Gianna Molinari : Hier ist noch alles möglich

Hier ist noch alles möglich
Hier ist noch alles möglich Aufbau-Verlag, Berlin 2018 ISBN: 978-3-351-03739-0, 192 Seiten ISBN: 978-3-8412-1618-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die rudimentäre Handlung dreht sich um eine Ich-Erzählerin, die in einer abgewirtschafteten, vor der Schließung stehenden Kartonfabrik als Nachtwächterin anfängt und sich in einer leerstehenden Halle ohne Heizung einrichtet. "Hier ist noch alles möglich", denkt sie. Ihr Umgang beschränkt sich auf einige der wenigen in dem Unternehmen noch Beschäftigten und eine Mechanikerin am nahen Flughafen.
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Kritik

Der Roman "Hier ist noch alles möglich" von Gianna Molinari bleibt bis zum Ende mehrdeutig und geheimnisvoll. Die verstörend stoische Ich-Erzählerin gibt nichts von sich preis, und wir erfahren nicht einmal ihren Namen. Gianna Molinari lässt sie im Präsens und in schnörkellosen Hauptsätzen zu Wort kommen.
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Die Kartonfabrik

Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, bewirbt sich in einer Kartonfabrik außerhalb einer Stadt als Nachtwächterin. Obwohl das vom Großvater des Firmenchefs gegründete Familienunternehmen kaum noch Aufträge erhält, die meisten Maschinen schon abgestellt sind und die Schließung bevorsteht, wird die Bewerberin als Nachfolgerin der bereits ausgeschiedenen Nachtwächterin Beatrice eingestellt.

Einst wurden hier Stulpschachteln, Tragpackungen, Versandkuverts, Geschenkschachteln, Kartonboxen, Archivschachteln, Transport-, Verkaufs-, und Präsentationsverpackungen jeder Form und Größe hergestellt, aus Well-, Voll-, Hartkarton, Kompakt- oder Graupappe. Jetzt beschränkt sich die Produktion auf Faltschachteln.

Die neue Nachtwächterin erhält auf ihren Wunsch hin sogar eine leerstehende Halle über dem Raum mit den vier Überwachungsmonitoren als Unterkunft. Dort gibt es zwar Strom und Wasser, aber keine Heizung.

Die beiden Schichten teilt sich die neue Nachtwächterin wie schon ihre Vorgängerin mit einem 28-Jährigen namens Clemens. Der Sohn einer Museumspräparatorin fragt sie, warum sie auf dem Fabrikgelände wohne statt  in der nahen Stadt etwas zu mieten.

Warum bist du eigentlich in die Fabrik gekommen, fragt Clemens. Du könntest anderes tun. Studieren, reisen. Warum bist du hier, fragt er.
Es gefällt mir hier. Das ist ein guter Ort. Hier ist noch alles möglich.

Für die Zeit nach der Werksschließung träumt Clemens von Reisen. Der Fabrikant hat sich vorgenommen, seine Memoiren zu schreiben.

Erst auf Nachfrage erfährt Clemens von seiner Kollegin, dass sie zuletzt in einer Stadt weiter südlich lebte und in einer Bibliothek arbeitete.

Hätte ich ihm erzählen sollen, dass ich in einer Stadt weiter südlich meine Möbel in ein Brockenhaus gebracht, dass ich mein Konto aufgelöst und alle bestehenden Verträge gekündigt habe, die letzte Miete bezahlt, den Schlüssel der Vermieterin in den Briefkasten geworfen habe und weggegangen bin?

Ich möchte ihm gerne sagen, dass ich mich dafür entschieden habe, nicht an einem Ort zu verharren, mich nicht festzulegen, mich nicht an einen Lebenslauf zu halten, nicht Teil von einer einzigen Geschichte zu sein, sondern, wenn überhaupt, dann von vielen Geschichten zugleich.

Das alles möchte ich ihm gerne sagen, aber dann denke ich, dass ich mich nicht in Erklärungsversuchen verstricken sollte, dass dies hier auch nur ein Umfeld ist, das es irgendwann zu verlassen gilt.

Wolf

Der für die Kantine zuständige Koch glaubt, bei den Müllcontainern einen Wolf gesehen zu haben. Im Zaun gibt es Löcher, durch die auch ein so großes Tier auf das Fabrikgelände gelangt sein könnte. Eine Reparatur oder gar Erneuerung des Zauns lohnt sich nicht mehr, aber der Unternehmer lässt Tellereisen aufstellen und beauftragt die beiden Nachtwächter mit dem Aushub einer Fallgrube.

Die neue Nachtwächterin denkt:

Ich bin froh um den Wolf. Vielleicht verleiht der Wolf meiner Tätigkeit eine Wichtigkeit.

Da sind die Fabrik, die Gebäude, meine Halle und die Wände in der Halle, die abgebröckelten Stellen daran, mein Bett, das Buch Canis Lupus, das Universal-General-Lexikon und weitere Bücher, der Stuhl, meine Kleider, das Waschbecken, das Glas, meine Zahnbürste darin, der Spiegel, der Tisch, die Blätter auf dem Tisch, die Blätter am Boden, der Kopierer, die Fenster, die Aussicht aus dem Fenster, der Koch, der Chef, [der Arbeiter] Lose, Clemens, kein Wolf.
Je länger ich in der Fabrik bin, desto häufiger denke ich, dass es einfacher wäre, die Welt als Scheibe zu denken, mit klarem Rand, mit Welt und Nichtwelt, mit Etwas und Nichts. Aber die Welt ist keine Scheibe. Die Welt ist nicht ausschließlich Etwas: Auf der Welt gibt es Stellen von Nichts. Der Wolf ist eine davon.

Eine Seitenwand der noch unfertigen Grube stürzt ein. Das Nachtwächterpaar erweitert das Loch entsprechend und verschalt die Wände.

Flugzeuge und ein aus dem Himmel gefallener Mann

Bei einem Rundgang zeigt Clemens seiner Kollegin eine mit einem Kreuz markierte Stelle. Dort wurde vor acht Jahren die Leiche eines Mannes gefunden. Ein Arbeiter namens Lose hat alles über den Fall in einer Mappe gesammelt. Der Freizeitjäger saß damals auf einem Hochsitz und glaubte kurz, es sei etwas vom Himmel gefallen. Weil er annahm, es habe sich um eine Sinnestäuschung gehandelt, sah er nicht nach, aber drei Wochen später hörte er in den Nachrichten von der Leiche eines dunkelhäutigen Mannes ohne Papiere und begriff, dass er den Toten vom Himmel fallen gesehen hatte. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Flüchtling aus Kamerun, der sich im Radkasten eines Flugzeugs versteckt hatte, erfroren war und beim Ausfahren des Fahrgestells herausfiel.

Zwei Wochen bevor die Kartonfabrik schließt, wechselt Lose als Busfahrer zum nahen Flughafen. Als die Nachtwächterin ihn am neuen Arbeitsplatz besucht, fällt ihr auf, dass es dort mehr Überwachungskameras als die vier in der Kartonfabrik gibt. Beim Anblick der Flugzeuge denkt sie darüber nach, wie viele Flöhe erforderlich wären, um eines davon zu ziehen.

Wie viele Flöhe braucht es, um ein Flugzeug zu ziehen?
Ein Floh kann das 20 000fache seines Körpergewichts ziehen. Das Körpergewicht eines Flohs beträgt circa 0,6 mg.
0,6 mg = 0,0006 g
0,0006 g × 20 000 = 12 g = 0,012 kg
Das Leergewicht einer Boeing 737–700 beträgt 37 648 kg.
37 648 kg/0,012 kg = 3 137 333,333
3 137 334 Flöhe braucht es, um eine leere Boeing 737–700 zu ziehen.

Eine Passagierin im Flughafenbus glaubt, Lose zu kennen, aber sie verwechselt ihn offenbar mit einem Maler in ihrer früheren Nachbarschaft.

Die Nachtwächterin lernt die Flugzeugmechanikerin Erika kennen und lässt sich von ihr zeigen, wie eine gelandete Maschine vor dem Weiterflug gewartet wird.

Wenn Erika etwas nicht weiß, dann hat sie die Möglichkeit, in der Anleitung nachzuschauen. Es gibt für alles eine Anleitung.
Ich wünsche mir, wie Erika zu sein, eine solche Anleitung zu besitzen und einen Werkzeugkasten mit Schraubenzieher und Zangen und zu wissen, welche Schraube an welchen Ort gehört und aus welchem Grund, einen solchen Overall zu tragen, mit leuchtenden Neonstreifen an den Oberarmen, mich so sicher zu bewegen wie sie, aufrecht mit großen Schritten, mich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen, nicht durch eine fehlerhafte Hydraulik, nicht durch einen abgebrochenen Flugzeugflügel. Mich bringt schon ein unsichtbarer Wolf aus der Fassung.
Mein Universal-General-Lexikon ist nicht mit Erikas Anleitung zu vergleichen. Das Lexikon ist weniger universal und general, wie es scheint, es gibt Lücken, Fehlendes, Unerwähntes. Beispielsweise steht dort nichts über Fahrwerke drin, auch nichts über den Walk-around-Check. Die Fallgrube hingegen ist Bestandteil, auch Wellkarton und Wolf.
Ich füge die fehlenden Begriffe am schmalen Seitenrand hinzu und zweifle daran, dass die Seitenränder des Lexikons ausreichen werden, um aus dem Universal-General-Lexikon ein lückenloses Universal-General-Lexikon zu machen.

Bald darauf erfährt die Nachtwächterin von Lose, dass Erika mit einem Film- und einem Forscherteam in den Himalaya gereist und dort für die Wartung des Hubschraubers zuständig ist.

Eine Bankräuberin

Clemens zeigt seiner Kollegin ein Phantombild der Polizei, mit dem nach einer Frau gefahndet wird, die eine Bank in der Stadt überfiel und dabei von einem Komplizen unterstützt wurde. Bei der Flucht mit einem fünfstelligen Geldbetrag schoss sie einen Angestellten an. Clemens ist die Ähnlichkeit der gesuchten Verbrecherin mit seiner Kollegin aufgefallen, und er hält es augenscheinlich für denkbar, dass es sich bei ihr um die Bankräuberin handelt. Das würde auch erklären, warum sie auf dem Fabrikgelände wohnt, wo die Polizei keine Mieter vermutet.

Auch der Koch hält die Ähnlichkeit der Nachtwächterin mit dem Phantombild für verblüffend.

Wolf

In ihrer Wohnhalle sieht sie plötzlich den Wolf. Sie flieht aus dem Raum, und als sie zurückkommt, ist das wilde Tier nicht mehr da.

Ich stehe vor meiner Hallentür und drücke die Klinke. Vorsichtig spähe ich hinein. Der Wolf ist nirgends zu sehen. Fast bin ich enttäuscht.

Aber am nächsten Tag erblickt sie ihn erneut. Vielleicht handelt es sich auch um ein anderes Tier aus dem Wolfsrudel, denn es kommt ihr größer als das andere vor. Beim nächsten Mal fotografiert sie den neben dem Bett sitzenden Wolf.

Ich zoome den Wolf heran, stelle scharf und drücke ab. Ein feines Blitzlicht erhellt den Raum, der Wolf zuckt kurz zusammen, dann dreht er den Kopf und gähnt.

Der Wolf ist noch da, als Clemens klopft und hereinkommt. Unbemerkt von ihm verlässt das wilde Tier den Raum.

Der Koch tritt versehentlich in eines der Tellereisen und wird schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht.

An der Kantinentür hängt ein Zettel: Wegen Krankheit vorübergehend geschlossen. Alle wissen, dass nicht eine Krankheit der Grund dafür ist, warum die Kantine geschlossen hat. Alle wissen, dass vorübergehend in diesem Fall für immer heißt. Der Koch wird nicht mehr zurückkommen. Es wird auch kein neuer Koch mehr eingestellt werden. Ein Koch und eine Kantine sind keine Notwendigkeit mehr. Der Chef hat das Datum der Schließung bekannt gegeben. Noch bis Ende des Jahres werden die Löhne bezahlt […].

Weil es in der Kantine nichts mehr gibt, muss die Nachtwächterin zum Einkaufen in die Stadt. Am Eingang des Ladens hängt ein Fahndungsplakat mit dem Phantombild, und sie hat den Eindruck, dass einige der Kundinnen sie misstrauisch mustern. Clemens hilft ihr, einen Kühlschrank und eine elektrische Herdplatte aus der Kantine in die Wohnhalle zu tragen.

Schließlich ist die Fallgrube drei Meter tief und fertig.

Wir haben den Deckel über die Grube gelegt und Äste und Laub darüber. Die Falle ist bereit.

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Der Roman „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari bleibt bis zum Ende mehrdeutig und geheimnisvoll. Die rudimentäre Handlung dreht sich um eine Ich-Erzählerin, von der wir kaum mehr erfahren als über einen vom Himmel gestürzten Flüchtling. Sie fängt in einer abgewirtschafteten, vor der Schließung stehenden Kartonfabrik als Nachtwächterin an und richtet sich in einer leerstehenden Halle ohne Heizung ein. „Hier ist noch alles möglich“, denkt sie. Nach Heimat sieht das nicht aus. Aber sie rechnet ohnehin nicht mit einem langen Aufenthalt. Nur wenn es sein muss, geht sie in die benachbarte Stadt zum Einkaufen. Ihr Umgang beschränkt sich auf einige der wenigen in dem Unternehmen noch Beschäftigten und eine Mechanikerin am nahen Flughafen.

Durch den kaputten Zaun soll ein hungriger Wolf aus dem Wald (Natur) bis zu den Müllcontainern mit Essensresten auf dem Werksgelände (Zivilisation) vorgedrungen sein. Der Chef lässt Fallen aufstellen, aber nicht das wilde Tier, sondern der Kantinenkoch gerät in eines der Tellereisen. Am Ende sitzt das wilde Tier bei der Nachtwächterin in der Wohnhalle – aber vielleicht bildet sie sich das nur ein.

Immer wieder stellt sich die Ich-Erzählerin vor, wie etwas verlaufen könnte (was wäre wenn). Vielleicht ist die erzählte Geschichte bzw. die Wahrnehmung der Protagonistin auch nur eine von vielen möglichen. Es ist wohl kein Zufall, dass Gianna Molinari mehrmals auf Überwachungskameras eingeht. Die befinden sich zwar in ein und derselben Realität, sind jedoch auf verschiedene Blickwinkel ausgerichtet.

Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht kennen, beneidet die Flugzeugmechanikerin Erika um die schriftlichen Anleitungen, in denen jeder denkbare Handgriff festgelegt ist. Das wichtigste Buch der früher in einer Bibliothek angestellten Nachtwächterin ist ein „Universal-General-Lexikon“ (ein absichtlicher Pleonasmus), dessen zahlreiche Lücken sie durch Randnotizen und Skizzen ergänzt.

Dementsprechend hat Gianna Molinari (fiktive) Notizen, Zeichnungen und Zeitungsartikel in den laufenden Text des Romans „Hier ist noch alles möglich“ eingefügt.

Die verstörend stoische Ich-Erzählerin gibt nichts von sich preis. Dass sie immer wieder Umrisse von Inseln skizziert, mag charakteristisch für sie sein, aber sie vermeidet den Blick nach innen. Deshalb eignet sie sich auch kaum als Identifikationsfigur für die Leserinnen und Leser. Und die übrigen Romanfiguren bleiben ohnehin plakativ wie „der Koch“ und „der Chef“.

Gianna Molinari verzichtet in „Hier ist noch alles möglich“ nicht nur auf eine Identifikationsfigur, sondern auch auf einen Spannungsbogen. Sie lässt die Ich-Erzählerin im Präsens und in schnörkellosen Hauptsätzen zu Wort kommen.

Auf die Idee eines vom Himmel gefallenen Flüchtlings kam Gianna Molinari durch eine wahre Begebenheit: Am 18. April 2010 fanden zwei Frauen in einem Waldstück bei Weisslingen einen dunkelhäutigen Toten. Wahrscheinlich handelte es sich um einen Flüchtling aus Kamerun, der sich im Fahrwerkschacht eines Flugzeugs versteckt hatte, in 11 000 Metern Höhe erstickt oder erfroren war und beim Landeanflug auf Zürich herausfiel.

Der Roman „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari wurde für den Deutschen Buchpreis 2018 nominiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Aufbau Verlag

Marvel Moreno - Im Dezember der Wind
Marvel Moreno schreibt zornig und kraftvoll. Sie erzählt nicht chronologisch oder gar stringent, sondern assoziativ ausschweifend. Dieses Überbordende und die Fülle der Figuren erschweren bei der Lektüre von "Im Dezember der Wind" den Überblick ebenso wie die von einer hypotaktischen Syntax und ungewöhnlich langen Absätzen geprägte wilde und zugleich anspruchsvolle Sprache.
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