Georg M. Oswald : Vorleben

Vorleben
Vorleben Originalausgabe Piper Verlag, München 2020 ISBN 978-3-492-05567-3, 215 Seiten ISBN 978-3-492-99640-2 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die 28-jährige Journalistin Sophia Winter und der zehn Jahre ältere Cellist Daniel Keller verlieben sich auf den ersten Blick. Sie zieht zu ihm in das bei der Gentrifizierung des Münchner Glockenbachviertels im Dachgeschoss eines Jugendstilhauses entstandene Luxusapartment. Nach einem halben Jahr beginnt Sophia an der Beziehung zu zweifeln und stellt sich Fragen über Daniels Vorleben ...
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Kritik

In seinem Roman "Vorleben" beschäftigt sich Georg M. Oswald mit der Frage, wie viel man in einer neuen Liebesbeziehung über den Partner bzw. die Partnerin erfahren sollte. Das Buch beginnt als Liebesgeschichte, mutiert dann zu einer grüblerischen Studie und endet als Psychothriller. Zugleich kann man es als Milieustudie und Großstadtroman lesen.
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Sophia Winter

Sophia Winter zog 1999 kurz nach dem Abitur bei den Eltern aus und nach Berlin, wo die 18-Jährige ein Praktikum bei einer Zeitung absolvierte und dann Journalistin wurde. Ihre Anstellungen blieben vorübergehend, und seit längerem arbeitet sie als freie Journalistin. Aber die Zahl der Aufträge hat sich im Lauf der Zeit immer weiter verringert.

Lea, eine befreundete Fotografin, vermittelt der inzwischen 38-Jährigen ein Bewerbungsgespräch beim Staatlichen Symphonieorchester München. Ihr Gesprächspartner ist der zehn Jahre ältere, in der Musikwelt berühmte Cellist Daniel Keller, der gleich belustigt feststellt:

„Sie wissen also überhaupt nicht, wer ich bin?“

Obwohl Sophia nichts von klassischer Musik versteht, erhält sie den gut dotierten Auftrag, die Texte für das Jahresprogrammheft des Orchesters zu schreiben.

Daniel Keller

Daniel Keller und Sophia Winter verlieben sich auf den ersten Blick. Nach dem Bewerbungsgespräch gehen sie im Englischen Garten spazieren, am Abend essen sie in einem Restaurant und danach nimmt Daniel Sophia mit in seine Wohnung. Es handelt sich um ein Luxusapartment in einem renovierten Jugendstilhaus in der Hans-Sachs-Straße, also im Glockenbachviertel. Vor der Gentrifizierung in den Neunzigerjahren war das ein Szene- und sogenanntes Glasscherbenviertel mit besetzten Häusern und verruchten Kneipen.

Daniel Keller verdient zwar als weltweit bejubelter Musiker gut, aber die Wohnung im gentrifizierten Glockenbachviertel kaufte ihm sein Vater in den Neunzigerjahren. Die um die 80 Jahre alten Eltern Brigitte und Robert Keller, ein Ärzteehepaar, wohnen in einer Villa in Gauting. Daniel behauptet, seine Musikerkarriere sei ihr Projekt gewesen. Schon als Kind habe er unter der Tyrannei der Eltern fleißig üben müssen.

Nach der Trennung von seiner Ehefrau Nicole vor dreieinhalb Jahren und der folgenden Scheidung behielt er zwar seinen Teil des Sorgerechts für die inzwischen elf Jahre alte Tochter Marie, aber wegen der Konzertreisen des Staatlichen Symphonieorchesters kann er sie nicht regelmäßig sehen, und Nicole nutzt das, um ihm über ihren Rechtsanwalt Schwierigkeiten zu machen.

Fotoalbum

Sophia und Daniel sind inzwischen seit einem halben Jahr ein Paar. Sie hat ihre Wohnung in Berlin aufgegeben und ist bei ihm eingezogen.

Weil das Jahresprogrammheft längst fertig ist und Sophia keine journalistischen Aufträge mehr bekommt, versucht sie sich auf Betreiben Daniels an einem Roman. Und das verbindet sie mit einem Grübeln über ihn, sein ihr unbekanntes Vorleben und die Beziehung.

Ihre Beziehung gründete auf einer Lüge. Sie hatten drei atemlose Monate so getan, als befänden sie sich auf Augenhöhe. Für jeden anderen Menschen war diese Lüge offenkundig, auf den ersten Blick ersichtlich. […]
Auf der einen Seite war Daniel, der Weltstar. Keiner vielleicht, nachdem sich die Leute auf der Straße umdrehten, obwohl auch das hin und wieder geschah. Aber einer, der in dieser seltsam esoterisch gewordenen Kunst der klassischen Musik, pardon, der E-Musik, höchsten Ruhm genoss. Und wer war sie? Eine arbeitslose Journalistin, die es verstanden hatte, sich, durch welche Fertigkeiten auch immer, einen letztlich vollkommen unbedeutenden Auftrag an Land zu ziehen. Ihr Arsch und ihre Titten spielten dabei vermutlich eine größere Rolle als ihre schreiberischen Fähigkeiten. Von ihren nicht vorhandenen Kenntnissen über Musik gar nicht zu reden.

Während der Cellist mit dem Staatlichen Symphonieorchester eine mehrtägige Konzertreise in Europa unternimmt, sieht Sophia sich in seinem Arbeitszimmer um. Das ist zwar unverschlossen, aber eigentlich tabu für sie. In einem Regal stehen Daniels Tagebücher und Fotoalben. An die Tagebücher wagt sie sich nicht, aber sie zieht ein Fotoalbum heraus. Darin findet sie lose eingelegte Polaroids, auf denen Daniel – schätzungweise 25 oder 30 Jahre jünger – mit einer Frau zu sehen ist.

Sophia glaubt, die Frau schon einmal gesehen zu haben. Und als sie sich wieder einmal im Antiquariat und Plattenladen „Optimal“ des Griechen Christos in der Kolosseumstraße umschaut und ihr Blick auf den „Reiseführer für Eingeborene. Vergessene Geschichten aus dem Glockenbachviertel“ fällt, den sie schon einmal in der Hand hielt, weiß sie auch, woher sie das Gesicht kennt. Es handelt sich um Nadja Perlmann. Ihr Porträt illustriert einen Beitrag des 1995 an einem „goldenen Schuss“ gestorbenen Autors Max Färber über einen schaurigen Mord.

Nadja Perlmann

Max Färber, damals Anfang 20, lernte Nadja Perlmann durch einen etwas verrückten, Joints rauchenden und mit Marihuana dealenden Typ namens Stephan Gundlach kennen.

[…] suchte Max seine Nähe. Er war fasziniert von ihm, wie man von Sprengstoff fasziniert ist.

Nadja hatte ihre Eltern ein paar Tage nach ihrem 18. Geburtstag verlassen und war nach München gezogen, in eine Dachwohnung neben der ihres schwulen Freundes Julian in der Hans-Sachs-Straße. Die beiden sangen Couplets in Kneipen des noch nicht gentrifizierten Glockenbachviertels, und weil sie von den Einnahmen nicht leben konnten, besorgten sie sich zusätzliche Jobs. Nadja arbeitete als Bedienung im „Pimpernel“, wo ihr ein Gast eines Abends anbot, für sehr viel mehr Geld im „Pik-Ass-Klub“ in der Schillerstraße – also im Bahnhofsviertel – zu strippen.

Als Julian nach Berlin zog, bekam Nadja einen neuen Nachbar: Stephan Gundlach.

Der meldete sich im August 1989 im Polizeipräsidium in der Ettstraße und bestand darauf, ein Geständnis zu Protokoll zu geben. Er habe Nadja Perlmann tot in ihrer Dachwohnung vorgefunden und aus Sorge, für ihren Mörder gehalten zu werden, die Leiche zerstückelt, um sie verstecken zu können. Tatsächlich fand die Polizei an den angegebenen Orten den abgetrennten Kopf von Nadja Perlmann und andere Körperteile. Das Gericht kam zu der Überzeugung, dass Stephan Gundlach auch der Mörder der Frau war. Wegen Schuldunfähigkeit aufgrund einer Geistesstörung kam er zwar nicht ins Gefängnis, aber er lebt seit damals in einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung.

Tagebuch

Sophia findet heraus, dass aus den damals von Nadja Perlmann und Stephan Gundlach bewohnten Dachkammern bei der Gentrifizierung des Glockenbachviertels das Luxusapartment entstand, das Robert Keller seinem Sohn in den Neunzigerjahren kaufte. Er wohnt also an dem Ort, an dem Nadja Perlmann ermordet wurde, und er kannte sie!

Bevor Sophia Tagebücher aus dem Regal nimmt, knipst sie mit dem Smartphone ein Foto, um sie nach dem Lesen genau wie vorher hinstellen zu können. Außerdem probiert sie Nadjas Todesdatum am Zahlenschloss des Safes. 2781989 funktioniert. Im Tresor liegt unter anderem ein Packen Fotokopien aus Akten der Staatsanwaltschaft München: 1989 ermittelte die Mordkommission vorübergehend auch gegen Nadja Perlmanns Bekannten Daniel Keller. (Später erfahren wir, dass Daniels Vater die Fotokopien über einen Freund bei der Polizei bekam.)


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Das Ende

Das ganze Material hat Sophia am Esstisch ausgebreitet, als Daniel einen Tag früher als erwartet von der Konzertreise zurückkehrt.

Sobald er begriffen hat, dass Sophia über sein Vorleben Bescheid weiß, sperrt er die Wohnungstür ab und steckt den Schlüssel ein. Dann setzt er sich scheinbar ruhig zu Sophia an den Tisch und berichtet, was 1989 geschah.

Er war damals 19 Jahre alt, ein schüchterner und unerfahrener Musikstudent in München. Bei einem verwegenen Besuch Anfang 1989 im „Pik-Ass-Klub“ verliebte er sich in die Stripperin Nadja, kam aber nicht an sie heran. Um sie zu sehen, verbrachte er weitere Abende in dem Nachtlokal – bis sie zu ihm an den Tisch kam, ihn mit in ihre Dachwohnung nahm und eine Affäre mit ihm begann.

Nadja brachte ihn dazu, sie beim Sex immer heftiger zu strangulieren. Daniel wollte es nicht, aber eines Nachts bewegte sie sich dann nicht mehr. Zuerst hoffte er, dass sie nur bewusstlos sei, aber rasch begriff er was tatsächlich geschehen war: Er hatte sie versehentlich erdrosselt.

Verstört kehrte Daniel zu seinen Eltern zurück. Er rechnete mit seiner Verhaftung, aber es geschah zunächst nichts. Vergeblich blätterte er in den Zeitungen. Erst nach einiger Zeit gab es Berichte über einen Irren, der gegenüber der Polizei behauptete, seine tote Nachbarin zerstückelt zu haben.

Daniel beteuert, dass er Nadja nicht töten wollte. Sowohl eine fahrlässige Tötung als auch eine Körperverletzung mit Todesfolge sind inzwischen verjährt. Eine Haftstrafe bräuchte er also nicht mehr zu befürchten.

Obwohl Sophia keinen Zweifel daran lässt, dass sie seine Lebenslüge nicht decken wird, gibt er ihr schließlich den Türschlüssel und bleibt am Tisch sitzen, als sie seine Wohnung verlässt.

Sophia nimmt sich ein Hotelzimmer und duscht ausgiebig. Als sie zu dem Haus in der Hans-Sachs-Straße zurückkehrt, hat dort ein Menschenauflauf stattgefunden, Polizei- und Rettungsfahrzeuge stehen auf der Straße. Auf dem Gehsteig liegt eine zugedeckte Leiche.

„Gehen Sie bitte weiter“, sagte eine Polizistin zu ihr.
Sie antwortete:
„Ich weiß, wer der Mann war.“

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In seinem Roman „Vorleben“ beschäftigt sich Georg M. Oswald mit der Frage, wie viel man in einer neuen Liebesbeziehung über den Partner bzw. die Partnerin erfahren sollte. Misstrauen kann gerechtfertigt sein – aber Informationen über das Vorleben der anderen Person können auch alles zerstören.

„Vorleben“ beginnt als Liebesgeschichte, mutiert dann zu einer grüblerischen Studie und endet als Psychothriller. Zugleich kann man das Buch als Milieustudie und Großstadtroman lesen.

Die Handlung spielt vor und nach der Gentrifizierung des Münchner Glockenbachviertels. Georg M. Oswald hat viel Lokalkolorit aufgenommen und dabei auch beispielsweise Christos Davidopoulos‘ legendärem Plattenladen „Optimal“ in der Kolosseumstraße ein Denkmal gesetzt. Den von einigen Romanfiguren besuchten Circus Gammelsdorf im ehemaligen Dorfkino von Gammelsdorf westlich von Landshut hat es ebenfalls gegeben. Vorbild für das im Herkulessaal der Münchner Residenz spielende „Staatliche Symphonieorchester München“ ist wohl das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Marie, die Tochter von Daniel und Nicole, ist auf Seite 46 elf, auf Seite 131 dagegen neun Jahre alt, obwohl die zweite Szene weniger als ein halbes Jahr vor der ersten spielt. Und weder der Autor noch das Lektorat scheint den Unterschied zwischen der Gleiche und Derselbe zu kennen (Seite 110).

Aber diese Kleinigkeiten stören nicht weiter. Mit „Vorleben“ bietet Georg M. Oswald eine spannende Lektüre mit einem interessanten Thema.

Georg M. Oswald wurde am 5. August 1963 in München geboren und wuchs in Weßling zwischen Ammersee und Starnberger See auf. Nach dem Jurastudium an der LMU und einem Rechtsreferendariat am Landgericht legte Georg M. Oswald 1993 das Zweite Staatsexamen ab. Im Jahr darauf begann er als Rechtsanwalt in München zu arbeiten. 1995 debütierte Georg M. Oswald als Schriftsteller mit dem Erzählband „Das Loch. Neun Romane aus der Nachbarschaft“. 1997 folgte sein erster Roman: „Lichtenbergs Fall“. Einem breiteren Publikum wurde er mit dem Roman „Alles, was zählt“ (2000) bekannt.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Piper Verlag

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