Fernanda Melchor : Paradais

Paradais
Páradais Penguin Random House Grupo Editorial, Mexiko-Stadt 2021 Paradais Übersetzung: Angelica Ammar Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021 ISBN 978 3 8031 3338 0, 140 Seiten ISBN 978-3-8031-4316-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Abend für Abend betrinken sich zwei mexikanische Jungen auf einem Bootssteg über dem schlammigen Fluss Jamapa. Franco lebt mit seinen Großeltern in der bewachten Wohnanlage, in der Polo den Dreck der Reichen wegräumen muss. Polo hält die Absicht des Dicken, mit Señora de Maroño zu schlafen, zunächst für ein Hirngespinst, aber daraus entwickelt sich eine todbringende Fantasie ...
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Kritik

Der Roman "Paradais" dreht sich um eine von Klassengegensätzen und Kriminellen geprägte Gesellschaft. Fernanda Melchor erzählt konsequent aus der Perspektive eines unterprivilegierten mexikanischen Jungen, und es gelingt ihr, nicht nur seinen widersprüchlichen Charakter intensiv auszuleuchten, sondern auch eine tiefgründige, vielschichtige und gewaltige Geschichte zu entfalten.
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Polo

Der 16-jährige Leopoldo („Polo“) García Chaparro wird von seiner alleinerziehenden Mutter als „Hurensohn“ beschimpft. Seit sie ihre Nichte Zorayda aufgenommen hat, muss er statt im Bett auf einer stinkenden Matte auf dem Fußboden der heißen Wellblechbaracke in dem mexikanischen Dorf Progreso am Fluss Jamapa schlafen.

Polo weiß, dass es sich bei seiner sechs Jahre älteren Cousine um eine Schlampe handelt, die ihre Beine nicht zusammenhalten kann. Jeder weiß das. Wenn seine Mutter nicht da war, machte sie ihn an, bis er wütend zupackte.

Und irgendwann als sie allein zu Hause waren, hatte Polo seinen Hass auf das verdammte Flittchen eben nicht mehr ausgehalten und sie im Wohnzimmer gegen die Sofalehne gepresst, hatte ihr die superkurzen Shorts runtergerissen und ihr seinen harten Schwanz so tief reingestoßen, wie er konnte, während die kleine Nutte keuchend mit den Armen ruderte und gar nicht kapierte, was los war. es war der größte Fehler seines Lebens gewesen, der verfickt größte Fehler seines ganzen elenden Scheißlebens, denn anstatt Ruhe zu geben, war die blöde Schlampe von da an erst recht hinter ihm her: Er hatte sie demütigen, sie fertigmachen wollen, aber die versaute Kleine fuhr völlig ab auf die brutale Art, mit der sie rangenommen hatte […].

Inzwischen ist Zorayda hochschwanger. Polo glaubt nicht, dass das Ungeborene von ihm ist. Jeder könnte der Vater sein, denn sie hat es mit allen getrieben.

Nachdem er gleich im ersten Halbjahr an der Oberschule durchfiel und zum Ärger seiner Mutter monatelang arbeitslos herumlungerte, verschafft sie ihm einen Job als Gärtner in der „Paradais“ genannten bewachten Wohnanlage der Compañia Inmobiliaria del Golfo auf der anderen Seite des Jamapa. Sie hatte als Hausmädchen beim Geschäftsführer angefangen, wurde dann Putzfrau im Bürogebäude des Unternehmens, besuchte Abendkurse im Zentrum von Boca del Rio und hat es dadurch zur Assistentin in der Buchhaltung gebracht.

Der Junge, wie die Bewohner der Anlage ihn nannten, das war er. Der Rasenmäher, der Aststutzter, der Scheißeaufklauber, der Autowäscher, der kleine Trottel, der gelaufen kam − wie ein Hund, wenn die Arschlöcher nach ihm pfiffen.

[…] am liebsten hätte er seinen Scheißjob mit dem Hungerlohn auf der Stelle an den Nagel gehängt und dem Hornochsen Urquiza bei der Gelegenheit die Fresse poliert, ihm die Faust in seine dämliche Lutschervisage gerammt; mal sehen, wer dir jetzt den Wagen wäscht, du schwules Arschloch, mal sehen, wer so blöd ist, gratis Überstunden zu machen, um den ganzen Mist aufzuräumen. Eine verdammte Ungerechtigkeit, genau das war es, stundenlang darauf warten zu müssen, dass die werten Bewohner und ihre beschissenen Schnorrergäste abzogen, um dann ihren Müll einzusammeln, ihre Bierdosen, ihre dreckigen Servietten, ihre Papierteller mit den Essensresten und ihre Kippen, die sie auf dem Boden ausgedrückt oder sogar ins kobaltblaue Wasser des beleuchteten Pools geworden hatten.

Polo will nur noch weg, zumal er befürchtet, dass Zorayda ihm den Balg anhängen könnte. Aber er hat kein Geld, denn die Mutter behält seinen Lohn ein, um damit Rechnungen begleichen und Schulden abtragen zu können.

Er musste abhauen, bevor die ganze Scheiße hochging, aber wie? Mit welcher Kohle?

Milton

Milton, ein Stiefsohn seines inzwischen gestorbenen Großvaters, hat Polo von seinem Leben berichtet. Miltons Schwager betrieb einen Schrottplatz außerhalb von Progreso, kaufte gestohlene Autos, lackierte sie um und ließ sie dann von Milton zum Verkauf in den Süden bringen.

Als Milton einmal von so einer Tour übermüdet zurückkam und die Wirkung der Amphetamine bereits nachgelassen hatte, entführte ihn eine Bande. Seine Frau zog nach Tierra Blanca, als sie nichts mehr von ihm hörte. Die von einer als „Licenciada“ titulierten Frau angeführte Bande folterte ihn, bis er alles über die Geschäfte seines Schwagers verriet. Dann meinte die Licenciada, sie gebe ihm eine Chance, weil er sich im „Bisnes“ auskenne.

Zwei Kerle nahmen mit ihm ein Taxi. Statt den Fahrer am Zielort zu bezahlen, würgten sie ihn mit einer Drahtschlinge und sperrten ihn in den Kofferraum, während zwei Komplizen einstiegen. Sie machten mit dem Taxi Jagd auf Mopedfahrer und warfen sie um. Jedes Mal stieg einer aus und fuhr mit dem geraubten Moped weg. Am Ende saßen nur noch Sapo und Milton im Wagen. Sapo hielt in einem abgelegenen Gelände. Dort ließen sie den um sein Leben bettelnden Taxifahrer aus dem Kofferraum. Sapo hatte nun zwei Pistolen. Eine richtete er auf Milton, die andere drückte er ihm in die Hand und zwang ihn, damit den alten Mann zu erschießen.

Aus den Lokalnachrichten erfuhr Milton dann, dass innerhalb kurzer Zeit fünf Tankstellen in Boca del Rio und Umgebung von Mopedfahrern ausgeraubt wurden.

Franco

Ein paar Wochen nach Polos Arbeitsantritt in der Wohnanlage „Paradais“ veranstaltet die Familie de Maroño dort eine Geburtstagsparty für Miguel („Micky“), den kleineren der beiden Söhne. Der ältere heißt Andrés („Andy“). Der Vater ist berühmt und des Öfteren im Fernsehen zu sehen.

Der Gärtner Polo hat zu warten, bis die Party vorbei ist und muss dann aufräumen. Señora de Maroño steckt ihm zwischendurch mit den Worten „für die Umstände“ ein Geldkuvert in die Tasche.

Als Polo das erleuchtete Areal verlässt und zum Bootssteg hinuntergeht, trifft er dort auf Franco Andrade, einen dicken Jungen, der im „Paradais“ wohnt und sich mit einer Flasche Whisky von der Party davongestohlen hat, weil er es nicht länger ertrug, wie Mickys Freunde ihn hänselten.

Franco, der Sohn eines erfolgreichen Rechtsanwalts, den Polo noch nie in der Anlage sah, flog von der Schule. Den Sommer verbringt er noch bei seinen im „Paradais“ wohnenden Großeltern, die weder Lust noch Energie aufbringen, sich ernsthaft um ihn zu kümmern. Im Herbst soll er auf die Militärakademie in Puebla.

Weil er kein Taschengeld bekommt, stiehlt er Scheine aus der Brieftasche seines Großvaters und schickt Polo damit zum nächsten Laden, damit er Schnaps kauft. Abend für Abend betrinken sich die beiden nun auf dem Bootssteg, und als eine Regenperiode einsetzt, ziehen sie sich in die gespenstische Ruine auf dem Nachbargrundstück zurück. Das Haus soll zur Zeit der spanischen Herrschaft von einer Gräfin gebaut worden sein. Weil sie pervers und teuflisch war, versklavte Kinder missbrauchte und den Krokodilen vorwarf, erschlugen die Einwohner des Deltas die „Blutgräfin“. Angeblich spukt sie noch immer in der unheimlichen Ruine.

Polo kann den verwöhnten, ein paar Jahre jüngeren Fettsack nicht ausstehen, aber er trifft sich regelmäßig mit ihm, weil er nur durch ihn an Alkohol kommt und seine Rückkehr zu Mutter und Cousine hinauszögern kann. Der Preis für die angenehme Benommenheit am Abend sind allerdings Kopfschmerzen am nächsten Morgen, wenn wieder der Wecker klingelt und er mit dem Rad zum „Paradais“ fahren muss, um seinen Dienst anzutreten.

Franco ist von dem Gedanken besessen, mit der Señora de Maroño Sex zu haben und redet von nichts anderem.

Polo fand diese Hirngespinste ziemlich lachhaft; nie im Leben hätte er geglaubt dass der Typ es ernst meinen könnte. Hatte der sich mal im Spiegel angeschaut? Glaubte er wirklich, eine wie die Frau von Maroño würde ihren millionenschweren Mann mit so einem fetten pickelübersäten Jungen betrügen? Die Schwuchtel schaffte es ja noch nicht mal, der alten in die Augen zu schauen, das war Polo bei der Party aufgefallen.

Bei einem ihrer Treffen zieht Franco einen Damenslip aus der Tasche. Er sei unbemerkt durch die unverschlossene Küchentür ins Haus der Familie Maroño eingedrungen und habe aus dem Wäschekorb ein gebrauchtes Höschen von Marián de Maroño mitgehen lassen, erklärt er stolz − und riecht genüsslich daran. Polo begreift es nicht, dass der Dicke eine Unterhose geklaut hat, statt Wertsachen einzusacken. Als er Franco deshalb aufgebracht für bescheuert erklärt, meint dieser ruhig: „Dann komm beim nächsten Mal eben mit!“

Der Plan

Polo glaubt noch immer, dass der Dicke das alles nicht ernsthaft vorhabe, aber zu seiner Verwunderung taucht Franco mit einer der Pistolen seines Großvaters auf. Mit vorgehaltener Waffe will er Marián de Maroño zwingen, sich auszuziehen. Währenddessen könne Polo nach eigenem Ermessen Wertsachen rauben, meint er. Der Ältere weist ihn darauf hin, dass die Señora ihn kenne und anzeigen werde. Ungerührt entgegnet Franco, dann müsse er sie eben nach der Vergewaltigung töten, ebenso wie ihren Mann und die beiden Söhne. Am besten wäre es, die Familie am Sonntag, wenn das Dienstmädchen Griselda bei der eigenen Familie im Dorf übernachtet, im Schlaf zu überraschen.

Verärgert registriert Polo, wie der Dicke ihn ungefragt in die Planung mit einbezieht − und denkt zugleich, dass er die Wertsachen über seinen Cousin Milton verhökern und mit dem Erlös endlich abhauen könne.

Was ging im Kopf dieser blonden Schweißmemme vor, diesem verwöhnten Muttersöhnchen, der alles hatte, den alle umhätschelten? Er arbeitete nichts, lernte nichts, rührte keinen Finger, um sich eine Zukunft aufzubauen, weil er genau wusste, dass seine Großeltern ihm früher oder später eine kaufen würden, egal, wie viel es kostete. […] Der Kerl musste einfach verrückt sein, und zwar so richtig, reif für die Anstalt, und Polo war es definitiv auch, sonst hätte er ihm längst gesagt, er solle sich verpissen, anstatt ihm wie ein Arschkriecher stundenlang zuzuhören und über seinen Schwachsinn zu lachen, ihn sogar noch anzuspornen, nur um gratis einen zu saufen und Zoraydas Fresse − und ihren Bauch − nicht sehen zu müssen und dem nervigen Gekeife seiner Mutter zu entgehen. Genau das war sein Fehler gewesen, noch so ein Scheißfehler in seinem Scheißleben, das würde er ihnen sagen: dass er alles für blödes Gelaber, für reinen Bullshit gehalten hatte, dass er nicht abgehauen war und aufgehört hatte, den Dicken zu treffen, als der Typ mit der Pistole ankam.

[…] und mit einem Mal sagte Polo sich: Warum eigentlich nicht? Scheiße, warum nicht? Es war ja sowieso schon alles sinnlos und egal, was machte es für einen Unterschied. Was zum Teufel scherte es ihn, was mit dieser Schnepfe und ihrer unerträglichen Familie passierte, diesem arroganten Pack, das glaubte, die Welt gehöre ihnen! Vielleicht war das ja seine Chance, sich endlich aus diesem Drecksloch Progreso zu verpissen, dem Haus seiner Mutter zu entkommen, Zoraydas Krallen und diesem elenden Job […].

Die Tat

Im Baumarkt besorgen Franco und Polo alles, was sie für die Tat benötigen: schwarze Hosen, schwarze Sweatshirts, Strumpfhosen, Handschuhe. Eine junge Angestellte fragt, ob sie ihnen behilflich sein könne.

Wir wollten dieses graue Klebeband … stammelte Polo. Graues Klebeband?, wiederholte sie. […] Ja, dieses graue Klebeband mit diesen Fäden […]. Ach so!, rief die Verkäuferin, Sie suchen Entführerklebeband, und sie bückte sich, um unten im Regal nachzusehen. Der Dicke lachte hysterisch auf […]. So nennen die Leute das, sagte die Verkäuferin […].


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Nachts dringen Polo und Franco durch die nach wie vor unverschlossene Küchentür ins Haus der Maroños ein. Als Erstes knebeln und fesseln sie Andy. Mickys Bett finden sie leer vor. Auf der Treppe taucht Señor de Maroño auf, und im Schlafzimmer geht das Licht an.

Señora Marián wach, auf dem Bettrand sitzend, in ihren Armen der heulende Micky, das Gesicht gegen ihren Busen gedrückt; Maroño, der die beiden mit seinem Körper deckte, seine versöhnlich gehobenen Hände; nehmt mit, was ihr wollt, sagte er in den kurzen Momenten, in denen Polo etwas hörte, während er ihm Hände und Knöchel mit Klebeband fesselte, nehmt alles mit, ich geb euch die Schlüssel, den Code für den Safe, was ihr wollt, aber bitte, dazu das Schluchzen der Frau und das Heulen des Kleinen und die hysterischen Schreie des Dicken, der nach Ruhe verlangte: Haltet den Mund, haltet verdammt noch mal den Mund, ich kann so nicht nachdenken, als wüsste er nicht mehr, was jetzt kam, was als Nächstes dran war, und ehrlich gesagt, konnte sich auch Polo nicht mehr erinnern; der Junge, bring den Jungen weg, rief der Dicke plötzlich, bring ihn zu seinem Bruder, damit er nichts mitkriegt; die riesigen Augen der Frau, als sie sie erkannte, trotz der Seidenstrümpfe und allem; wie fest sie das Kind an sich drückte, sich weigerte, es ihnen zu übergeben, trotz der Pistole; die überraschende Sanftheit, mit der Polo sich auf einmal an sie wandte: Keine Sorge, Señora, ich passe auf ihn auf, ich bring ihn zu seinem Bruder, versprochen; die zitternden leeren Hände der Tusse; ihr blasser, von Falten umgebener Mund; die schlaffe, sommersprossige Haut ihrer Brüste im Ausschnitt ihres Seidennachthemds; der krachende Schuss, der Maroño am Kopf traf, der Knall, der das Zimmer erschütterte, das ganze Haus, die regennasse Straße und bestimmt die ganze Anlage […].

Polo bringt den Kleinen ins Erdgeschoss, fesselt und knebelt ihn wie den Bruder. Bevor er ins Schlafzimmer zurückkehrt, trinkt er eine Flasche Tequila zur Hälfte aus. Polo hat inzwischen die Hose ausgezogen, und die Señora ist auch nur noch mit einem Slip bekleidet. Als er sie mit Klebeband fesselt, tritt der Dicke ihm in die Rippen: „Die Hände, hab ich gesagt, Scheiße, wie soll ich sie denn ficken, wenn du ihr die Beine zusammenbindest!“

Polo geht noch einmal hinunter zum Schnapsschrank, nimmt dann eine Handtasche und sammelt Wertsachen ein. Da taucht die nackte Frau auf der Treppe auf, Gesicht, Brüste, Hände blutverschmiert. Die Blutgräfin! Ein Schuss von oben lässt sie kopfüber stürzen. Im Auto bricht der Dicke über dem Lenkrad zusammen. Erst jetzt bemerkt Polo die Messerstiche im Rücken. Franco ist ebenso tot wie das Ehepaar de Maroño.

Polo rennt los, springt in den Fluss, durchschwimmt ihn, verliert alles, Schuhe, Schlüssel, Telefon, die Handtasche mit dem Schmuck.

Am Montagmorgen weckt ihn wieder seine Mutter. Er muss zur Arbeit, wie immer. In der Anlage „Paradais“ beobachtet er, wie Griselda ankommt und ahnungslos ins Haus der Familie de Maroño geht, um nach dem Wochenende ihren Dienst wieder aufzunehmen.

Wenn die Polizei eintrifft, wird Polo selbst die Schranke an der Pforte öffnen.

Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen.

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Fernanda Melchor beginnt ihren Roman „Paradais“ mit dem Satz: „Der Dicke war an allem schuld, das würde er ihnen sagen.“ Da ahnt man schon, dass es kein Happy End geben wird. Der 16-jährige Gärtner Polo jätet mit einer Machete und findet die Ruine auf dem Nachbargrundstück unheimlich, in dem die „Blutgräfin“ spuken soll. Kein Zweifel, es wird etwas Schreckliches geschehen.

Es geht in „Paradais“ um eine von Klassengegensätzen und Kriminellen geprägte Gesellschaft. Polo ist frustriert, weil er sich nicht nur ungerecht behandelt, sondern auch gedemütigt fühlt und keine Zukunftsperspektive hat. Ebenso desorientiert wie der 16-jährige Underdog ist das verwöhnte Muttersöhnchen Franco. Der Minderjährige hat sich in den Kopf gesetzt, mit der Nachbarin − Mutter zweier Söhne, Ehefrau eines reichen, aus dem Fernsehen bekannten Mannes − zu schlafen. Und aus diesem verrückten Begehren entwickelt sich eine todbringende Fantasie.

Fernanda Melchor erzählt auf gerade einmal 140 Seiten eine gewaltige Geschichte konsequent aus Polos Perspektive und in der Rückschau. Die Sprache in „Paradais“ ist roh und verzweifelt. Das klingt wie die Gossensprache eines halbwüchsigen Mexikaners aus dem Prekariat. In dessen Logorrhoe gibt es kaum Absätze. Trotzdem klingt die Sprache nicht nur kraftvoll, sondern auch poetisch.

Selbstverständlich ist der Protagonist nicht in der Lage, seine Situation akademisch zu analysieren. Dennoch gelingt es Fernanda Melchor, seinen widersprüchlichen Charakter (Shadowing) intensiv auszuleuchten und auf knappem Raum eine tiefgründige, vielschichtige Geschichte zu entwickeln.

Was geschieht ist schrecklich, aber Fernanda Melchor fügt auch tragikomische Szenen ein.

Fazit: „Paradais“ ist ein sprachgewaltiges Meisterwerk von Fernanda Melchor für Leserinnen und Leser mit starken Nerven.

Die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor wurde 1982 in Veracruz geboren. Sie studierte Journalismus an der Universidad Veracruzana und schrieb für mehrere Zeitschriften, bevor sie 2013 ihren Debütroman veröffentlichte: „Aquí no es Miami“. Inzwischen zählt Fernanda Melchor zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Lateinamerikas.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Fernanda Melchor: Saison der Wirbelstürme

Bela B Felsenheimer - Scharnow
In eine Schublade lässt sich "Scharnow", der Debütroman des Musikers Bela B Felsenheimer, nicht pressen, aber man könnte von einer Persiflage auf das Genre des Schund- bzw. Groschenromans mit Versatzstücken eines Comics sprechen. Der Autor erzählt mit überbordender Fabulierlaune, sprudelndem Einfallsreichtum und viel Sprachwitz eine durchgeknallte Geschichte.
Scharnow