Sigrid Nunez : Eine Feder auf dem Atem Gottes

Eine Feder auf dem Atem Gottes
A Feather on the Breath of God HarperCollins, New York 1995 Eine Feder auf dem Atem Gottes Übersetzung: Bernhard Robben Albrecht Knaus Verlag, München 1996 ISBN 978-3-8135-0004-2, 222 Seiten Neuübersetzung: Anette Grube Aufbau Verlage, Berlin 2022 ISBN 978-3-351-03876-2, 222 Seiten ISBN 978-3-8412-3059-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

New York. Der halb chinesische, halb panamaische Vater der Ich-Erzählerin radebrecht das Amerikanische nur. Die deutsche Mutter erlernt die Fremdsprache zwar, aber sie verachtet die Amerikaner, hadert mit ihrem Leben in einem Sozialbau und hängt der Vergangenheit nach. Der russische Geliebte Vadim dagegen will seine kriminelle Vergangenheit in Odessa vergessen und sich in die US-Gesellschaft integrieren.
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Kritik

Ob es sich bei "Eine Feder auf dem Atem Gottes" um einen Roman handelt oder nicht, sei dahingestellt. Sigrid Nunez hat unter diesem Titel vier eigentlich autarke Erzählungen zusammengestellt, die sich gegenseitig spiegeln bzw. Kontraste bilden. Einen durchgehenden Plot gibt es nicht. Die zumindest teilweise autobiografische Darstellung wirkt ebenso realistisch wie nachdenklich.
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Chang

Chang, der Vater der Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, wird 1911 in der panamaischen Hafenstadt Colón als Sohn eines chinesischen Kaufmanns geboren, der oft zwischen Colón und seiner Heimatstadt Shanghai hin- und herreist. In jeder der beiden Städte hat er eine Frau und zwei Söhne. Den Säugling Carlos – so Changs Name im Geburtsregister – nimmt der Vater mit nach Shanghai, um ihn dort von seiner chinesischen Frau aufziehen zu lassen. Zehn Jahre später schickt er ihn nach Colón zurück.

Nach dem frühen Tod der Mutter kommen Carlos/Chang und sein älterer Bruder Alfonso in die Obhut ihres Onkels Mee, eines Bruders und Geschäftspartners des Vaters, der in Colón eine eigene große Familie hat. Als Chang zwölf oder dreizehn Jahre alt ist, reist Onkel Mee mit ihm nach New York und meldet ihn bei einer staatlichen Schule in Brooklyn an.

Chang arbeitet schließlich als Kellner. Während seines Militärdienstes erhält er die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und nennt sich nun nach seiner verstorbenen Mutter Charles Cipriano Chang.

Im Zweiten Weltkrieg kämpft er in Frankreich, und 1945 wird der Soldat in einer süddeutschen Kleinstadt stationiert, wo der 34-Jährige eine 18 Jahre alte Deutsche kennenlernt. Christa hat bereits zwei von Chang gezeugte Töchter geboren, als sie ihn heiratet und mit ihm und den Kindern in die USA übersiedelt. Dort merkt sie, dass sie erneut schwanger ist.

Sie versucht abzutreiben, vergeblich.
Ich werde geboren.

Chang lässt sich in der Küche eines großen Krankenhauses als Tellerwäscher anstellen und arbeitet sich dort hoch. Aber die amerikanische Sprache erlernt er nur unvollständig.

Obwohl wir achtzehn Jahre lang im selben Haus lebten, hatten wir sehr wenig gemeinsam. Wir hatten keine Kultur gemein. Und es ist nur leicht übertrieben zu behaupten, dass wir auch keine Sprache gemein hatten.

Christa

Meine Großeltern waren zusammen aufgewachsen. Das kinderlose Ehepaar, das neben der Familie meines Großvaters lebte, hatte meine Großmutter, ein uneheliches Kind, adoptiert.

Kurz vor den Reichstagswahlen im November 1933 verteilt der Großvater Gerhard vor dem Rathaus seiner schwäbischen Heimatstadt Flugblätter gegen Hitler. Bald darauf werden er und seine Frau vor den Augen der sechsjährigen Tochter festgenommen. Der Sohn Karl ist noch ein Säugling. Während der Großvater der Erzählerin nach Dachau gebracht wird, kommt die Großmutter am nächsten Morgen wieder nach Hause. Sie zieht mit den Kindern zu den Schwiegereltern und findet Arbeit in einem Vorhanggeschäft. Als Gerhard nach dreizehn Monaten aus Dachau zurückkommt, sind Haus und Bankkonten konfisziert.

Christa verbringt die Schulzeit in einem Internat in den bayrischen Alpen, wo sich zunächst Nonnen um ihre Ausbildung kümmern.

Die Nonnen, wird ihnen gesagt, sind in ihren Konvent zurückgekehrt, wo sie hingehören. Von jetzt an liegt die Erziehung meiner Mutter in den Händen der Nazis.

1939 muss Gerhard nach Polen und dann bis zur Kapitulation des Deutschen Reichs Kriegsdienst leisten.

Als das Internat 1945 geschlossen wird, schlägt Christa sich nach Hause durch, und weil die Bahngleise kaputt sind, muss sie vier Tage lang zu Fuß gehen. Einige Tage nach ihrem 18. Geburtstag erreicht sie ihr Zuhause. Arbeit findet sie in einem Kindergarten, aber zufrieden ist sie damit nicht.

Was an Energie übrig ist, wird in Verabredungen gesteckt. Zuerst gehörte ihr Herz Rudolf. Er war so alt wie sie, ein Junge aus der Nachbarschaft […].
Von den vielen GIs entschied sich meine Mutter für den unwahrscheinlichsten: halb chinesisch, halb spanisch und fast so alt wie ihre Eltern.

Als Christa im Alter von 20 Jahren zum dritten Mal schwanger ist, lebt sie bereits mit Chang und den beiden Töchtern in einem Sozialbau in Brooklyn. 1951 bringt sie das Kind zur Welt, das später in der Ich-Form darüber schreiben wird.

Sie fühlte sich nie zu Hause unter Amerikanern. Wie viele Europäer verachtete sie die Amerikaner als »große Kinder«. Sie musste sich ständig auf die Zunge beißen, wenn sich eine der Frauen zum Beispiel über den Krieg beschwerte: »Ich weiß nicht, wie es für euch da drüben war, aber hier konnte man nicht einmal die eigene Zigarettenmarke bekommen.«

[…] ihr Deutschsein und ihre Sehnsucht nach Deutschland – ihr Heimweh – waren so sehr Teil von ihr, dass man sie sich nicht ohne sie denken kann.

Meiner Mutter war mit allen Nachbarinnen gemein: die Überzeugung, dass wir nicht in diese Sozialbausiedlung gehörten.

Sie war eine gute Geschichtenerzählerin. Zum einen sprach sie Englisch mit der Kraft und Präzision, mit der sie Deutsch sprach. Und sie benutzte alles – Augen, Hände, jeden Muskel im Gesicht. Sie war gut darin, andere zu imitieren, es war gespenstisch, wie sie zu der Person wurde, die sie nachahmte, und wenn diese Person man selbst war, bekam man einen Vorgeschmack von der Hölle.
Sie war das Gegenteil meines Vaters. Sie redete die ganze Zeit. Sie war stets bereit, in Erinnerungen zu schwelgen – doch das ist ein milder Ausdruck für den vorsätzlichen Akt, den sie beging. Das Heraufbeschwören der Vergangenheit schien eine Berufung für sie zu sein. Die Gegenwart war der Sozialbau, die analphabetischen Nachbarn, eine Familie, die mehr erlitten als gewählt war, denn sie hatte keine Wahl gehabt. Die Vergangenheit war der Ort, an dem sie lebte, an dem ihr Wesen war.

Christa und ihr Mann streiten sich ständig. Immer wieder droht sie, sich scheiden zu lassen. Als sie 46 Jahre alt ist, stirbt er.

Eine Feder auf dem Atem Gottes

Christas jüngste Tochter, die Ich-Erzählerin, beginnt als Zwölfjährige mit Ballett-Unterricht und träumt davon, eine Ballerina zu werden.

Ich liebte es – die Regeln, die Rituale, die Intoleranz gegenüber jeglicher Nachlässigkeit oder Schonung. Autoritarismus passte natürlich zu meiner Erziehung […].
Aber vor allem bedeutete das Ballett Entkommen. Statt nach der Schule nach Hause zu gehen, ging ich zum Ballettunterricht.

Ich brauchte fast zwei Stunden, um vom Ballettunterricht nach Hause zu kommen. Meine Hausaufgaben konnte ich nur in der U‑Bahn und im Bus machen. Nachdem ich morgens die Wohnung verlassen hatte, war ich unter der Woche normalerweise zwölf Stunden außer Haus.

Leicht wie EINE FEDER AUF DEM ATEM GOTTES möchte sie werden. Essen widert sie an, und sie probiert, wie lange sie ohne Nahrungsaufnahme auskommt.

Schmerz war gut; Schmerz war vielversprechend. Schmerz bedeutete, dass man hart an sich arbeitete, es richtig machte […].

Nach einiger Zeit begreift sie, dass sie keine Zukunft als professionelle Tänzerin haben würde.

Vadim

Sie unterrichtet Migranten in der amerikanischen Sprache. Vadim, ein 37 Jahre alter russischer Hafenarbeiter aus Odessa, der seit ein paar Monaten in New York ist, entwickelt sich mit viel Eifer zu ihrem besten Schüler.

Später erfahre ich, was er sich versprochen hat: »Am Ende des Kurses ich vögle diese Lehrerin.«

Im Alter von 20 Jahren heiratete er eine geschiedene jüdische Frau namens Olga, die einen zweijährigen Sohn mit in die Ehe brachte und dann noch eine Tochter gebar.

Gleich nach der Hochzeit zieht Vadim in das Zimmer, in dem seine Frau und sein Stiefsohn mit ihren Eltern leben. Die Hölle für die frisch Verheirateten. Nachts trennt nur ein Vorhang die Betten.

Mehrmals musste die Polizei einschreiten, weil sich Vadim und sein Schwiegervater prügelten – bis der Ältere an einer Hirnblutung starb.

Vadim wohnt mit seiner Frau, der inzwischen 15 Jahre alten Tochter Swetlana, dem Stiefsohn Wolodja, dessen verwitweter Mutter, deren Schwiegertochter und zweijährigen Enkel in einer kleinen Sozialbauwohnung in Brooklyn. Er lässt sich zum Taxifahrer ausbilden. Heroin, Kokain und Alkohol begann er bereits in Odessa zu konsumieren. Auch einen Suizidversuch hat Vadim hinter sich. Ebenso wie sein Vater war er promiskuitiv.

Wenn er sich eine Frau holte, brachte der Vater gelegentlich auch eine für seinen Sohn mit, weswegen Vadim vielleicht meinte, sein Vater sei nicht sein Vater, sondern sein Freund gewesen.

Die Englisch-Lehrerin lässt sich auf eine Affäre mit ihrem Schüler ein, der allerdings „zwischen seinem Job und seiner Familie […] nie viel Zeit“ für sie hat.

Später erfährt sie, dass Vadim in Odessa nicht nur selbst Drogen nahm, sondern damit auch dealte. Er war Zuhälter und gehörte zu einer kriminellen Bande.

Zwei Jahre nachdem sich die Ich-Erzählerin von ihm trennte, sieht sie ihn wieder: Zufällig fährt er das von ihr herbei gewunkene Taxi. Inzwischen sei er mit Olga und Swetlana in eine schönere Wohnung gezogen, berichtet er. Es gehe ihm gut. Die Lehrerin erzählt, dass sie eine Stelle in Shanghai angenommen habe und dort Englisch unterrichten werde.

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Ein Blick auf die Biografie der Autorin zeigt, dass es sich bei „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ nicht um reine Fiktion handelt. Wie die Ich-Erzählerin, deren Namen sie uns verschweigt, wurde Sigrid Nunez 1951 in New York geboren und wuchs mit zwei älteren Schwestern auf. Ihr chinesisch-panamaischer Vater hatte als Soldat der US-amerikanischen Besatzungsmacht eine junge Deutsche geschwängert und später geheiratet. Sigrid Nunez studierte am Barnard College und schloss ihre akademische Ausbildung mit einem Mastertitel der Columbia University ab. Einige Zeit lebte sie mit David Rieff zusammen, dem Sohn der Schriftstellerin Susan Sontag. Mit „A Feather on the Breath of God“ / „Wie eine Feder auf dem Atem Gottes“ debütierte Sigrid Nunez 1995 als Schriftstellerin.

Sigrid Nunez porträtiert in dem Buch den halb chinesischen, halb panamaischen Vater, die deutsche Mutter und einen russischen Geliebten der Ich-Erzählerin, die nicht unbedingt in allen Einzelheiten mit ihr identisch sein muss. Im titelgebenden Kapitel „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ geht es um die Protagonistin in einer Zeit, in der sie Ballett-Unterricht nimmt und ausprobiert, wie lange sie ohne Nahrungsaufnahme auskommt – bis sie erkennt, dass es sich dabei um einen Irrweg handelt.

Die Eltern sind nie wirklich in den USA angekommen. Chang radebrecht das Amerikanische nur. Christa erlernt die Fremdsprache zwar, aber sie verachtet die Amerikaner, hadert mit ihrem Leben in einem Sozialbau und hängt der Vergangenheit nach. Der Russe Vadim dagegen will seine kriminelle Vergangenheit in Odessa vergessen und sich in die US-Gesellschaft integrieren. Es fällt auf, dass die in Brooklyn geborene Ich-Erzählerin weder mit den Eltern noch mit dem Liebhaber eine gemeinsame Muttersprache hat. Obwohl sie 18 Jahre lang mit ihrem Vater unter einem Dach lebt, bleibt er ihr fast ebenso fremd wie die Mutter.

Die Darstellung wirkt ebenso realistisch wie nachdenklich.

Ob es sich bei „Eine Feder auf dem Atem Gottes“ um einen Roman handelt oder nicht, sei dahingestellt. Sigrid Nunez hat unter diesem Titel vier eigentlich autarke Erzählungen zusammengestellt, die sich gegenseitig spiegeln bzw. Kontraste bilden. Einen durchgehenden Plot gibt es nicht.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Aufbau Verlage

Natascha Wodin - Sie kam aus Mariupol
Obwohl sich Natascha Wodin für eine sach­lich-nüchterne Darstellung ent­schieden hat und v. a. die Lebens­geschichte ihrer Tante Lidia rekon­struiert, han­delt es sich bei "Sie kam aus Mariupol" um einen Tat­sachen­roman, nicht um einen Bericht oder eine Dokumentation.
Sie kam aus Mariupol

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.