Haruki Murakami : Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer
Machi to futashikana kabe Shinchosha Publishing, Tokio 2023 Die Stadt und ihre ungewisse Mauer DuMont Buchverlag, Köln 2024 ISBN 978-3-8321-6839-1, 637 Seiten ISBN 978-3-7558-1000-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zwei Jugendliche (deren Namen wir nicht erfahren) verlieben sich. Unvermittelt verschwindet die 16-Jährige. Ihr ein Jahr älterer Freund studiert und arbeitet dann in der Buchbranche. Im Alter von 45 Jahren gelangt er in eine ummauerte Stadt, muss am Tor seinen Schatten abgeben und wird Traumleser in einer Bibliothek ohne Bücher, in der er das Mädchen wiedersieht, das nach wie vor 16 ist und sich nicht an ihn erinnert ...
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Kritik

Haruki Murakami gleitet in "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer" zwischen Traum und Realität, Leben und Tod, Person und Schatten, Alltag und Parallelwelt, Vorstellung und Wirklichkeit hin und her. Klar gezogene Grenzen gibt es nicht. Es ist wie bei einem Möbiusband, bei dem man auch nicht zwischen oben und unten, vorne und hinten, innen und außen unterscheiden kann.
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Jugendliebe

Im letzten Herbst lernten sie sich kennen: der 17-Jährige und die ein Jahr Jüngere; seit acht Monaten sind sie ein Paar. Sie reden viel miteinander und küssen sich, aber zur körperlichen Liebe ist das Mädchen nicht bereit, da bittet sie ihn, ihr Zeit zu lassen. Namen erfahren wir keine.

Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter, und aus der zweiten Ehe ihres Vaters hat sie eine sechs Jahre jüngere Halbschwester. Sie erzählt ihm von einer ummauerten Stadt.

„Mein wahres Ich lebt in der Stadt mit der hohen Mauer.“

„Im Alter von drei Jahren wurde ich von meinem Körper getrennt, aus der ummauerten Stadt verbannt und von Pflegeeltern aufgezogen. Meine verstorbene Mutter und mein Vater glauben (oder glaubten), ich wäre ihre richtige Tochter, was natürlich eine trügerische Illusion ist. Denn ich bin nur jemandes Schatten, den der Wind aus der fernen Stadt herübergeweht hat.“

Unvermittelt verschwindet das Mädchen. Vergeblich wartet der Freund auf ein Lebenszeichen. Nur einmal, da ist er bereits 18, erhält er einen Brief von ihr. Es bleibt der einzige. Er studiert fünf Jahre lang an einer privaten Universität in Tokio und fängt dann in der Buchbranche zu arbeiten an. Das Mädchen geht ihm nicht aus dem Sinn.

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer

Kurz nach seinem 45. Geburtstag scheint er in ein Loch gefallen zu sein. Jedenfalls kommt er in einem Loch zu sich, und der Torwächter der ummauerten Stadt zieht ihn heraus. Nachdem er seinen Schatten abgegeben hat, darf er die Stadt durch das einzige Tor betreten und in der Bibliothek zu arbeiten anfangen. Dort hilft ihm die Jugendfreundin, die nach wie vor 16 Jahre alt ist und sich nicht an ihn erinnert.

In der Bibliothek gibt es keine Bücher, sondern alte Träume in Form von Eiern. Damit der Namenlose als Traumleser tätig werden kann, ritzt ihm der Torwächter die Augen.

Die Uhren in der von einem namenlosen Fluss durchströmten namenlosen Stadt haben keine Zeiger. Zeit spielt hier keine Rolle. Es gibt keine Musik und mit Ausnahme von Vögeln und Einhörnern keine Tiere.

Ohne seinen Schatten darf der Mann die Stadt nicht verlassen, und der Torwächter erklärt ihm, es sei noch nie vorgekommen, dass jemand die Rückgabe seines Schattens beantragt habe.

Er versucht, einen Plan der Stadt zu zeichnen, stellt jedoch fest, dass die Mauer kontinuierlich ihren Grundriss verändert.

Der Schatten bewegt sich in einem Gehege zwischen der Stadt und der Außenwelt. Dort kann der Traumleser ihn besuchen. Sein Schatten ist der einzige in dem Gehege. Vielleicht gab es früher andere, aber abgetrennte Schatten geben bald ihren Geist auf. Das weiß auch sein Schatten und drängt ihn deshalb dazu, mit ihm zusammen aus der ummauerten Stadt zu fliehen. Das Mädchen habe zwar damals in der Außenwelt behauptet, dass sein wahres Ich sich hier befinde, meint der Schatten, aber es könne doch auch genau anders herum sein, dann wäre das 16-jährige Mädchen hier in der Bibliothek nur ein Schatten.

Nach einigen Tagen Bedenkzeit willigt der Traumleser ein, mit dem Schatten aus der Stadt zu fliehen. Sie wollen durch einen See, von dem es heißt, er sei in der Tiefe mit der Außenwelt verbunden, unter der Mauer hindurch tauchen, obwohl im Wasser ein lebensgefährlicher Strudel vermutet wird.

Am Ufer ändert er seine Meinung und erklärt seinem Schatten, dass er bei dem Mädchen in der Stadt bleiben werde. Daraufhin stürzt sich der Schatten allein in den See.

Die Bibliothek in Z**

Der 45-Jährige kündigt seine Anstellung in Tokio und sucht nach einer Tätigkeit in einer Bibliothek. Einer seiner bisherigen Kollegen in der Buchbranche hilft ihm dabei. Wie er die Stadt und ihre ungewisse Mauer verließ, weiß er nicht, er erwachte außerhalb und hat seither auch wieder seinen Schatten.

Die körperliche Empfindung, dass diese Wirklichkeit nicht meine Wirklichkeit war, und das tiefe Unbehagen, das damit einherging, konnte niemand nachvollziehen.

Er gibt seine Wohnung in Nakano auf und fährt mit dem Zug nach Z** in der Region Tōhoku bzw. Präfektur Fukushima im Norden der Insel Honshu. Dort sucht Tatsuya Koyasu, der Direktor der Stadtbibliothek, einen Nachfolger. Er ist Mitte 70 und trägt Rock.

„Vor allem fühle ich mich, wenn ich einen Rock trage, wie die Zeilen eines schönen Gedichts.“

Der Bewerber aus Tokio kann sofort anfangen, denn Koyasu hat sich bereits zurückgezogen, und die Bibliothekarin Frau Soeda, eine verheiratete Frau Mitte 30, sorgt für einen reibungslosen Übergang. In der Bibliothek gibt es weder WLAN noch Computer, sondern Karteikarten und -kästen.

Als es Winter wird, rät Koyasu seinem Nachfolger, es wie er zu machen und das gewöhnliche Büro des Direktors mit einen Raum im Souterrain zu vertauschen. Dort steht ein Holzofen. Der sieht genauso aus wie der in der Bibliothek in der ummauerten Stadt, mit dem die 16-Jährige für Wärme sorgte.

Spätabends ruft Koyasu ihn an und bittet ihn, in die Bibliothek zu kommen. Erst jetzt fällt dem Nachfolger auf, dass der frühere Direktor keinen Schatten wirft, und Koyasu klärt ihn darüber auf, dass er vor mehr als einem Jahr an einem Herzinfarkt starb und sein Körper bei der Trauerfeier verbrannt wurde.

„Ja, mein Bewusstsein ist noch völlig intakt, auch wenn mein Körper nicht mehr da ist. Das ist mir ein großes Rätsel. Obwohl ich einen Körper und damit zwangsläufig auch kein Gehirn mehr habe, funktioniert mein Bewusstsein noch ganz normal.“

Am nächsten Tag redet der neue Direktor mit seiner Bibliothekarin. Frau Soeda weiß mehr:

Tatsuya Koyasu ist der älteste von drei Söhnen einer der reichsten Familien der Stadt Z**, die seit Generationen erfolgreich eine Sake-Brauerei betrieb. Obwohl er lieber Literatur studiert hätte, absolvierte er ein BWL-Studium, um das Familienunternehmen weiterführen zu können. Als er 32 Jahre alt war, erlitt der Vater einen Schlaganfall. Drei Jahre später verliebte sich Koyasu in eine zehn Jahre jüngere Frau, die französische Literatur studiert hatte und als Sekretärin in einer nordafrikanischen Botschaft in Tokio beschäftigt war. Die beiden heirateten und führten jahrelang eine Wochenendehe. Nach fünf Jahren wurde die Frau ungewollt schwanger. Als der Sohn fünf Jahre alt war, rollte er in einem unbeaufsichtigten Moment mit seinem Dreirad auf die Straße und wurde von einem Lastwagen totgefahren. Sechs Wochen später ertränkte sich die inzwischen 35 Jahre alte Frau in einem Fluss. Das war vor rund 30 Jahren. Der Witwer Koyasu schenkte im Alter von 65 Jahren die Gebäude der inzwischen stillgelegten Sake-Brauerei der Stadt, ließ sie auf eigene Kosten zur Bibliothek umbauen und übernahm auch die Betriebskosten. Im Alter von 75 Jahren starb er.

Der Junge

Der neue Bibliotheksdirektor kommt mit der Wirtin eines Cafés ins Gespräch. Die 36-Jährige studierte in Sapporo, heiratete mit 24 einen ehemaligen Mitschüler und zog nach der Scheidung vor zwei Jahren nach Z**, um das Café zu übernehmen.

Die beiden kommen sich näher, reden viel miteinander und küssen sich, aber zur körperlichen Liebe ist sie nicht bereit. Die Penetration sei für sie in keiner Weise lustvoll, sondern nur schmerzhaft, vertraut sie ihm an. Das war auch einer der Gründe für das Scheitern ihrer Ehe.

Fast täglich sitzt ein 16-jähriger Junge mit einem Yellow-Submarine-T-Shirt in der Bibliothek. Er verfügt über ein fotografisches Gedächtnis und speichert den Inhalt ganzer Bücher in seinem Kopf ab. Statt eine Schule zu besuchen, liest der aus einer guten Familie stammende Autist ein Buch nach dem anderen. Er redet kaum ein Wort, fragt aber mitunter Menschen nach ihrem Geburtsdatum und sagt ihnen im nächsten Augenblick, um welchen Wochentag es sich handelte.

Unvermittelt lässt der Savant dem neuen Bibliotheksdirektor eine selbst gezeichnete Landkarte zukommen, und der Empfänger erkennt darauf die ummauerte Stadt.

Der Junge erklärt ihm, dass er unbedingt Traumleser in der Stadt werden müsse. Der Erwachsene überlegt, ob er es verantworten könnte, dem Jungen dabei zu helfen, aber er weiß ohnehin nicht, was er tun könnte, denn den Weg kennt er selbst nicht.

Bald darauf verschwindet der Junge spurlos. Seine beiden älteren Brüder, ein Rechtsanwalt und ein Assistenzarzt, nehmen Urlaub, reisen aus Tokio an und suchen zusammen mit dem Vater nach dem Vermissten. Die Mutter ist verzweifelt. Alle Nachforschungen bleiben ergebnislos.

Der Bibliotheksdirektor erlebt nachts etwas wie einen Traum.

In dieser Nacht überwand ich die ungewisse Mauer. Oder vielleicht sollte ich sagen: Ich glitt durch sie hindurch – halb schwimmend wie durch eine gallertartige Masse.
Es war kein Traum. […] Nein, es war kein Traum. Um eine Definition zu wagen, würde ich sagen: Es war eine Idee, die am Rande der Realität existierte.

Er watet einen Fluss hinauf und wird dabei immer jünger. Als er seine 16-jährige Jugendfreundin wiedersieht, ist er 17 und sein Schatten ist verschwunden.

Die Vereinigung

Auf dem Weg von seiner Wohnung zur Bibliothek in der ummauerten Stadt sieht der Traumleser von weitem den Jungen mit dem Yellow-Submarine-T-Shirt.

Nach wie vor bereitet das Mädchen dem Traumleser jeden Tag Tee zu, und als die 16-Jährige eine Bisswunde an seinem rechten Ohrläppchen entdeckt, pflückt sie Heilkräuter und behandelt ihn mit einer daraus hergestellten Salbe.

Nachts schreckt er aus dem Schlaf. Der Junge steht an seinem Bett. Er habe sich unbemerkt in die Stadt geschlichen, erklärt er, denn er müsse Traumleser werden. Weil er sich verbotenerweise hier aufhalte, könne er das nur, wenn er mit dem älteren Traumleser verschmelze. Sie seien früher auch eine einzige Person gewesen.

Nachdem der Junge den Mann um Erlaubnis gebeten hat, beißt er ihn ins linke Ohrläppchen und verschmilzt mit ihm.

Vorher hat der 17-Jährige dem 45-Jährigen noch erklärt, dass dieser in der äußeren Welt durch seinen Schatten gut vertreten werde.

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1980 veröffentlichte eine japanische Literaturzeitschrift die Erzählung „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ von Haruki Murakami. Diese Stadt gleicht der im zweiten Teil des Romans „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ aus dem Jahr 1985. Haruki Murakami beschäftigte sich weiter mit dem Thema, und von 2020 bis Ende 2022 verfasste er die drei Teile des Romans „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“.

„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ dreht sich um Liebe und Freundschaft, Einsamkeit und Selbstfindung, Zuhören und Offenheit. Hauptthema ist das Nebeneinander verschiedener Welten. Haruki Murakami gleitet in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ zwischen Traum und Realität, Leben und Tod, Person und Schatten, Alltag und Parallelwelt, Vorstellung und Wirklichkeit hin und her. Klar gezogene Grenzen gibt es nicht. Es ist wie bei einem Möbiusband, bei dem man auch nicht zwischen oben und unten, vorne und hinten, innen und außen unterscheiden kann.

Haruki Murakami arbeitet mit Spiegelungen und Wiederholungen. Figuren und Orte bleiben namenlos. Und im ersten Teil wendet sich der Ich-Erzähler an ein 16-jähriges Mädchen, der Text steht hier also in der unüblichen 2. Person Singular.

Beim Torwächter am einzigen Zugang zur ummauerten Stadt denken wir an Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“, die Trennung von Person und Schatten assoziieren wir mit dem Kunstmärchen „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ von Adelbert von Chamisso. Und Haruki Murakami zitiert in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ aus dem Roman „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ von García Márquez:

Als einziges Wesen sah man vom Schiff aus eine weiß gekleidete Frau, die mit dem Taschentuch winkte. Fermina Daza verstand nicht, warum man diese Frau, die doch so verängstigt wirkte, nicht abholte, doch der Kapitän erklärte ihr, dass es sich um die Erscheinung einer Ertrunkenen handele, die falsche Zeichen gäbe, um die Schiffe in die gefährlichen Strudel am anderen Ufer des Flusses zu locken.

Den Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ von Haruki Murakami gibt es auch als Hörbuch, gelesen von David Nathan.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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