Neffe Omprakash, zwei Unberührbare, deren Familienangehörige von einem Gutsbesitzer ermordet wurden, nach Bombay, um Arbeit zu suchen. Sie werden von der verwitweten Schneiderin Dina Dalal angestellt, die aus einer besseren Familie stammt, sich jedoch von ihrem reichen Bruder nicht unterstützen lassen will. Zur gleichen Zeit trifft der Student Maneck Kohlah ein, der bei ihr als Untermieter wohnen soll ...
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Kritik

In einfachen, aber durchaus nicht hingeschluderten Sätzen erzählt Rohinton Mistry ergreifende Lebensgeschichten vor dem Hintergrund der indischen Politik und Gesellschaft: "Das Gleichgewicht der Welt".
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Dina Shroff wird 1933 in Bombay als Tochter eines Arztes geboren. Sie ist zwölf Jahre alt, als er an einem Kobrabiss stirbt. Nach dem Tod des Vaters gilt Dinas elf Jahre älterer Bruder Nusswan als Familienoberhaupt und übernimmt die Vormundschaft für seine Schwester. Im Gegensatz zu seinem Vater, der ein Idealist war und sich aus Geld nicht viel machte, bringt Nusswan Shroff es als Geschäftsmann zu größerem Wohlstand. Er heiratet 1948. Vergeblich stellt er Dina immer wieder seiner Meinung nach geeignete Heiratskandidaten vor – bis sie im Alter von einundzwanzig Jahren einen Mann ihrer eigenen Wahl heiratet, den sie seit eineinhalb Jahren kennt: den Pharmazeuten Rustom K. Dalal.

Zur Feier ihres dritten Jahrestages ihrer Hochzeit laden Rustom und Dina Nusswan, dessen Ehefrau Ruby und die beiden Neffen Xerxes und Zarir ein. Nach dem Essen radelt Rustom los, um Eis zu kaufen, aber dabei wird er von einem Lastwagen gerammt und getötet.

Drei Jahre lang wohnt Dina daraufhin bei ihrem Bruder und ihrer Schwägerin. Dann zieht sie zurück in die Mietwohnung, in der sie mit Rustom gelebt hatte. Um selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen zu können, übernimmt sie Aufträge von ihrer Tante Shirin, die für Nachbarinnen und Bekannte näht, und als Shirin drei Jahre später stirbt, erbt sie den gesamten Kundenstamm.

Doch im Alter von zweiundvierzig Jahren merkt Dina, dass ihre Augen immer schlechter werden. Sie kann kaum noch eine Nadel einfädeln. Ihre Schulfreundin Zenobia, die im Schönheitssalon Venus aus Friseuse arbeitet, bringt sie schließlich mit einer Kundin zusammen, die eine Exportfirma leitet und so viele Aufträge in Aussicht stellt, dass Dina zwei Schneider einstellen und selbst zu nähen aufhören kann. Außerdem soll sie einen Untermieter aufnehmen, um ihr Einkommen aufzubessern, rät Zenobia ihr.

So kommt es, dass im Sommer 1975 – nach der Verhängung des Ausnahmezustands in Indien – der siebzehnjährige Student Maneck Kohlah und zwei Schneider, der ebenfalls siebzehn Jahre alte Omprakash und dessen sechsundvierzigjähriger Onkel Ishvar, bei Dina Dalal eintreffen.

Maneck ist der Sohn einer früheren Schulfreundin Dinas. Aban Sodawalla war von ihrer Familie mit dem reichen Parsen Farokh Kohlah vermählt worden. Durch die Teilung des Subkontinents verlor Manecks Vater die meisten Ländereien und Fabriken, weil diese auf pakistanischem Territorium lagen. In Manecks Geburtsort am Rand des Himalaja besaß die Familie nur noch einen kleinen Laden und im Keller eine Misch- und Abfüllanlage für ein nach Hausrezept gebrautes Colagetränk. Nachdem Indien unabhängig geworden war, boten Konzerne ähnliche Getränke sehr viel billiger an, und das Geschäft der Familie Kohlah brach ein. Trotzdem wollten die Eltern, dass ihr Sohn Kühl- und Klimatechnik studierte und schickten ihn auf ein College in Bombay. Weil es Maneck in dem schmutzigen Studentenwohnheim nicht gefällt und Dina Dalal gerade einen Untermieter sucht, zieht er zu ihr, und sie überlässt ihm gegen eine entsprechende Miete ihr Schlafzimmer.

Ishvar und Omprakash stammen aus einer hinduistischen Gerber- und Abdecker-Familie. Ishvars Vater, Dukhi Mochi, lebte mit seiner Ehefrau Roopa und seinen beiden Söhnen in dem für Unberührbare reservierten Teil eines Dorfes. Sie waren so arm, dass Roopa nachts wegschlich, um für ihre Kinder Milch zu stehlen. Beim Orangendiebstahl wurde sie einmal von einem Nachtwächter ertappt und vergewaltigt. Im Bruch mit der Tradition beschloss Dukhi Mochi, dass Ishvar und dessen zwei Jahre jüngerer Bruder Narayan nicht Gerber, sondern Schneider werden sollten, und er brachte sie zu dem muslimischen Schneider Ashraf Chacha in die nächste Stadt.

Während des Bürgerkriegs zwischen Hindu und Moslems im Jahr 1946 wollte Ashraf mit seiner Frau Mumtaz und seiner kleinen Tochter fortziehen, aber seine Nachbarn, bei denen es sich ausschließlich um Hindu handelte, beruhigten ihn und überredeten ihn, zu bleiben. Eines Nachts randalierten zwanzig bis dreißig fanatische Moslems, die erfahren hatten, dass hier ein Moslem wohnte, vor dem Haus. Statt Ashraf öffneten dessen Lehrlinge und beteuerten, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse: Hier gebe es keine Moslems. Auf diese Weise retten sie Ashraf und seiner Familie das Leben.

Weil Ashraf sich keine zwei Schneider leisten konnte, blieb nur Ishvar nach Abschluss der Ausbildung bei ihm, und Narayan kehrte ins Dorf zurück. Nach zwei Jahren baute Narayan sich bereits eine eigene Hütte und einige Zeit später sogar ein festes Haus für sich und die Eltern. Außerdem ließ er auf seine Kosten einen neuen Dorfbrunnen graben. Er heiratete die sechzehnjährige Radha und zeugte mit ihr einen Sohn – Omprakash – und drei Töchter, von denen allerdings eine kurz nach der Geburt starb. Omprakash schickte er in eine Schneiderlehre in der Stadt.

Bei Parlamentswahlen war es üblich, dass der Wahlbeamte den ganzen Tag über von dem Gutsbesitzer Thakur Dharamsi bewirtet wurde, während die Wähler durch das Wahlbüro defilierten, wo man ihnen einen Finger auf das Register drückte, um zu bestätigen, dass sie an der Wahl teilgenommen hatten. Die Stimmzettel wurden unabhängig davon durch Beauftragte des Gutsbesitzers ausgefüllt. Als Narayan darauf bestand, seinen Stimmzettel selbst anzukreuzen, ließ Thakur Dharamsi ihn und zwei andere Männer, die sich Narayans Forderung angeschlossen hatten, mit den Füßen an einem Ast aufhängen und auspeitschen. Die Folterer urinierten den Opfern ins Gesicht, drückten ihnen glühende Kohlen in den Mund und erhängten sie schließlich. Um ein Exempel zu statuieren, befahl Thakur Dharamsi seinen Goondas, das Viertel der Unberührbaren zu verwüsten. Dukhi, Roopa, Radha und deren Töchter Leela und Rheka wurden in ihrem Haus gefesselt. Dann warf man Narayans Leichnam vor sie hin und zündete das Gebäude an.

Ishvar und Omprakash erstatten zwar Anzeige, aber die Polizei fand angeblich keinen Anhaltspunkt für Mord oder Brandstiftung.

Ein Jahr später eröffnete in der Stadt ein Geschäft für Konfektionskleidung, und Ashraf konnte mit den niedrigen Preisen der Massenware nicht konkurrieren. Weil es keine Arbeit mehr gab, reiste Ishvar mit seinem verwaisten Neffen nach Bombay zu einem alten Freund Ashrafs, der sie jedoch nur widerwillig unter seinem Vordach schlafen ließ, bis sie eine Hütte in einem Slum mieten konnten und von Dina Dalal angestellt wurden.

Eines Morgens bemerken Ishvar und Omprakash nach dem Aufstehen, dass vor dem Slum dreiundzwanzig rote Doppeldeckerbusse stehen. Die Ministerpräsidentin (Indira Gandhi) habe alle Bewohner von Bombay zu einer Kundgebung eingeladen, heißt es. Die Fahrt für die Slumbewohner sei kostenlos und es gebe nach der politischen Veranstaltung nicht nur Tee, sondern auch einen Imbiss. Doch selbst als die Beauftragten der Partei Geld für die Teilnahme anbieten, füllt sich nur ein einziger Bus. Deshalb treibt die Polizei die Slumbewohner gewaltsam in die Busse.

Kurze Zeit später wird die Siedlung im Rahmen der Stadtsanierung mit Bulldozern niedergerissen. Ishvar und Omprakash haben zwei Tage zuvor dem Slumlord die Miete für den nächsten Monat bezahlt, doch jetzt stehen sie auf der Straße. Dina will die Schneider auf keinen Fall bei sich aufnehmen oder auch nur, dass sie ihre Koffer bei ihr abstellen, denn sie hat gelernt, Distanz zu Angestellten und Angehörigen niedriger Kasten zu wahren. Ishvar und Omprakash gelingt es, einen Nachtwächter zu bestechen, der sie im Eingang einer Apotheke schlafen lässt. Das geht tagelang gut. Dann prügelt die Polizei alle in den Straßen schlafenden Obdachlosen und schließlich auch die beiden Schneider auf einen Lkw. Man fährt die sechsundneunzig Menschen zu der Baustelle eines Bewässerungsprojektes, wo sie Zwangsarbeit leisten müssen.

Erst nach einigen Wochen findet der einflussreiche Bettlermeister einen seiner Männer in dem Arbeitslager. Shankar wurde verschleppt, obwohl er weder Beine noch Hände hat und sich nur auf einem Gaadi – einer Holzplatte mit Rädern – fortbewegen kann. Da Shankar sich inzwischen mit Ishvar und Omprakash angefreundet hat, überredet er den Bettlermeister, auch die beiden Schneider zu befreien. Der tut es gegen das Versprechen wöchentlicher Schutzgeldzahlungen.

Dina, die ihre Auftraggeberin wochenlang mit Ausreden hinhalten musste, kann es sich nicht leisten, die beiden Schneider noch einmal zu verlieren. Sie ringt deshalb mit sich, ob sie die beiden vorübergehend auf der Veranda schlafen lassen soll. Obwohl sie sich vor zu großer Nähe fürchtet, tut sie es.

Als Dina die Aufforderung des Mieteintreibers Ibrahim, die Wohnung innerhalb von dreißig Tagen zu räumen, ignoriert, kommt Ibrahim im Auftrag des Vermieters mit zwei Goondas zurück, die Dinas Wohnungseinrichtung zertrümmern, die geliehenen Nähmaschinen der beiden Schneider umstoßen und die fertigen Röcke zerreißen. Sie geben Dina achtundvierzig Stunden Zeit, die Wohnung zu verlassen.

Sie ist verzweifelt. Zufällig kommt der Bettlermeister vorbei, um die nächste Schutzgeldzahlung von den Schneidern einzufordern. Er hört sich Dinas Klage an, unterrichtet sich über die Höhe des Schadens und verspricht ihr, die Angelegenheit mit dem Vermieter zu regeln. Tatsächlich erreicht er, dass Dina in ihrer Wohnung bleiben kann, den Schaden voll ersetzt bekommt und in Zukunft keine Belästigung mehr durch den Mieteintreiber befürchten muss. Den Goondas ließ er sämtliche Finger brechen.

Auch der Bettlermeister hat Sorgen: Ein auf der Straße schlafendes Bettlerpaar wurde ermordet. Seltsamerweise stahl der Täter kein Geld, sondern schnitt ihnen nur das lange Haar ab. Ishvar und Omprakash versuchen, sich ihren Schreck nicht anmerken zu lassen: Sie ahnen, wer der Mörder ist. Ihr hilfsbereiter Nachbar in dem inzwischen abgerissenen Slum, Rajaram, ist Haarsammler! Je länger die Haare sind, desto mehr Geld bekommt er dafür. Seit Neuem werden auch immer wieder Frauen, die auf dem Basar einkaufen, die langen Haare so geschickt von hinten abgeschnitten, dass sie es zunächst gar nicht bemerken.

Ishvar besteht darauf, seinen widerstrebenden Neffen zu verheiraten. Er hält das für seine Pflicht und arrangiert durch die Vermittlung ihres Lehrherrn Ashraf Chacha Treffen mit vier interessierten Familien. Dina gibt ihnen drei Wochen frei, und sie fahren mit der Bahn in ihre Heimat zurück.

Von einer sterbenden Bettlerin erfährt der Bettlermeister, dass sein Vater mit ihr geschlafen hatte und Shankar sein Halbbruder ist. Er zögert zwar, das Geheimnis mit Shankar zu teilen, aber er sorgt von da an ganz besonders für ihn.

Rajaram wollte dem schlafenden Bettlerpaar nur das Haar abschneiden, aber als sie aufwachten und nicht zu schreien aufhörten, stach er mit der Schere auf sie ein, bis sie tot waren. Um an Haare zu kommen, arbeitet Rajaram auch als Straßenfriseur. Der Bettlermeister, der nicht ahnt, was Rajaram tat, beauftragt ausgerechnet ihn, Shankar zu rasieren und ihm die Haare zu schneiden. Shankar wehrt sich jedoch dagegen und verteidigt sein langes Haar. Durch das Gerangel werden Passanten auf die beiden aufmerksam und entdecken auf Shankars Gaadi eine Tüte mit Haaren. Einige der Umstehenden, die nicht wissen, dass die abgeschnittenen Haare dem Friseur gehören, verdächtigen den Verkrüppelten als Mörder des Bettlerehepaars. Es kommt zu einem Tumult. Rajaram stiehlt sich davon. Shankar schiebt sich plötzlich durch eine Lücke, aber er gerät mit seinem Gaadi unter einen Bus und wird zerquetscht.

Kurz nach den Schneidern bricht auch Maneck auf. Das Studienjahr endete mit den Prüfungen, und er besucht seine Eltern. Dina bleibt allein zurück. Später erfährt sie aus einem Brief, dass Maneck nicht mehr zurückkommt, sondern in Dubai Arbeit gefunden hat.

Ishvar und Omprakash erfahren erst nach ihrer Ankunft von Ashraf, dass dessen Ehefrau Mumtaz schon lange tot ist. Thakur Dharamsi, der ihre Familienangehörigen ermordete, leitet inzwischen die Familienplanung im Bezirk. Als sie ihm auf der Straße begegnen, kann Ishvar seinen Neffen zwar noch davor zurückhalten, sich auf ihn zu stürzen, aber Omprakash spuckt vor Thakur Dharamsi aus.

Noch bevor sich Ishvar und Omprakash die Bräute ansehen können, werden sie auf dem Marktplatz zusammen mit anderen Männern und Frauen von der Polizei aufgegriffen. Ashraf erhält einen Schlag mit einem Gummiknüppel auf den Kopf und stirbt. Die willkürlich Festgenommenen müssen auf einen Lkw klettern, mit dem sie ein Zeltlager für ambulante Sterilisationen gebracht werden. Die Männer zerrt man zur Vasektomie in ein Zelt, die Frauen zur Tubenligatur in ein anderes. Verzweifelt fleht Ishvar die Polizisten und den Arzt an, seinen Neffen vor der Sterilisation zu bewahren, denn sie seien nur hergekommen, um für ihn eine Frau auszusuchen. Niemand interessiert sich dafür. Die Geräte zum Auskochen der Instrumente fallen aus, aber ein Aufsichtsbeamter, der die Anzahl der pro Zeiteinheit durchgeführten Vasektomien überprüft, drängt zur Eile, und so arbeiten die Ärzte weiter, ohne die Skalpelle zu sterilisieren. Nachdem die beiden Schneider operiert wurden, taucht Thakur Dharamsi auf, erkennt Omprakash und flüstert mit einem Arzt. Der junge Mann wird noch einmal auf den behelfsmäßigen Operationstisch gezogen, mit einem chloroformgetränkten Lappen betäubt und unter dem Vorwand, man habe bei ihm Hodenkrebs diagnostiziert, kastriert.

Ishvar macht sich zunächst nur Sorgen um seinen Neffen, aber nach einigen Tagen stellt er fest, dass seine Beine schwarz werden und anschwellen. Im Krankenhaus wird eine Infektion festgestellt, und sein Leben ist nur durch eine Amputation beider Beine zu retten.

Vier Monate nachdem Ishvar und Omprakash zur Brautschau aufbrachen, kehren sie nach Bombay zurück.

Dina wohnt inzwischen wieder bei ihrem Bruder Nusswan, denn der Bettlermeister, der sie und ihre beiden Schneider beschützt hatte, wurde ermordet. Ein Racheakt. Auf die Warnung des entlassenen Mieteintreibers Ibrahim hin rannte Dina zum Gerichtsgebäude, um einen Rechtsanwalt zu finden. Dabei geriet sie an Vasantrao Valmik, einen Juristen, der jahrelang als Korrektor bei der Times of India gearbeitet hatte, bis er wegen einer Allergie gegen Druckerschwärze aufhören musste. Er wollte ihrem Vermieter einen entsprechenden Brief schreiben. Doch als Dina zurückkam, warteten vor ihrer Tür der Polizeisergeant Kesar und die beiden Goondas mit den verkrüppelten Fingern. Ihre Wohnung wurde ausgeräumt. Um ihre auf die Straße geworfenen Sachen abtransportieren zu lassen, blieb Dina nichts anderes übrig, als ihren Bruder anzurufen und ihn zu bitten, einen Lastwagen zu schicken.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Am 3. November 1984 fliegt Maneck nach acht Jahren zum ersten Mal von Dubai nach Indien, um an der Bestattung seines an Darmkrebs gestorbenen Vaters teilzunehmen. Ein Taxifahrer warnt ihn in Delhi, sich lieber den Bart abrasieren zu lassen, denn man könne ihn für einen Sikh halten, und auf Sikhs werde zur Zeit Jagd gemacht, weil zwei von ihnen Indira Gandhi erschossen haben.

Zu Hause stellt Maneck fest, dass die Stahltrosse, mit der das Fundament seines Elternhauses an einer Felswand befestigt und gegen Abrutschen gesichert ist, überprüft werden muss.

Vor dem Rückflug nach Dubai fährt er nach Bombay, um Dina und ihre beiden Schneider zu besuchen und Omprakashs Frau kennen zu lernen. Aber in dem renovierten Haus wohnt Dina nicht mehr. Im Telefonbuch sucht Maneck die Adresse der Residenz ihres Bruders Nusswan Shroff heraus. Dina öffnet die Tür und erzählt ihm, was geschehen ist. Ishvar und Omprakash sind jetzt Bettler. In einer halben Stunde werden sie vorbeikommen, um von ihr verköstigt zu werden. Ihr Bruder darf davon nichts erfahren. Maneck hat Angst, den beiden früheren Freunden zu begegnen und verabschiedet sich eilig von Dina. Auf der Straße wartet er dann doch, bis er Omprakash sieht, der seinen Onkel auf einem Gaadi hinter sich herzieht. Die beiden Bettler tun so, als würden sie ihn nicht kennen.

Im Bahnhof wirft Maneck sich vor den einfahrenden Zug.

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In seinem Roman „Das Gleichgewicht der Welt“ schildert der 1952 in Bombay geborene, 1975 nach Kanada ausgewanderte Schriftsteller Rohinton Mistry, was vier Haupt- und einige Nebenfiguren in der Zeit von 1975 (Ausnahmezustand) und 1984 (Ermordung der Regierungschefin Indira Gandhi) vor dem Hintergrund der indischen Politik und Gesellschaft erleben. Bei Dina, Maneck, Ishvar und Omprakash holt er auch die Familiengeschichte ausführlich nach. Es geht um Inderinnen und Inder verschiedener Altersstufen und aus ganz unterschiedlichen Kasten. Glücklich ist niemand von ihnen. Bezeichnend sind folgende, von Vasantrao Valmik gesprochene Sätze:

„Letzendlich ist unser Leben doch nur eine Reihe von Unfällen, Zufällen und Zwischenfällen – eine klirrende Kette zufälliger Ereignisse. Eine Aneinanderreihung von Entscheidungen, beiläufigen oder absichtlichen, die diese eine große Kalamität ergeben, die wir Leben nennen.“ (Seite 794)

„Verlust ist essentiell. Verlust ist ein fester Bestandteil dieser notwendigen Kalamität namens Leben.“ (Seite 796)

„Verlieren und immer wieder verlieren, das ist die eigentliche Basis des Lebensprozesses, bis uns nur noch die nackte Essenz der menschlichen Existenz bleibt.“ (Seite 796)

Mit den ergreifenden Lebensgeschichten und den einfachen, aber durchaus nicht hingeschluderten Sätzen steht Rohinton Mistry in der Tradition naturalistischer Romanciers des 19. Jahrhunderts oder auch amerikanischer Schriftsteller wie John Steinbeck. Die Kritik an der indischen Kastengesellschaft, der Korruption der Amtsträger und Indira Gandhis Innenpolitik ist zwar deutlich, wirkt aber in keiner Weise aufgesetzt, weil Rohinton Mistry nicht darüber referiert, sondern die Kritikpunkte durch Schicksalsschläge seiner grundverschiedenen Figuren veranschaulicht. Durch immer wieder neue Wendungen ist es ihm gelungen, Längen zu vermeiden und den Schwung über 863 Seiten hinweg aufrechtzuerhalten.

In Form einer Lebensgeschichte hält auch Aravind Adiga der indischen Gesellschaft den Spiegel vor, allerdings in satirischer Weise: „Der weiße Tiger“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Wolfgang Krüger Verlag

Richard Attenborough: Gandhi (Kinofilm über Mahatma Gandhi)
Indira Gandhi (Kurzbiografie)

Beate Teresa Hanika - Vom Ende eines langen Sommers
"Vom Ende eines langen Sommers" ist ein kunstvoll gestalteter Roman. Geschickt und durchdacht wechselt Beate Teresa Hanika zwischen den Zeitebenen, Handlungssträngen und Perspektiven der Ich-Erzählerinnen. Mit Andeutungen erzeugt die Autorin Ahnungen der Leser – und so auch Spannung.
Vom Ende eines langen Sommers