Haruki Murakami : Kafka am Strand
Inhaltsangabe
Kritik
Am Abend vor seinem 15. Geburtstag stiehlt ein Junge seinem Vater Geld und läuft von zu Hause fort. Als er vier Jahre alt war, verließ seine Mutter mit seiner sechs Jahre älteren Adoptivschwester die Familie. Seither hat er nichts mehr von ihnen gehört. Er wuchs bei seinem Vater, dem berühmten Bildhauer Ko’ichi Tamura, in Nogata (Bezirk Nakano) in Tokio auf.
Der Junge nimmt den Nachtbus nach Takamatsu im Norden der Insel Shikoku. Als er mit der einundzwanzigjährigen Mitreisenden Sakura ins Gespräch kommt, gibt er sich den Namen Kafka, Kafka Tamura. (Er hat gehört, dass Kafka im Tschechischen Krähe bedeutet, und eine weise Krähe ist es, die in seiner Vorstellung seine Handlungen kommentiert und ihm Ratschläge erteilt.) Sakura stammt aus Ichikawa (Präfektur Chiba), lebt aber seit einiger Zeit in Takamatsu. Zum Abschied schreibt sie Kafka ihre Handy-Nummer auf.
Er nimmt sich ein billiges Hotelzimmer. Die Tage verbringt er in der Komura-Gedächtnisbibliothek, einer Privatbibliothek am Stadtrand von Takamatsu, und im Sportstudio.
Am achten Tag seines Aufenthalts in Takamatsu kommt Kafka spätabends in einem Dickicht zu sich und stellt fest, dass sein T-Shirt mit Blut besudelt ist. Er weiß nicht, wie er in das Waldstück kam. Die Krähe in seiner Vorstellung gibt ihm zu bedenken, dass er in ein Verbrechen verwickelt oder sogar selbst ein Mörder sein könnte, ohne sich daran zu erinnern. Mit dem blutverschmierten Hemd wagt er sich nicht ins Hotel zurück. Stattdessen ruft er Sakura an. Sie hat bereits geschlafen, aber als sie hört, dass er in Not ist, nennt sie ihm eine Adresse. Es handelt sich um die Wohnung ihrer für einen Monat nach Indien gereisten Freundin. Sakura passt darauf auf und vertritt die Freundin auch an deren Arbeitsplatz als Friseurin.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, erklärt Sakura ihrem Gast, sie habe in Tokio einen festen Freund, dem sie treu sei.
„Also komm nicht auf komische Gedanken. Wir sind wie kleiner Bruder und ältere Schwester. Verstehst du?“
Ich bejahe.
Sie legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich an sich. Dann legte sie ihre Wange an meine und sagte: „Du Armer.“
Natürlich bekomme ich eine Erektion. Eine überaus harte. Und es lässt sich nicht vermeiden, dass ich damit Sakuras Oberschenkel berühre.
„Na, na“, sagt sie.
„Das ist keine böse Absicht“, entschuldige ich mich. „Ich kann nichts dafür.“
„Ich versteh schon“, sagt sie. „Ich weiß, wie lästig das ist. Ihr könnt das nicht kontrollieren.“ (Seite 127f)
Während ihn Sakura masturbiert, betont sie:
„Das hier hat nichts mit Sex zu tun. Wie soll ich sagen – ich verschaffe dir nur körperliche Erleichterung. Heute war ein langer Tag, und du bist sehr aufgewühlt. So kann man nicht einschlafen. Verstehst du?“ (Seite 129)
Als Kafka am nächsten Morgen erwacht, ist Sakura bereits zum Friseursalon gefahren. Bevor er die Wohnung verlässt, legt er ihr einen Zettel hin. Er begehre sie, heißt es da, und könne deshalb nicht bleiben.
Oshima, die Hilfskraft in der Komura-Gedächtnisbibliothek, will sich bei der Bibliotheksleiterin Saeki dafür einsetzen, Kafka ebenfalls hier zu beschäftigen und ihn in einem der leeren Zimmer schlafen zu lassen. Bis er mit ihr gesprochen hat, soll Kafka in einer abgelegenen Berghütte bei Kochi wohnen, die Oshima und seinem älteren Bruder Sada gehört. Oshima bringt ihn mit dem Auto hin.
Kafka hält Oshima für einen Mann und ist überrascht, als er erfährt, dass der Einundzwanzigjährige sich zwar als Mann fühlt, aber den Körper einer Frau hat, wenn auch mit unterentwickelten Brüsten. Er menstruiert auch nicht, und das ist gut so, denn Oshima leidet unter Hämophilie. Sexuell interessiert er sich für Männer.
Während der Fahrt erzählt Oshima von Saeki. Von seiner Mutter, die mit ihr zur Schule ging, weiß er, dass sie bereits als Schülerin einen festen Freund hatte, und zwar den ältesten Sohn der Familie Komura. Seit dem vierzehnten Lebensjahr hatten die beiden Gleichaltrigen regelmäßig Sex miteinander. Als sie achtzehn waren, verließ der Freund Takamatsu, um in Tokio zu studieren. Saeki besuchte die örtliche Musikhochschule und ließ sich zur Pianistin ausbilden. Mit neunzehn vertonte sie ein eigenes Gedicht und spielte es auf dem Klavier. Ein Bekannter, der ihr dabei zuhörte, sorgte dafür, dass das Lied mit dem Titel „Kafka am Strand“ in Tokio aufgenommen wurde. Bei dieser Gelegenheit traf Saeki auch ihren Freund wieder. Im Jahr darauf hielten streikende Studenten Saekis Freund irrtümlich für einen Spion, fesselten ihn auf einen Stuhl und schlugen ihn mit Latten und Eisenstangen tot. Saeki verschwand kurz darauf und kehrte erst fünfundzwanzig Jahre später zur Beerdigung ihrer Mutter nach Takamatsu zurück. (Als ihr Vater fünf Jahre zuvor gestorben war, hatte sie noch nichts von sich hören lassen.) Seither blieb sie in ihrer Geburtsstadt und übernahm die Verwaltung der Komura-Gedächtnisbibliothek. Inzwischen ist sie Mitte fünfzig.
Kafka vertraut Oshima an, dass sein Vater ihm ein Schicksal wie das von Ödipus prophezeite: Er werde den Vater töten und sich sowohl mit der Mutter als auch mit der Adoptivschwester vereinigen [Inzest]. Oshima weist ihn darauf hin, dass der Mensch in den griechischen Tragödien seinem Schicksal ausgeliefert sei.
„Und Tragödien werden – nach der Definition von Aristoteles – paradoxerweise eher von den Vorzügen der Betroffenen ausgelöst als von ihren Mängeln. Verstehst du, was ich meine? Nicht durch seine Fehler, sondern durch seine Qualitäten wird der Mensch in die große Tragödie hineingezogen. König Ödipus von Sophokles ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür. Nicht die Dummheit und Faulheit von Ödipus lösen die Tragödie aus, sondern eben gerade seine Ehrlichkeit und sein Heldenmut. Daraus entsteht unweigerlich Ironie.“ (Seite 274f)
In der Berghütte liest Kafka ein Buch über den Eichmann-Prozess. Am vierten Tag holt Oshima ihn ab. Saeki ist damit einverstanden, dass Kafka in der Bibliothek mithilft und dort wohnt.
1986 wird der Öffentlichkeit in der National Archives and Records Administration in Washington, D. C., ein bis dahin streng geheimer Bericht des US-Informationsministeriums vom 12. Mai 1946 über den sogenannten Ricebowl Hill Incident zugänglich gemacht. Es geht um Untersuchungen, die im März und April 1946 unter Leitung von Major James P. Warren vom Heeresnachrichtendienst in in der japanischen Präfektur Yamanashi durchgeführt wurden. Am 7. November 1944 hatte eine Lehrerin mit ihrer Klasse einen Ausflug zum Pilzesammeln auf den Ricebowl Hill unternommen. Unvermittelt waren alle Schülerinnen und Schüler in Ohnmacht gefallen. Die Kinder kamen nach und nach auf dem Hügel wieder zu sich, bis auf Satoru Nakata aus Tokio, den die Eltern wegen des Krieges aufs Land geschickt hatten. Nakata erwachte erst nach zwei Wochen in einem Militärkrankenhaus aus der Ohnmacht – und konnte sich an nichts mehr erinnern.
Als Nakata wieder zu sich kam, hatte er alles vergessen, was bis dahin gewesen war. Vater, Mutter, Lesen, Rechnen, seine Adresse, sogar seinen Namen hatte Nakata vergessen. Wie wenn jemand den Stöpsel aus der Badewanne zieht, ist aus seinem Kopf restlos alles ausgelaufen. Vor dem Unfall soll Nakata gut in der Schule gewesen sein. Aber irgendwann fiel er um, und als er wieder aufwachte, war er dumm. (Seite 72)
1972 gestand die inzwischen pensionierte Lehrerin, sie habe den japanischen und später den amerikanischen Militärs, die dem Ricebowl Hill Incident nachgegangen waren, einen Teil der Wahrheit verschwiegen. In einem heftigen Traum in der Nacht vor dem Schulausflug hatte sie leidenschaftlich Sex mit ihrem Ehemann gehabt, der zu diesem Zeitpunkt an der Front gewesen war. Beim Pilzesammeln auf dem Ricebowl Hill setzte unerwartet ihre Periode ein. Sie zog sich ein Stück weit von den Kindern in den Wald zurück und improvisierte mit Papiertaschentüchern. Als Nakata dann mit einem der blutgetränkten Tücher zu ihr kam, verlor sie die Kontrolle über sich und schlug ihn. Im nächsten Augenblick tat es ihr leid; sie wollte sich entschuldigen, aber der Schüler verlor das Bewusstsein, und auch die anderen Kinder kippten eines nach dem anderen um.
Nakata ist inzwischen über sechzig Jahre alt. Obwohl der älteste Sohn eines Universitätsprofessors vor dem Ricebowl Hill Incident ein sehr guter Schüler gewesen war, gelang es ihm danach nicht mehr, das Schreiben und Lesen neu zu lernen. Seine beiden jüngeren Brüder machten dagegen Karriere: Der eine arbeitet als Abteilungsleiter bei Itochu in Osaka, der andere ist im Ministerium für Handel und Industrie tätig. Nakata begann mit fünfzehn, in einer Möbelfabrik zu arbeiten. Als er zweiundfünfzig Jahre alt war, starb der Chef, und die Schreinerei wurde geschlossen. Zur gleichen Zeit wie seinen Arbeitsplatz verlor Nakata seine Ersparnisse, denn der Cousin, dem er sie anvertraut hatte, war durch Fehlspekulationen mittellos geworden. Nakata lebt in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Nogata und erhält eine kleine staatliche Rente, die er mit den Zuwendungen aufbessert, die er bekommt, wenn er entlaufene Katzen findet. Für diese Aufgabe ist er gut geeignet, denn er ist in der Lage, mit Katzen zu sprechen.
Gerade sucht er im Auftrag der Familie Koizumi nach einer gelb gefleckten Katze mit dem Namen Goma. Ein Kater hat Goma offenbar gesehen, aber er kann keinen vernünftigen Satz mehr sagen, seit er von einem Fahrrad angefahren wurde und mit dem Kopf gegen den Bordstein schlug. Die Siamkatze Mimi, die das chaotische Gerede des Katers besser versteht, übernimmt es, ihn auszufragen und erklärt Nakata dann, Goma sei auf einem mit Gras überwachsenen Bauplatz gesehen worden. Auf diesem Tummelplatz streunender Katzen treibe sich auch ein Katzenfänger herum.
Nakata legt sich an der angegebenen Stelle auf die Lauer. Plötzlich steht ein großer schwarzer Hund vor ihm, und obwohl er die Hundesprache nicht beherrscht, versteht er, dass er dem Tier folgen soll. Der Hund führt ihn zu einem Haus. Dort stößt Nakata auf einen Mann, der so aussieht, wie Mimi den Katzenfänger beschrieben hat, sich Johnny Walker nennt und weiß, wonach Nakata sucht. Goma sei ganz in der Nähe, behauptet er. Auf sein Geheiß hin öffnet Nakata den Kühlschrank. Darin liegen etwa zwanzig abgetrennte Katzenköpfe.
„Ich bringe diese Katzen natürlich nicht nur zu meinem Vergnügen um. So verrückt bin ich nicht. Immerhin ist es ziemlich aufwendig, so viele Katzen zu fangen und zu töten, und ich habe meine Zeit ja auch nicht gestohlen. Ich töte die Katzen, weil ich ihre Seelen sammle, um eine besondere Flöte daraus herzustellen. Auf ihr spiele ich, um größere Seelen zu fangen. Aus diesen größeren Seelen mache ich wiederum größere Flöten, bis ich am Ende eine große kosmische Flöte anfertigen kann.“ (Seite 196)
„Ich will Goma den Kopf abschneiden. Du willst, dass ich es nicht tue. Unsere Aufgaben und Interessen kollidieren.“ (Seite 197)
Johnny Walker erklärt Nakata, dass dieser ihn töten müsse, um Gomas Tod zu verhindern.
„Ehrlich gesagt, ich habe das Leben satt, Nakata. Ich lebe schon sehr lange. So lange, dass ich vergessen habe, wie alt ich bin. Ich will nicht mehr weiterleben. Außerdem habe ich genug davon, Katzen zu töten. Aber solange ich am Leben bin, muss ich Katzen töten. Und ihre Seelen sammeln. Sie ordentlich von eins bis zehn aufreihen und wenn ich bei zehn angekommen bin, wieder bei eins anfangen. Das wiederholt sich bis in die Unendlichkeit. Mir reicht’s, ich bin müde. Niemandem würde es gefallen, das zu tun. Geachtet wird man dafür auch nicht.“ (Seite 198)
„Du musst dich hier und jetzt entscheiden. Entweder töte ich die Katzen, oder du tötest mich. Eins von beidem. Du triffst hier und jetzt die Wahl.“ (Seite 199)
Nakata sträubt sich gegen den Gedanken, einen Menschen zu töten. Johnny Walker öffnet einen Lederkoffer, in dem fünf Katzen liegen, darunter Mimi und Goma. Sie sind zwar bei Bewusstsein, aber durch Injektionen gelähmt. Johnny Walker nimmt die erste Katze, streichelt ihr über das besonders weiche Fell am Bauch und schlitzt sie dann auf. Mit einem Skalpell entnimmt er das noch zuckende Herz und isst es. Dann trennt er der Katze den Kopf ab und packt die nächste. Bei seinem dritten Opfer handelt es sich um den Kater, dessen Hinweise Nakata weiterhalfen. Bevor Johnny Walker auch Mimi und Goma töten kann, ergreift Nakata ein herumliegendes Messer, stürzt sich auf den Tierquäler und ersticht ihn. Der Sterbende lacht.
Ein unheimliches, unerträgliches Gelächter, das sich freilich bald in ein Schluchzen verwandelte, als aus seiner Kehle Blut hervorsprudelte. Nun klang es wie das Gurgeln eines verstopften Abflussrohrs.“ (Seite 208)
Nakata liegt mit dem Gesicht nach unten im Gras des Bauplatzes, als er wieder zu sich kommt. Er wundert sich, dass seine Kleidung keine Blutspritzer aufweist. Goma und Mimi sind bei ihm. Sie sind wieder munter, aber als er mit ihnen reden möchte, stellt er fest, dass er die Katzensprache nicht mehr beherrscht.
Nachdem er Goma zu den Koizumis gebracht hat, meldet er sich auf dem Polizeirevier.
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Polizist.
„Ja. Nakata“ – er zeigte auf sich – „hat gerade jemanden umgebracht.“
Dem Polizisten fiel der Stift aus der Hand auf den Schreibtisch, und er starrte Nakata mit offenem Mund an. Ihm fehlten einen Moment lang die Worte. […]
„Also, Sie haben jemanden umgebracht?“
„Ja, mit dem Messer erstochen. Gerade eben“, sagte Nakata entschlossen. (Seite 231)
Nakata erzählt, dass er im Gespräch mit Katzen erfuhr, wo er nach Goma suchen sollte, dann von einem Hund zu einem Katzenfänger geführt wurde, der aus den Seelen der toten Tiere Flöten machte und von ihm getötet werden wollte. Zum Schluss kündigt Nakata noch an, dass es am nächsten Tag Fische vom Himmel regnen werde. Der Polizist, der annimmt, einen Verrückten vor sich zu haben, ist froh, als Nakata wieder fort ist. Ein Protokoll hat er nicht aufgenommen.
Als am nächsten Tag in Nakano Sardinen und Makrelen vom Himmel fallen, erinnert sich der Polizist an die Prophezeiung des seltsamen Mannes. Zwei Tage nach dessen Besuch im Polizeirevier wird die Leiche des Bildhauers Ko’ichi Tamura gefunden. Der Tote lag nackt in seinem Blut, als die Haushälterin den Raum betrat. Offenbar wurde er erstochen. Der Polizist befürchtet, sich eines schlimmen Dienstvergehens schuldig gemacht zu haben, als er die Aussage des alten Mannes nicht für ernst nahm.
Kafka erfährt in Takamatsu aus der Zeitung, dass sein Vater an dem Tag erstochen wurde, an dem er mit blutgetränktem T-Shirt im Dickicht lag. Oshima versucht ihn zu beruhigen: Kafka sei den ganzen Tag über in der Bibliothek gewesen, könne also unmöglich seinen Vater in Tokio ermordet haben.
Nakata fragte am Tag nach seiner Aussage im Polizeirevier in einem Park zwei junge Frauen, die dort ihre Mittagspause machten, ob sie ihm helfen könnten, Nakano zu verlassen. Zufällig wussten sie, dass ihr Kollege Tougeguchi nach Yokohama fahren wollte, und sie überredeten ihn, Nakata bis zur Tomei-Autobahn mitzunehmen. Von dort fuhr Nakata als Anhalter mit einem Kühllaster nach Fujikawa. Auf einem Rastplatz beobachtete er, wie eine Gruppe von Bikern einen Mann zusammenschlug und auf den am Boden Liegenden eintrat. Als er sich näherte, rieten sie ihm, zu verschwinden und lachten über den Schirm, den er bei sich hatte. Nakata spannte ihn auf, und in diesem Augenblick begann es Unmengen von Blutegeln zu regnen. (Etwa zur gleichen Zeit fielen in Nakano Fische vom Himmel.)
Ein Fernfahrer namens Hoshimo aus Nagoya nimmt Nakata mit nach Kobe. Von dort will der alte Mann weiter über die Brücke nach Shikoku. Warum weiß er nicht. Hoshimo beschließt, ihn zu begleiten und ruft einen Kollegen an, der für ihn einspringt und den Lastwagen mit der neuen Ladung zurückbringt. Von Tokushima fahren Hoshimo und Nakata mit dem Schnellzug nach Takamatsu.
Dort sagt Nakata, er müsse einen „Eingangsstein“ finden.
Während er sechsunddreißig Stunden lang schläft, streift Hoshimo durch die Stadt und begegnet dabei Colonel Sanders. (Harland David Sanders gründete die Fastfood-Kette Kentucky Fried Chicken. Sein Bild wird von dem Unternehmen als Handelszeichen benutzt.) Colonel Sanders bietet Hoshimo an, ihm eine Prostituierte zu besorgen. Er weiß, dass Hoshimo nach einem Stein sucht und behauptet, diesen zu kennen.
„Ähem, Colonel ich hab nur noch 25 000 Yen im Portemonnaie.“
Colonel Sanders schnaltze missbilligend mit der Zunge, während er rasch ausschritt. „Das reicht. Dafür kriegst du eine muntere, neunzehnjährige Schöne und unseren Spezialhimmelfahrtsservice alles inklusive, Blasen, Runterholen, Fickificki, und als Zugabe sage ich dir anschließend, wo der Stein ist.“ (Seite 357)
Colonel Sanders telefoniert eine wirkliche Schönheit herbei. Sie nimmt Hoshimo mit in ein Stundenhotel, und während sie ihn dort dreimal zum Orgasmus bringt, plaudert sie von Henri Bergson und Hegel, denn sie studiert Philosophie. Wie versprochen, führt Colonel Sanders ihn anschließend zu dem Eingangsstein. Hoshimo nimmt ihn mit.
Am anderen Morgen erwacht Nakata und wundert sich nicht weiter über den Stein, den Hoshimo ihm hingelegt hat.
Als sie nach dem Frühstück ihren Tee tranken, fragte der junge Mann: „Was machen wir jetzt mit dem Stein?“
„Was sollen wir denn damit machen?“
„Jetzt hör aber auf“, sagte Hoshimo kopfschüttelnd. „Ich hab den Stein doch gestern Nacht nur hergebracht, weil du ihn unbedingt finden musstest, oder nicht? Jetzt kannst du mich doch nicht fragen, was wir damit sollen.“
„Jawohl. Sie haben ganz Recht, aber ehrlich gesagt, weiß Nakata noch nicht, was wir machen sollen.“ (Seite 411f)
Während eines Gewitters wird der Eingangsstein so schwer, dass Hoshimo ihn nur mit einer gewaltigen Kraftanstrengung umdrehen kann.
Oshima besorgt Kafka Tamura eine Platte mit der 1969 von der damals neunzehnjährigen Saeki eingespielten Aufnahme ihres Liedes „Kafka am Strand“.
Als Kafka nachts aufwacht, ist Saeki bei ihm im Zimmer. Sie bewegt sich wie eine Schlafwandlerin, zieht sich langsam aus, steigt zu ihm ins Bett und führt sich seinen erigierten Penis ein. Nach dem Orgasmus kleidet sie sich wieder an und verschwindet wortlos.
Am nächsten Abend schläft Saeki noch einmal mit Kafka, der ihr Sohn sein könnte, aber dieses Mal ist sie dabei bei Bewusstsein und weint anschließend.
Inzwischen vermutet die Polizei Kafka in Takamatsu und hält es für möglich, dass ein Komplize von ihm seinen Vater ermordete, denn die Spur von Satoru Nakata, der unmittelbar nach der Bluttat und seinem nicht protokollierten Geständnis bei der Polizei aus Nogata verschwand, führt ebenfalls nach Takamatsu. Sicherheitshalber bringt Oshima seinen neuen Freund zehn Tage nach dem Mord wieder zur Berghütte.
Zur gleichen Zeit klingelt Hoshimos Handy, obwohl es ausgeschaltet ist. Colonel Sanders ist am Apparat, warnt vor der Polizei, die alle Hotels in Takamatsu nach Nakata absucht und nennt Hoshimo die Adresse einer unbenutzten, aber voll eingerichteten Wohnung, in der er sich mit seinem Begleiter verstecken soll.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Nachdem die beiden sich in Sicherheit gebracht haben, mietet Hoshimo einen Leihwagen und fährt mit Nakata so lange durch die Stadt, bis dieser ihn vor der Komura-Gedächtnisbibliothek halten lässt. Weil die Einrichtung montags geschlossen ist, können sie die Bibliothek erst am nächsten Tag betreten. Eine halbe Stunde nachdem Saeki sie durch die Räume geführt hat, lässt sich Nakata weder von Hoshimo noch von Oshima davon abhalten, zu ihr in den ersten Stock hinaufzugehen. Saeki wundert sich darüber nicht und bittet darum, mit Nakata allein gelassen zu werden.
Sie erzählt ihrem wunderlichen Besucher, sie habe sich wieder wie eine Fünfzehnjährige gefühlt und mit Kafka geschlafen, und Nakata gesteht ihr, einen Mann getötet zu haben. Als er sie fragt, was Erinnerungen seien, antwortet sie:
„Erinnerungen sind das, was Ihren Körper von innen wärmt. Zugleich können Erinnerungen Sie innerlich auch in Stücke reißen.“ (Seite 529f)
Saeki vertraut Nakata drei dicke Ordner mit der Geschichte ihres Lebens an, an der sie seit Jahren schrieb. Sie habe dafür keine Verwendung mehr, meint sie, und bittet ihn, ihre Aufzeichnungen zu verbrennen.
Nakata und Hoshimo haben die Bibliothek längst verlassen, als Oshima sich darüber wundert, dass Saeki nicht aus ihrem Büro kommt. Um 16.35 Uhr geht er hinauf und findet sie tot vor. Der Arzt stellt später fest, dass ihr Herz ohne erkennbare Ursache zu schlagen aufgehört hat.
Kafka dringt derweilen trotz der ernsten Warnungen Oshimas tiefer in den Wald vor, der die Berghütte umgibt. Um den Rückweg zu finden, markiert er Baumstämme mit gelber Farbe, aber nach einer Weile wirft er den Pinsel fort, lässt auch Beil, Kompass und Wasserflasche zurück und geht weiter. Schließlich stößt er auf zwei junge Soldaten in der Felduniform der Kaiserlichen Armee. Von Oshima weiß er, dass seit einem Manöver vor Jahrzehnten zwei Soldaten im Wald vermisst werden. Sie bringen ihn zu einer mysteriösen Siedlung, bei der es sich wohl um den Limbus handelt.
In der Gestalt einer Krähe entdeckt Kafka den getöteten Katzenfänger in diesem Zwischenreich. Während er ihm mit seinem Schnabel die Augen aushackt und die Zunge herausreißt, lacht der Mann, statt sich zu wehren.
Je heftiger die Krähe ihn angriff, desto lauter wurde das Gelächter.
[…] Es war eine entsetzlich fette, lange Zunge. Nachdem er sie dem Mann aus dem Hals gerissen hatte, wand sie sich wie eine Molluske und verwandelte sich in ein Wort der Finsternis. Ohne Zunge konnte der Mann eigentlich nicht mehr lachen. Er schien auch nicht mehr atmen zu können. Dennoch hielt er sich stumm den Bauch und lachte weiter. (Seite 590f)
Saeki taucht bei Kafka auf und drängt ihn, den Wald wieder zu verlassen. Kafka zögert zunächst, lässt sich dann jedoch von den beiden Soldaten zurückbringen.
Nachdem Nakata erklärt hatte, er müsse jetzt nur noch den Eingang wieder schließen, schlief er ein. Hoshimo rechnete damit, dass sein Freund erneut zwei oder drei Tage durchschlafen würde, aber es kam anders: Am Tag nach dem Besuch in der Komura-Gedächtnisbibliothek starb Nakata im Schlaf.
Hoshimo hält es für seine Pflicht, Nakatas unerledigte Aufgabe zu übernehmen. Er bleibt bei dem Toten und wartet auf den richtigen Augenblick, um den Eingangsstein zu drehen. Als er eine Katze sieht, öffnet er aus Langeweile das Fenster und sagt:
„Hallo Katze, schönes Wetter heute, was?“
„Ganz recht, Herr Hoshimo“, erwiderte die Katze.
„Mich trifft der Schlag“, sagte Hoshimo und schüttelte den Kopf. (Seite 586)
Die Katze erklärt Hoshimo, da sei etwas, das darauf lauere, durch den noch geöffneten Eingang zu gelangen. Er müsse es töten. Hoshimo richtet Messer, Küchenbeil und Hammer her. Nachts beginnt sich etwas Molluskenartiges aus dem Mund des Toten zu winden. Hoshimo sticht mit dem Messer darauf ein, kann dem schleimigen Wesen damit jedoch nichts anhaben. Es kriecht auf den Stein zu. Der ist erneut so schwer, dass Hoshimo ihn nur mit übermenschlichen Kräften umdrehen kann. Sobald er das getan hat, wird das schleimige Etwas orientierungslos. Er hackt es mit dem Küchenbeil in kleine Stücke, die rasch ihre Vitalität verlieren und schrumpfen. Die Überreste packt Hoshimo in einen Müllsack, den er verbrennt. Vom Bahnhof aus wird er anonym die Polizei anrufen und auf den Toten aufmerksam machen.
Oshimas Bruder Sada holt Kafka ab und bringt ihn zur Komura-Gedächtnisbibliothek. Dort erfährt der Fünfzehnjährige, was er bereits ahnte: Saeki starb vor drei Tagen. Sie hat ihm ein Gemälde mit dem Titel „Kafka am Strand“ hinterlassen, das ihr zeitlebens wichtig war. Oshima hat es schon verpackt. Kafka beabsichtigt, nach Tokio zurückzufahren, sich dort bei der Polizei zu melden und dann wieder die Schule zu besuchen.
In dem Roman „Kafka am Strand“ von Haruki Murakami geht es um die Sinnsuche und den Selbstfindungsprozess eines Heranwachsenden. Die Reise des jungen Japaners, der sich Kafka nennt, führt in eine Bibliothek und parallel dazu in sein eigenes Inneres. „Kafka am Strand“ ist jedoch kein simpler Entwicklungsroman, sondern Haruki Murakami hat die Reise des Protagonisten mit dem Ödipus-Komplex und geheimnisvollen Zusammenhängen aufgeladen. Außerdem erzählt er parallel dazu von der mit Kafka verbundenen Odyssee eines über sechzig Jahre alten wunderlichen Analphabeten. Dieser heilige Narr ist wiederum der Gegenpol zu der in sich gekehrten, ihren Erinnerungen nachhängenden Bibliotheksleiterin Saeki, bei der es sich um Kafkas Mutter handeln könnte. In den Kapiteln 2, 4, 8 und 12 schiebt Haruki Murakami scheinbar objektive Berichte über die rätselhafte Ohnmacht einer ganzen Schulklasse während des Zweiten Weltkriegs ein. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Traum und Wirklichkeit verschwimmen in „Kafka am Strand“. Helmut Böttiger vergleicht den Roman deshalb auch mit „Der Steppenwolf“.
Der japanische Bestsellerautor Haruki Murakami scheint direkt aus der Verschmelzung hervorgegangen zu sein, die mit Hermann Hesse und Japan geschah […] Es gibt allerdings einen Punkt, der Murakami von Hesse unterscheidet: Er ist verdammt cool. Er hat das alles schon hinter sich, was Hesse niemals verstanden hätte: den Weg durch die Hippiekultur, durch Popsongs, Werbung und Science-Fiction, durch die ganzen zeitgenössischen Verrenkungen dessen, was Hesse noch gemütlich „magisches Theater“ nannte. Da ist man nicht mehr romantisch auf der Suche, sondern von vornherein sehr abgebrüht. Womöglich ist Murakami einer der ersten Autoren, die mit der Globalisierung wirklich Ernst machen: Sein Japan sieht aus wie ein amerikanischer Highway, und die Seelen sind ausstaffiert mit dem, was alle kennen. Das Böse ist bei ihm nicht mehr der Teufel, das Spießbürgertum oder das oberflächliche Lotterleben, wie es wahlweise in Entwicklungs- und Bildungsromanen bisher der Fall war. Es kommt eher in der Gestalt des schottischen Zylindermannes aus der Johnny-Walker-Werbung daher und zwinkert ein bisschen mit den Augen. (Helmut Böttiger, Die Zeit, 25. März 2004)
Die Geschichte über Kafka Tamura steht vorwiegend in der Ich-Form und im Präsens, von Satoru Nakata erzählt Haruki Murakami dagegen in der dritten Person Singular und im Imperfekt. Skurrile und aberwitzige Einfälle funkeln vor allem im zweiten Handlungsstrang. Auch surreale Szenen werden von Haruki Murakami so farbig und furios geschildert, dass wir sie beim Lesen deutlich vor uns sehen.
Wahrscheinlich ist es Einbildung, und je länger man über Eingebildetes nachdenkt, desto mehr bläht es sich auf und desto deutlicher nimmt es Gestalt an, so lange, bis es keine Einbildung mehr ist. (Seite 521f)
Gegen Ende zu gleitet die Darstellung allerdings ins Esoterische ab und weist zugleich Längen auf.
Die Verhältnisse zwischen den Figuren, nunmehr in einer mystisch jenseitigen Sphäre gestiftet, degenerieren vom Geheimnisvollen ins Geheimnistuerische, die Geschichte verflacht zum klassischen „Quest“, nun auch strukturell ganz schlicht gestrickt. (Burkhard Müller, Süddeutsche Zeitung, 16. April 2004)
Die kritische Bemerkung über die letzten Kapitel ändert nichts daran, dass ich „Kafka am Strand“ für einen originellen und fantasievollen, grandiosen und poetischen Roman halte.
Den Roman „Kafka am Strand“ von Haruki Murakami gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Rufus Beck (Regie: Vera Teichmann, Berlin 2004, 17 CDs, ISBN: 3-8291-1441-9).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © DuMont Literatur und Kunst Verlag
Franz Kafka (Kurzbiografie)
Haruki Murakami (Kurzbiografie)
Haruki Murakami: Tanz mit dem Schafsmann
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Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore
Haruki Murakami: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer