Karl-Heinz Ott : Und jeden Morgen das Meer

Und jeden Morgen das Meer
Und jeden Morgen das Meer Originalausgabe: Carl Hanser Verlag, München 2018 ISBN 978-3-446-25995-9, 143 Seiten ISBN 978-3-446-26134-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

30 Jahre lang führte Sonja Bräuning mit ihrem Ehemann Bruno ein Gourmet-Restaurant am Bodensee. Als dem Spitzenkoch der Michelin-Stern aberkannt wurde, begann er sich selbst zu zerstören und schluckte schließlich eine tödliche Dosis Tabletten. Sein Bruder übernahm das überschuldete Restaurant – und jagte seine Schwägerin hinaus. Seit drei Jahren lebt die 65-Jährige nun in Wales an der Küste und blickt auf ihr Leben zurück …
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Kritik

Karl-Heinz Ott lässt in seinem Roman "Und jeden Morgen das Meer" die Grenzen zwischen der Gegenwart und den Erinnerungen der Protagonistin im ständigen Wechsel elegant ineinander übergehen. Das Meer ist für Sonja Bräuning bedrohlich, aber auch ein Symbol von Freiheit und Grenzenlosigkeit.
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Gegenwart

Sonja Bräuning, eine Witwe Mitte 60, steht jeden Morgen, auch bei Wind und Wetter, auf den Klippen vor dem walisischen Dorf Abydyr und blickt aufs Meer hinaus. Dabei denkt sie jedes Mal, dass sie springen könnte und die Wogen sie verschlingen würden. Im letzten Winter wurde der Sohn von Touristen beim Filmen von den tosenden Wellen erfasst und vom Meer fortgerissen.

Zehn, zwölf Schritte vom Küstengeländer entfernt befand er sich auf halber Höhe bis zu den Klippen. Warum die Wellen ihn nicht bergauf gespült haben, bleibt bis heute ein Rätsel. Sie hatte ihn vom Fenster aus beobachtet. Plötzlich war er weg. Anfangs dachte sie, er sei zurückgewichen und den Berg hinaufgerannt. Am nächsten Morgen fand man ihn tot, ein wenig nordwärts in einer Bucht.

Und jeden Morgen liegt es wieder da, das Meer, in seiner unendlichen Gleichgültigkeit.

Seit drei Jahren lebt Sonja in Wales. Niemand aus ihrem früherem Leben kennt ihren Aufenthaltsort, denn sie hat weder eine Adresse noch eine Telefonnummer hinterlassen.

Sonjas Kindheit und Jugend

Als Sonja noch ein Kind war, folgte ihre Mutter einem GI in die USA. Die Tochter wuchs bei der Großmutter in einem Dorf am Oberlauf der Donau auf, und als diese altersdement wurde, kam das Kind mit zehn Jahren in ein Klosterinternat.

Eigentlich bestaunt sie Mutters Mut und ihre Rücksichtslosigkeit. Was sonst brächte eine junge Frau vom Land dazu, einfach abzuhauen und das Kind bei der Großmutter zurückzulassen?

Die Oberin unterrichtete Sonja erst nach der Beerdigung über den Tod ihrer Großmutter, die ihre letzten beiden Jahre in einem Pflegeheim verbracht hatte, und übergab ihr ein Bündel Briefe, die sie ihrer Großmutter geschrieben hatte. Alle waren geöffnet, kein einziger war abgeschickt worden.

Immerhin vermittelten ihr die Klosterschwestern einen Ausbildungsplatz in einem Hotel in St. Moritz.

Lindenhof

In St. Moritz lernte sie Bruno Bräuning kennen, der es dort bereits zum Souschef gebracht hatte.

Als Sonja und Bruno bereits sieben Jahre lang ein Paar waren, erlag sein Vater einem Herzinfarkt, und die Witwe erwartete vom jüngeren ihrer beiden Söhne, dass er den Gasthof am Bodensee weiterführte, denn sein Bruder Arno war Rechtsanwalt mit eigener, gut gehender Kanzlei.

In jahrzehntelanger Anstrengung machten Bruno und Sonja aus der einfachen Wirtschaft einen der renommiertesten Gourmettempel zwischen Bregenz und Basel.

Die Neue will hoch hinaus, hieß es im Ort. Auch Brunos Mutter gefiel das nicht.

Das Restaurant wurde mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet, und die Betreiber konnten sogar Gäste wie den Bundeskanzler Helmut Kohl und den französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac begrüßen.

Arno warf seinem jüngeren Bruder allerdings vor, seinen Erfolg viel zu wenig zu vermarkten.

In der Küche mochte er ein Künstler sein, als Geschäftsmann war er für ihn eine Niete.

Aber Bruno war kein gewiefter Manager, sondern ein introvertierter Mann, der ganz in der Kochkunst aufging. Es lag ihm nicht, mit den Gästen zu plaudern. Er sprach überhaupt wenig, auch mit Sonja, und aus ihrer Ehe wurde ein eher geschwisterliches Verhältnis.

Dass die Ausgaben die Einnahmen überstiegen, wussten nur Bruno, Sonja und das Finanzamt.

Der Spitzenkoch ließ sich überreden, während einer zweiwöchigen Kreuzfahrt von Bremerhaven nach Nizza die Verantwortung für das Kulinarische zu übernehmen. Als das Schiff in See stach, war der Michelin-Stern bereits weg, aber das ignorierten die Veranstalter. Sonja begriff, dass bei Kreuzfahrten nur Köche und Künstler angeworben werden, die den Höhepunkt ihrer Karriere hinter sich haben.

Für die Wegnahme des Sterns rächte sich Bruno mit Selbstzerstörung. Er spielte mit dem Gedanken, wieder ein einfaches Lokal aus dem Lindenhof zu machen. Der Betrieb lief weiter, aber Bruno zog sich immer wieder in den Weinkeller zurück und betrank sich.

Ein makabrer Spitzweg, der Weinkeller als Vorübung fürs Grab, ein Spinnwebenverlies und mönchisches Trinkerparadies. Als wollte er sich bereits ans Schummerlicht der Ewigkeit gewöhnen. Drei Jahre lang trank er sich dort Nacht für Nacht aus dem Leben hinaus.

Zäsur

Dass Bruno sich schließlich mit einer Überdosis Tabletten das Leben nahm, versuchte die Witwe zu vertuschen.

Drei Tage nach der Beerdigung ließ sie sich von ihrem Schwager, der ihr auch früher schon gegen ihren Willen in den Schritt gefasst hatte, mit hochgeschobenem Rock im Stehen nehmen. Später wusste sie nicht, warum. Vielleicht aus Verzweiflung oder Einsamkeit.

Ohne sich mit Sonja abzusprechen, regelte Arno die Übernahme des Restaurants mit der Bank: Schuldumschreibung gegen Aufgabe aller Ansprüche. „Das Haus unserer Eltern in den Ruin geritten!“, schimpfte er. Er wolle das Haus abreißen, sagte er, ein Neubau wäre kostengünstiger als eine Sanierung. Dann meinte er jedoch: „Hier muss investiert werden, und dann muss ein junges Team her, mit neuen Ideen!“

Du kannst froh sein, dass ich das alles übernehme!

Er kam sich vor wie ein Mann, der Verantwortung übernahm und für alle nur das Beste wollte. Du sitzt auf einem Trümmerhaufen, hatte er gesagt.

Du bist ein freier Mensch, hatte Arno gesagt, ich übernehme die Ruine! Er glaubte, ihr einen Gefallen zu tun.

Die 62-jährige Witwe stand vor dem Nichts. Sie bewarb sich bei mehreren Hotels, aber in ihrem Alter hatte sie keine Chance mehr, nicht einmal als Rezeptionistin.

Das Einzige, was sie hatte, waren Schulden. Doch es waren nicht die Schulden, was sie ihre Bodenlosigkeit spüren ließ, es war die jähe Gewissheit, in der Welt keinen Platz mehr zu haben.

Wales

Zwei Monate nach Brunos Tod erinnerte sich Sonja an Mister Pettibone, einen englischen Stammgast des Lindenhofs. Dessen in London lebender Onkel besaß ein vernachlässigtes Hotel in Wales. Allerdings hatte Mr Pettibone auch darauf hingewiesen, dass man in der Gegend am Meer ein paar Tage Ferien machen, aber nicht dauerhaft leben könne.

„Man zieht nur nach Wales, wenn man vom Leben nichts mehr will!“

Sonja schreckte das nicht ab. Gegen freies Logis und ein Taschengeld übernahm sie die Leitung des Hotels Ocean Bay in Abydyr.

Würde man hier die Kaffeemaschine wegräumen und den Laptop an der Rezeption gegen ein Gabeltelefon eintauschen, könnte man einen Film drehen, der vor dem Krieg spielt.

An manchen Tagen stehen alle Zimmer leer, dann wieder sind drei oder vier belegt. Länger als eine Nacht bleiben die meisten nicht, zur Hälfte Leute mit Rucksack, die von den Schneebergen im Norden kommen und Richtung Cornwall weiterwandern.

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Obwohl Karl-Heinz Ott in dem Roman „Und jeden Morgen das Meer“ keine Ich-Erzählerin auftreten lässt, sondern in der dritten Person Singular schreibt, erleben wir alles aus der Perspektive der Protagonistin Sonja Bräuning. Drei Jahre nach dem Suizid ihres Mannes am Bodensee lebt sie an der Küste von Wales und hängt ihren Erinnerungen nach. Karl-Heinz Ott lässt die Grenzen zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit im ständigen Wechsel elegant ineinander übergehen. Diese gelungene Parallelmontage ist das Besondere an „Und jeden Morgen das Meer“.

Für Sonja Bräuning, die sowohl die Risiken des kleinen Unternehmertums als auch Altersdiskriminierung erfahren hat, gewinnt das Meer eine metaphorische Bedeutung. Es verschlingt einen unvorsichtigen Jungen, ist aber auch ein Symbol von Freiheit und Grenzenlosigkeit. Sonja findet es beruhigend, jeden Morgen auf der Klippe zu stehen und zu wissen, dass sie sich in die Wogen stürzen könnte, wenn sie wollte.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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