Andrea Roedig : Man kann Müttern nicht trauen
Inhaltsangabe
Kritik
Aufstieg und Absturz
Liselotte („Lilo“) wird 1938 in Düsseldorf als einziges Kind von Gertrud („Traudel“) und Heinrich Adler geboren. 1942 muss der Vater in den Krieg, und er wird schließlich in Russland vermisst.
Im Alter von 22 Jahren lernt die Modefachverkäuferin Lilo Adler den Metzgersohn Franz-Josef Roedig kennen. Ein halbes Jahr später heiraten die beiden – aber erst nachdem sich seine Eltern durch ein ärztliches Attest haben versichern lassen, dass die Braut noch unberührt ist. Josef und Elisabeth Roedig überlassen dem Sohn schon bald ihre Metzgerei in Düsseldorf-Bilk. Beinahe über Nacht steigt Lilo zur Chefin auf.
1962 wird Andrea Roedig geboren, drei Jahre später ihr Bruder Christoph.
Beide Eltern verfallen dem Alkohol, Lilo wird außerdem tablettensüchtig.
Meine Mutter stand entweder glänzend und von mir bewundert im Laden, oder sie saß an den Wochenenden in der Wohnung und war beschämend „komisch“. Auf irgendeine Weise unerreichbar war sie fast immer.
Nach einem dreiwöchigen Mallorca-Urlaub im Sommer 1973 – den er über einen Kredit finanziert – schließt der Porsche-Fahrer Franz-Josef Roedig die Metzgerei, meldet Konkurs an und zieht mit der Familie in einen anderen Stadtteil. Nur vorübergehend ertragen Lilo und Franz-Josef Roedig Anstellungen in den Fleischabteilungen von Supermärkten. Im Februar 1975 erfolgt die Zwangsräumung wegen Mietrückstands.
Während Josef Roedig zwar seinen Sohn und die Enkel aufnimmt, verweigert er der Schwiegertochter den Zutritt zu seinem Haus in Düsseldorf-Volmerswerth. Lilo verschwindet für die nächsten drei Jahre aus dem Leben ihrer Kinder.
Christoph kommt in ein Düsseldorfer Kinderheim, Andrea ins Ursulinen-Internat in Bad Münstereifel. Die Ferien und jedes zweite Wochenende verbringt sie mit ihrer Großmutter Gertrud Adler in deren Zwei-Zimmer-Dachwohnung.
Intermezzo
Drei Jahre lang hört Andrea nichts von ihrer Mutter. Im Februar 1978 ruft Lilo unvermittelt aus München an, und im Juli besuchen Andrea und Christoph sie dort. Lilo lebt mit einem 20 oder 25 Jahre älteren zwielichtigen Mann zusammen, der eine als Spielhalle deklarierte Kaschemme betreibt: Otto Maresch.
Später erfährt Andrea Roedig, dass ihre Mutter vorübergehend wegen Zechprellerei und Rezeptfälschung inhaftiert war.
Otto Maresch gibt die „Spielhalle“ in München auf, mietet stattdessen ein Etablissement in Nürnberg und ein Wohnhaus in Grassau am Chiemsee. Von dort wechselt er nach Hintergschwendt bei Aschau, wo er ein Gasthaus pachtet und zum Luxushotel umbauen will. Auch daraus wird nichts. Er zieht mit Lilo nach T. bei Würzburg und pachtet auch dort wieder einen Gasthof. 1981 findet ihn Lilo erhängt auf dem Dachboden.
Zum Glück war sie nicht mit ihm verheiratet und braucht deshalb seine Schulden nicht zu übernehmen. Den Gasthof in T. führt sie nun allein weiter.
Das Ende
Als Andrea und Christoph die Mutter 1982 in T. besuchen, lebt sie mit einem der Männer vom Stammtisch zusammen. Heinz ist vier Jahre jünger als sie und Inhaber eines alt eingesessenen Bettenfachgeschäfts. Erst jetzt lassen sich Lilo und Franz-Josef Roeder scheiden. Lilo heiratet Heinz, und auch ihr Exmann verehelicht sich erneut in Düsseldorf.
Christoph lebt offen schwul. Andrea, die sich im Internat „falsch verschraubt“ vorkam, fällt es schwerer, sich gegenüber der Mutter zu outen.
2007 zieht die selbstständige Journalistin nach Wien.
Das Bettenfachgeschäft wird durch Discounter ruiniert. Heinz kann nach einer Rückenoperation in Würzburg und anschließenden Komplikationen nur noch mit einem Rollator gehen. Obwohl der Laden inzwischen nichts mehr einbringt, führt Lilo ihn weiter, um einen Freiraum zu haben.
Schließlich bricht sie zusammen. Heinz verkauft seine Immobilie an einen Frisör, behält jedoch das Wohnrecht, und nach einem Jahr in Kliniken kehrt Lilo zu ihm zurück.
Am 26. September 2015 stirbt die 76-Jährige in einem Pflegeheim. Heinz überlebt sie um ein Jahr.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In ihrem autobiografischen Buch – Roman? – „Man kann Müttern nicht trauen“ erinnert sich Andrea Roedig an ihre traumatisierende Beziehung mit der Mutter, die inzwischen gestorben ist. Sie versucht, Lilos Verhalten zu verstehen und sich ihr in der Rückschau zu nähern. Dabei schont sie weder die Mutter noch sich selbst. Ausdrücklich weist Andrea Roedig darauf hin, dass ihr ambivalentes Buch keine Abrechnung oder Schuldzuweisung sein soll.
Ich verstehe Mütter immer noch nicht, und ich traue ihnen nicht, so wenig wie mir selbst. Aber es fühlt sich gelöst an, dieses Buch ist ein Abschied, eine Umarmung, ein Loslassen, etwas ist befreit, auch wenn Lilo weiterhin ein Rätsel bleibt.
Das Schreiben dieses Buches kann man als Abschiednehmen interpretieren; zweifellos ist es ein Versuch, sich von einem belastenden Thema durch Sprache zu befreien, also Selbsttherapie. Bei vielen autobiografischen Büchern ist der Nutzen beim Schreiben größer als der Gewinn beim Lesen, und das gilt wohl auch für „Man kann Müttern nicht trauen“. Die dysfunktionale Familiengeschichte findet zwar vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts statt, aber letzteres macht Andrea Roedig nicht zu ihrem Thema. Und formal-literarisch wäre ein assoziativer Ansatz anspruchsvoller gewesen als die chronologische Aufarbeitung aus der Rückschau.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Andrea Roedig / dtv Verlagsgesellschaft