Fernanda Melchor : Saison der Wirbelstürme

Saison der Wirbelstürme
Temporada de huracanes Penguin Random House, Mexiko-Stadt 2017 Saison der Wirbelstürme Übersetzung: Angelica Ammar Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019 ISBN 978-3-8031-3307-6, 237 Seiten ISBN 978-3-8031-4246-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Mexikanerin Fernanda Melchor versetzt uns in die Provinz ihres Heimatlandes, in eine von Armut und Trostlosigkeit, Gewalt und Grausamkeit geprägte Welt. In dieser Gesellschaft gibt es nur Abgehängte, für die ein Paar Adidas ein Luxus ist, um den sie sich prügeln ...
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Kritik

Fernanda Melchor spiegelt das Geschehen in "Saison der Wirbelstürme" aus den Blickwinkeln verschiedener Ich-Erzähler. Ohne Moralisierung porträtiert sie eine desolate Gesellschaft. Die sprachgewaltigen Parataxen entwickeln nicht zuletzt durch ihren Rhythmus eine besondere Expressivität.
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Die Hexe

Die Hexe haust außerhalb von La Matosa, einem Kaff in der mexikanischen Provinz. Das abgelegene Haus hatte der Großmutter ihres Lebensgefährten Manolo Conde gehört: Señora Chucita Villagarbosa de los Monteros de Conde. Don Manolo ist allerdings nicht mit ihr, sondern mit einer Frau im Nachbardorf Montiel Sosa rechtmäßig verheiratet. Als er stirbt, hält der Arzt zwar einen Herzinfarkt für die Ursache, aber es heißt, die Hexe habe ihn vergiftet.

[…] jaja, und zwar des Geldes wegen, um an seine Kohle, sein Haus und seine Ländereien zu kommen, an die hundert Hektar Feld- und Weideland, die ihm sein Vater vererbt hatte, also das, was noch davon übrig war, nachdem er fast alles stückchenweise an den Gewerkschaftsführer der Zuckerrohrfabrik verkauft hatte, um bloß nie arbeiten zu müssen […]

Der Leichenzug, ein Autokorso, wird von Don Manolos ehelichen Söhnen angeführt. Die beiden sterben, als von einem entgegenkommenden Lastwagen Eisenstangen fallen und die Windschutzscheibe durchbrechen. Die Hexe habe sie verflucht, tuschelt man.

Als es sich herumspricht, dass die Witwe für Sex bezahlt, pilgern Burschen und Männer in Scharen zu dem Haus und prügeln sich, weil jeder als Nächster hinein will.

Frauen kommen dagegen zu der Witwe, weil sie Hilfe von ihr erwarten.

[…] sie anzuflehen, ihnen zu helfen, ihnen einen dieser Tränke zu mischen, von denen die Frauen im Dorf noch immer redeten, eines dieser Mittelchen, mit denen man die Männer gefügig machen und an sich binden oder sich für immer vom Leib halten konnte, einen der Tränke, die einfach nur die Erinnerung auslöschten, oder jene, deren Wirkung sich auf den Samen konzentrierte, den diese elenden Schufte ihnen in den Unterleib gespritzt hatten, bevor sie in ihren Lastwagen auf und davon gefahren waren, oder jene anderen noch machtvolleren Wundermittel, die das Herz angeblich von den täuschenden Lockungen des Selbstmords erlösten. Kurzum, sie waren die Einzigen, denen die Hexe Beistand zu leisten beschloss, kurioserweise ohne dafür einen einzigen Peso zu verlangen, zum Glück für die Straßenmädchen, von denen die meisten sich kaum eine tägliche Mahlzeit leisten konnten, vielen gehörte nicht mal das Handtuch, mit dem sie sich die Körpersäfte der Männer abwischten, die sie fickten, vielleicht tat sie es aber einfach nur, weil die Straßenmädchen sich nicht schämten, mit unverhülltem Gesicht und aufrechtem Gang zu ihr zu kommen […]

Gerüchten zufolge hortet die Hexe in ihrem mit Gerümpel vollgestopften, völlig verdreckten Bau einen Schatz. Man redet von Goldmünzen und einem faustgroßen Diamantring aus dem Erbe von Don Manolos Großmüttern.

Einige Jahre nach Manolos Tod entdecken Besucherinnen ein Kind in der Küche der Hexe, ein heimlich und in Schande geborenes Geschöpf. Als das Hexenmädchen groß genug ist, schickt die Alte es zu Fuß zum Markt in der 13 Kilometer entfernten Kleinstadt Villa. Und schließlich fing das Hexenmädchen an, nicht nur Bargeld statt Mitbringsel für die Handreichungen der Mutter zu verlangen, sondern auch Geld zu verleihen, für 35 Prozent Zinsen und mehr.

1978, im Jahr des Erdrutsches, kommt es von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet in die Stadt. Die Mutter scheint gestorben zu sein, und das Hexenmädchen übernimmt nun deren Rolle.

Aber dann stößt eine Bande von Kindern auf eine aufgequollene Leiche im Bewässerungskanal der Zuckerrohrplantage. Jemand schlug der Hexe den Schädel ein und schnitt ihr die Kehle durch.

Yesenia

Eine Bewohnerin von La Matosa namens Yesenia beobachtet zufällig, wie zwei Kerle die Küchentür des Hexenhauses von innen aufstoßen, eine leblose Person zu einem Auto tragen, in dem ein Dritter auf sie wartet und dann mit ihnen wegfährt.

Bei dem Mann hinter dem Lenkrad handelt es sich um einen Krüppel, den alle Welt Munra nennt. Es ist der Mann der Frau, die Yesenias Cousin Maurilio Camargo Cruz alias Luis Miguel alias Luismi zur Welt brachte: Chabela. Und der Junge ist auch dabei.

[…] ohne Großmutter wäre dieser Mistkerl schon längst tot; weil seine Hurenmutter sich einen Dreck um ihn gekümmert hatte […]

Yesenias Onkel Maurilio und ihre Tante Chabela haben das Kind von klein auf seiner Großmutter Tina überlassen. Maurilio, der vermutlich gar nicht der Vater des gleichnamigen Jungen war, saß schließlich wegen vorsätzlicher Tötung eines Mannes neun Jahre lang im Gefängnis. Als er schwer erkrankte, ließ seine Mutter Tina ihn in die teuerste, für die Angestellten der Ölfirmen gebaute Klinik in Villa bringen. Um die Rechnungen bezahlen zu können, verkaufte sie ihre Kneipe und das Grundstück – obwohl sich ihre Töchter Negra und Balbi darüber die Haare rauften. Am Ende nahm sie noch Geld für eine prunkvolle Beerdigung Maurilios auf.

Über Jahre stotterte die Großmutter Bestattung und Grab ab, indem sie Säfte auf einem Lastendreirad am Ortseingang von Villa verkaufte, gleich bei der Tankstelle. Selbst wenn sie krank war, musste sie im Morgengrauen aufstehen, zum Markt fahren und Kisten voller Orangen, Karotten, Rote Bete, Mandarinen und je nach Saison Mangos auf dem Dreirad stapeln, während Yesenia zu Hause auf die kleineren Cousinen und diesen Knirps aufpasste, der zu einem verfluchten Hurensohn heranwuchs und Yesenia das Leben schwermachte, die als Älteste eine große Verantwortung trug, wenn die Großmutter nicht da war, für das Haus und die Cousinen und den kleinen Idioten, und sie war es, die deshalb immer die übelsten Standpauken und Schläge abbekam, wenn irgendetwas schiefging, wenn die Anordnungen der Großmutter nicht befolgt wurden, und Yesenia war es auch, die dafür geradestehen musste, wenn ihr Cousin etwas ausgefressen hatte, wenn die Nachbarinnen zu ihnen kamen und sich beschwerten, weil der elende Kerl Erfrischungsgetränke aus ihrem Laden geklaut hatte, sich in ihre Häuser geschlichen und Lebensmittel eingepackt hatte oder Geld und was er sonst noch so fand, oder die kleineren Kinder verprügelt hatte, oder wenn er wieder, was er gerne tat, mit Streichhölzern spielte und fast den Schuppen der Klatschtanten nebenan, mitsamt den Hühnern und allem Drum und Dran, in Brand setzte – immer war es Yesenia, die überall vorbeigehen und sich für den Kerl entschuldigen, mit Unschuldsmiene für den Schaden aufkommen musste, den er angerichtet hatte […]

Munra

Don Isaías, den alle Welt respektlos Munra nennt, ist seit einem Verkehrsunfall im Februar 2004 gehbehindert. Eigentlich wollten die Ärzte ihm ein Bein amputieren, aber am Tag vor der geplanten Operation floh er aus dem Krankenhaus.

[…] und am Ende hatte er es all den Wichsern von Ärzten gezeigt, denn das Bein entzündete sich nicht und starb ihm auch nicht ab, es blieb eben einfach nur nach innen gedreht, nicht wahr?, der Fuß so halb eingefaltet, aber trotzdem konnte er gehen, sogar ohne die Krücken kam er ganz gut ein paar Schritte voran, oder? Er war nicht an einen Rollstuhl gefesselt, nicht wahr? Und außerdem hatte er seinen Wagen, den hatte er einem Alten aus Matacocuite, der ihn aus Texas hergebracht hatte, zu einem Spottpreis abgekauft, dreißigtausend Piepen, gerade mal die Hälfte der Entschädigung, die er von der Firma des Lastwagenfahrers bekam, der ihn zusammengefahren hatte.

Munra lebt seit einiger Zeit mit Chabela zusammen. Darüber, dass sie den Lebensunterhalt mit Prostitution verdient, mag er nicht nachdenken.

Warum zum Teufel sollte er das wissen, diese Scheiße im Kopf haben wollen, nicht wahr? Kindchen, sagte er ja auch immer zu Chabela, wie gut, Schätzchen, sagte er zu ihr, dass deine Kunden so feine Herrschaften sind, alles Scheißkavaliere, aber erzähl mir nichts weiter, keine Einzelheiten, ich will nicht wissen, wie sie heißen oder woher sie kommen, ob ihr Schwanz dick oder dünn, krumm oder gescheckt ist, weil die verdammte Chabela immer Geschichten von der Arbeit ausplaudern wollte, von den Kerlen, mit denen sie zu tun hatte, und den Streitereien mit den anderen Weibern im Excálibur, aber Munra mochte das nicht […]

Auf Chabelas Hof in La Matosa, gegenüber dem Wohnhaus, hat sich Munras Stiefsohn Luismi eine Bretterhütte gebaut, in der er kürzlich eine schwangere Ausreißerin namens Norma aufgenommen hat, von der Chabela sagt, sie sei wie eine Tochter für sie.

Luismi und sein Kumpel Brando fordern Munra eines Abends in Villa auf, sie nach La Matosa zu fahren. Brando gibt ihm etwas Geld fürs Benzin. Die Jungen wollen zur Hexe. Sie dringen durch die Küchentür in das ansonsten verbarrikadierte Haus ein, und Munra wartet im Auto mit laufendem Motor, bis Brando und Luismi die bewusstlose, blutüberströmte und vor Schmerzen stöhnende Hexe in den Wagen zerren, bei der es sich – wie Munra erst jetzt begreift – um einen Frauenkleidung tragenden Mann Mitte 40 handelt.

Norma

Norma wächst in Ciudad del Valle auf. Eines Morgens, als sie aufwacht, ist die Mutter nicht da, hat aber die Tür abgeschlossen. Zwei Tage später kehrt sie mit tiefen Augenringen und einem Säugling zurück.

[…] ihr Bruder Manolo, ein verrunzelter, plärrender Gnom, der ständig an den Brüsten ihrer Mutter hing und sich jedes Mal die Seele aus dem Leib brüllte, wenn Norma auf ihn aufpassen sollte, während ihre Mutter Arbeit suchte. Und nach Manolo kam Natalia, und nach Natalia kam Gustavo, und dann Patricio, der arme Patricio, und die gemieteten Zimmer wurden immer kälter und feuchter, und Norma sah ihre Mutter kaum noch, weil sie endlich Arbeit in einer Jackenfabrik gefunden hatte […]

Als Norma zwölf Jahre alt ist, zeigt ihr der neue, 17 Jahre ältere Stiefvater Pepe, wie man küsst. Er schiebt ihr einen Mittelfinger in die Vagina und kopuliert schließlich mit ihr, wenn die Mutter bei der Arbeit ist. Ahnungslos schimpft die Frau ihre Tochter:

Wenn ich zu hören kriege, dass du dich mit diesen kleinen Wichsern aus der Schule abgibst, jag ich dich aus dem Haus, hast du mich verstanden? Pepe und ich reißen uns nicht den Arsch auf, damit du Früchtchen in Ruhe rumhuren kannst […]

Mit 13 wird Norma von Pepe schwanger. Daraufhin verlässt sie Ciudad del Valle und strandet in Villa. Luismi, dem sie dort begegnet, besorgt ihr etwas zu essen und nimmt sie mit in seinen Bretterverschlag auf dem Grundstück seiner Mutter in La Matosa.

Seine Mutter schenkt ihr ein Kleid und merkt dabei, dass sie schwanger ist. Chabela erinnert sich deshalb daran, wie ihr das Gleiche passierte, als sie 15 war.

Sein [Luismis] Vater war genauso bescheuert, sagte Chabela, eine Gabel mit kalt gewordenem Essen schwenkend; aber noch bescheuerter war ich, mich von diesem Schwachkopf schwängern zu lassen; nur weil ich so dumm, aber wirklich, hirnverbrannt war; weil Maurilio mich mit seiner Süßholzraspelei gekriegt hat, mit seinen bescheuerten Liedern und vor allem mit seinem Schwanz; mit vierzehn hab ich ihn kennengelernt, war gerade nach Villa gekommen, weil ich es satt hatte, dass ich auf der Farm Zitronen pflückte und mein Vater sich das ganze Geld unter den Nagel riss, um es zu versaufen oder beim Hahnenkampf zu verwetten; ich hatte von der neuen Landstraße gehört, die hier gebaut wurde, um die Ölfelder mit dem Hafen zu verbinden, und irgendjemand sagte, dass das eine Goldgrube war und es Arbeit zuhauf gab; ich hatte von nichts eine Ahnung außer Zitronenpflücken, trotzdem kam ich her, ganz allein, und Scheiße, stell dir vor, was das für eine Überraschung war, als ich gesehen hab, dass dieses Dorf ein noch schlimmeres Dreckskaff war als Matadepita, Scheiße, und der einzige Ort, wo ich Arbeit bekam, war die Kneipe von Doña Tina, der alten Schlange mit dem Arschgesicht, geizig wie sonst noch was. Ich musste das Drecksweib jedes Mal fast anbetteln, damit sie mich bezahlte, und sie warf mir vor, ich würde das Trinkgeld behalten, aber welches Trinkgeld, in dieses beschissene Loch verirrten sich ja nicht mal die Fliegen. Aber dieses Aas hielt sich für ne feine Dame, ganz anständig und etepetete, als hätte der Heilige Geist höchstpersönlich ihr den Haufen Kinder gemacht, Scheiße; als hätte sie die Kneipe und das Grundstück nicht von der Kohle bezahlt, die sie sich auf den Schwänzen von Tagelöhnern und Tellerwäschern verdiente, als die sich hier an der Landstraße niederließen. Das alte schwarze Drecksvieh, jetzt macht sie auf edle Heilige, dabei sind ihre beiden Töchter noch schwärzer und noch größere Schlampen als sie selbst, von den Enkelinnen ganz zu schweigen. Immer haben diese Huren über mich hergezogen, vom ersten Tag an haben sie mich behandelt wie das letzte Stück Dreck, und erst recht, als sie dahinterkamen, dass ich was mit Maurilio hatte […] Und der verdammte Maurilio hat mich nie vor ihnen in Schutz genommen, dieses schnorrende Weichei. Ich weiß wirklich nicht, wie ich so idiotisch sein konnte, mir von dem Arschloch ein Kind machen zu lassen […]

Ein halbes Jahr lang waren Chabela und Maurilio zusammen, dann kam er ins Gefängnis und sie musste sich prostituieren, um nicht zu verhungern. Dass sie schwanger war, merkte sie erst, als es zu spät für eine Abtreibung war.

Chabela bringt Norma zur Hexe, und die braut einen Trank für sie.

Als sie heftig blutet, fahren Munra und Luismi sie ins Krankenhaus. Dort gibt Luismi sich als Ehemann der Patientin aus, aber eine Sozialarbeiterin will Papiere sehen und droht ihm mit der Polizei, weil sie annimmt, dass er eine Minderjährige missbraucht habe.

Brando

In dem Jahr, in dem Brando 16 wird, beschließt er, endlich ein Mädchen aufzureißen, statt nur immer zu masturbieren. Die Mutter weint; sie will nicht, dass er zum Karneval geht und droht, es seinem Vater zu sagen. Aber der hat seit Jahren nicht einmal angerufen, und Brandos Mutter ist wohl die einzige Person in Villagarbosa, die nicht weiß, dass sein Vater längst eine andere Familie in Palogacho hat.

Nach durchzechter Nacht sitzt Brando in Manras Auto und bemerkt erst während der Fahrt Richtung Matacocuite, dass außer seinen Freunden auch ein Mädchen im Fond sitzt.

Willy war der Erste, der ihr an die Klamotten ging; er grabschte ihre Titten aus dem Kleid und zog heftig an ihren Brustwarzen, als wollte er sie melken, aber die Tussi fand das toll, sie fing an zu stöhnen und sie anzuflehen, sie sollten sie auf der Stelle ficken, allesamt, dort im Chevy, und das taten die Dreckskerle auch, einer nach dem anderen, erst Willy, der Bastard, dann Mutante, dann Gatarrata, Borrega und Canito, alle außer Munra, der am Steuer saß und im Rückspiegel alles beobachtete, ziemlich schlecht gelaunt, weil die Schweine ihm die Sitze versauten; und alle außer Luismi, der so durch und so zugedröhnt war, dass er auf dem Beifahrersitz eingepennt war, das Gesicht an die Fensterscheibe gedrückt, während Brando das Ganze fasziniert und entsetzt zugleich mitverfolgte.

Das Mädchen ist bewusstlos, als Brando aufgefordert wird, sie ebenfalls zu nehmen. Lustlos macht er sich an ihr zu schaffen, aber da fängt ihr Urin zu sprudeln an, und nach einer Schrecksekunde lachen sich die Freunde halb tot.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Mit 19 hält Brando es in der Provinz nicht länger aus. Er will nach Cancún.

[….] dann würde er ein bisschen Englisch lernen und die Hotels abklappern, da gab es garantiert immer ein paar schwule Yankee-Touristen, die Lust auf einen kleinen Fick hätten, aber er würde nie am selben Ort bleiben, immer auf Achse sein, lutschen, vögeln, abhängen, immer mit Blick aufs türkisblaue Meer.

Er hatte das Dorf satt, hatte Leticias Geschwafel satt und das Theater, das sie am Telefon veranstaltete, weil Brando sie nicht mehr vögeln wollte. Diese verfluchte Schwarze hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein Kind von Brando zu kriegen; ihr Mann war ein Schwachkopf ohne Eier, sagte sie, mit dem würde das nie klappen, selbst wenn er sie jeden Tag vögelte, deshalb sollte Brando zu ihr kommen und sie schwängern. Sie würde das Kind aufziehen, als wäre es von ihrem Mann, sagte sie; Brando musste sich um nichts kümmern, nur ihre Möse mit seinem Saft füllen und ihr ein Kind machen, sagte diese Schwachsinnige. Ihr ein Kind machen! Scheiße, Brando würde ganz bestimmt nichts von sich in diesem Dreckskaff zurücklassen. Nein, Mann, den Gefallen würde er ihr nicht tun, da konnte sie noch so betteln, sogar Kohle bot sie ihm an.

Um es nach Cancún zu schaffen, benötigt Brando Geld. Das, so denkt er, könnte er sich von der Hexe holen. Die soll ja über einen Schatz verfügen.

Bevor er weiter planen kann, kommt Luismi zu ihm und berichtet, dass Norma im Krankenhaus liegt und er vermutet, die Hexe habe ihr etwas angetan. Deshalb sinnt er auf Rache.

Noch am selben Abend lassen sich Brando und Luismi von Munra nach La Matosa fahren.

Brando schlägt die Hexe mit einer Krücke Munras nieder. In den verwahrlosten Räumen suchen er und Luismi allerdings vergeblich nach Geld oder Schmuck. Schließlich zerren sie die bewusstlose Alte – bei der es sich um einen Transvestiten handelt – zum Auto und fahren mit ihr zum Abwasserkanal der Zuckerrohrplantage. Dort drückt Brando seinem Komplizen Luismi das Messer in die Hand, das er aus der Küche der Hexe mitgenommen hat. Weil Luismis Schnitt in die Kehle nur bewirkt, dass sie die Augen aufreißt und die blutigen Zähne bleckt, führt Brando ihm bei zwei weiteren Versuchen die Hand.

Später kehrt Brando heimlich mit dem Fahrrad zurück und durchsucht nochmals das Haus der Hexe, wieder vergeblich.

Bald darauf wird Brando in Villa von drei Polizisten gepackt, niedergeknüppelt und in den Streifenwagen geschoben. Angeführt werden sie von dem Kommandanten Rigorito.

Wo ist das Geld, Tuntenkiller, sagten sie und versetzten ihm einen Hieb in die Magengrube; welches Geld, schrie Brando, keine Ahnung, wovon ihr redet, und Rigorito: Stell dich nicht blöd, Tuntenkiller, raus mit der Sprache, wo ist die Kohle, oder ich fackel dir die Eier ab […]

Erst als sie ihm Elektrokabel an die Hoden halten, berichtet er von einer fest verschlossenen Tür im Obergeschoss des Hexenhauses. Dort könnte die Hexe ihren Schatz versteckt haben, meint er. Daraufhin donnern die Beamten mit dem Streifenwagen los.

Später verbreiten sich verschiedene Gerüchte. Die einen erzählen, dass die Polizisten in dem aufgebrochenen Zimmer nicht nur Gold- und Silbermünzen, sondern auch Juwelen gefunden hätten und mit ihrem Streifenwagen davongefahren seien. Hinter Matacocuite habe Rigorito seine Begleiter umgebracht, um die Beute nicht mit ihnen teilen zu müssen. Andere haben gehört, dass die Polizisten nach dem Aufstemmen der Tür auf die Mumie der Hexenmutter gestoßen seien, die auf einem Eichenbett gelegen habe und sogleich zerfallen sei.

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In ihrem Roman „Saison der Wirbelstürme“ versetzt uns die Mexikanerin Fernanda Melchor (*1982) in die Provinz ihres Heimatlandes, in eine von Armut und Trostlosigkeit, Gewalt und Grausamkeit geprägte Welt. In dieser Gesellschaft gibt es nur Abgehängte, für die ein Paar Adidas ein Luxus ist, um den sie sich prügeln.

Die Geschichte, die Fernanda Melchor erzählt, dreht sich um die Ermordung eines als Hexe verschrienen Transvestiten durch zwei Jugendliche. Aber „Saison der Wirbelstürme“ ist kein Kriminalroman. Es finden auch keine Ermittlungen statt: den zuständigen Polizisten geht es nicht um die Aufklärung der Bluttat, sondern um das vom Mordopfer angeblich versteckte Geld.

Fernanda Melchor spiegelt das Geschehen aus verschiedenen Perspektiven und lässt in jedem Kapitel eine andere Figur in der Ich-Form zu Wort kommen. Dabei erfahren wir einiges über ihre zerrütteten Familienverhältnisse. Dieses ohne Moralisierung entworfene Porträt einer desolaten Gesellschaft ist erschütternd, und die dichte, düstere Atmosphäre lässt uns beim Lesen nicht mehr los. „Saison der Wirbelstürme“ wirkt wie eine neue Variante des magischen Realismus. Die Autorin schreckt in ihrem Furor nicht vor hässlichen Szenen und Formulierungen zurück. Für Angelica Ammar muss es schwierig gewesen sein, Fernanda Melchors Sprachgewalt aus dem mexikanischen Spanisch ins Deutsche zu übertragen. Die Parataxen entfalten nicht zuletzt durch ihren Rhythmus eine besondere Expressivität.

Für „Saison der Wirbelstürme“ erhielt Fernanda Melchor den Anna Seghers Preis 2019.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Fernanda Melchor: Paradais

Londa Schiebinger - Schöne Geister
"Ziel des vorliegenden Buches ist es, die langanhaltende Feindschaft zwischen der Wissenschaft und dem zu erforschen, was in den westlichen Kulturen als 'Weiblichkeit' definiert wurde." (Londa Schiebinger).
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