Bernadette Schoog : Marie kommt heim

Marie kommt heim
Marie kommt heim Originalausgabe Edition Klöpfer, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2022 ISBN 978-3-520-76301-3, 272 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Erst kurz vor dem Tod der Mutter erfährt Marie ein Familiengeheimnis, das ihr hilft, sie zu verstehen. Es ist fast zu spät, als sich Mutter und Tochter endlich nahekommen. Marie ist dann aber bei der alten Frau, als diese friedlich stirbt.
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Kritik

Bernadette Schoog lässt sich in ihrem Debütroman "Marie kommt heim" viel Zeit, die berührende Geschichte zu erzählen. Elegant sind die fließenden Übergänge zwischen der Gegenwart und Geschehnissen in der Vergangenheit.
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Die Tochter

Marie Hagen ist 44 Jahre alt und lebt in Neustadt im Südwesten Deutschlands, als das Pflegeheim anruft, in dem ihre Mutter seit fünf Jahren betreut wird. Es befindet sich in Maries Geburtsort Josefsburg. Man rät ihr, ihre Mutter noch einmal zu besuchen, bevor es zu spät ist. Seit drei Jahren war Marie nicht mehr dort.

Sobald sie ihr Abitur hatte, wollte sie nur noch weg. Während des Studiums in Freiburg im Breisgau gehörte sie zu einer Wohngemeinschaft auf der französischen Seite der Grenze. Marie bewarb sich beim Stadttheater der Universitätsstadt und wurde auch tatsächlich von der Intendantin Annabelle Meier als Regie-Assistentin eingestellt. Als Dramaturgie-Assistentin kam Marie dann ans Schauspielhaus Bochum – und fing dort eine Affäre mit dem 20 Jahre älteren verheirateten Direktor Urs Jansen an.

Wegen eines Streits mit ihm kündigte sie, zog nach Neustadt und wurde Buchhändlerin in Annemarie Schübleins „Lesestube“. Letztes Jahr gewann sie Dr. Adrian Fischer, einen Arzt und Erfolgsautor, für eine Lesung – und verbrachte die Nacht mit ihm im Hotelzimmer. Es blieb bei einem One-Night-Stand, denn Adrian erklärte ihr, dass er seine intakte Ehe nicht zerstören wolle. Bei der Frankfurter Buchmesse sah sie ihn dann wieder und beobachtete, wie er eine junge Frau küsste.

Die Mutter

Der Anruf aus dem Pflegeheim bringt Marie dazu, sich bei Annemarie Schüblein ein paar Tage freizunehmen und mit dem Auto nach Josefsburg zu fahren.

Unterwegs kreisen ihre Gedanken um ihre Familie und frühere Erlebnisse.

Ihre Großeltern waren bereits vor Maries Geburt gestorben. Bernhardine und August van Leuwen, die Großeltern mütterlicherseits, führten ein Hotel in Josefsburg, und August van Leuwen betrieb auch noch eine Schreinerei. Sie hatten elf Kinder. Hugo wurde nur wenige Tage alt, Gertrud starb als Zwölfjährige an Schwindsucht, und als die fürs Kloster bestimmte Tochter Bernhardine im Frühjahr 1935 starb, musste ihr Bruder Heinrich Geistlicher werden. Inzwischen starb er als Bischof Henrique in Südamerika.

Maries Mutter Elisabeth („Elsje“) war das jüngste Kind der van Leuwens. Ein 14 Jahre älterer Mann namens Friedrich Hagen hielt um die Hand der 21-Jährigen an und heiratete sie. Aber erst mit 42 bekam Elsje eine Tochter. Zwei Tage nach Maries achtem Geburtstag wurde die Mutter Witwe. Wehmütig erinnert sich Marie an die enge Vater-Tochter-Beziehung, von der sich die Mutter ausgegrenzt fühlte.

In Josefsburg, einem Wallfahrtsort, hat Marie ein Zimmer im Hotel „Goldenes Kreuz“ reserviert. Erst am nächsten Tag geht sie ins Pflegeheim.

Die Mutter erkennt Marie zunächst nicht. Als sie in einem lichten Moment begreift, wer bei ihr am Bett steht, schimpft sie:

„Ich habe den Herrgott geehrt und getan, was sich gehört. Und Du? Du nimmst dir alle Freiheiten heraus, ob das jemanden stört oder nicht.“

Verärgert verlässt Marie das Zimmer. Auf dem Weg zum Ausgang drückt ihr die Stationsschwester einen Karton mit Briefen, Fotos und Tagebüchern ihrer Mutter in die Hand:

„Wollen Sie diese Sachen nicht schon einmal an sich nehmen?“

Während ihres mehrtägigen Aufenthalts in Josefsburg liest Marie in den alten Aufzeichnungen, und dabei setzt sich allmählich ein Bild zusammen.

Karol

Am 10. Februar 1940 beschlossen August und Bernhardine van Leuwen, zwar selbst in Josefsburg zu bleiben, aber die beiden verbliebenen Töchter Klara und Elsje mit den Enkeln – Klaras fünf Kinder – wegen des Kriegs mit einem Evakuierungs-Transport nach Bitkau zu schicken. Die Ehemänner Theo und Friedrich mussten Kriegsdienst leisten.

In Bitkau wurde Karol Baum (eigentlich: Kirschbaum), ein Maler und Bildhauer Mitte 30, der wegen epileptischer Anfälle fürs Militär ungeeignet war, auf Elsje, deren Schwester und die Kinder aufmerksam. Er bewohnte einen kleinen Bauernhof und lud die Hungernden ein, bei ihm mit Gemüse aus dem Garten zu kochen.

Nachdem Klara mit bloßen Händen ein Fenster zertrümmert hatte, sorgte Karol Baum für einen kostenlosen Arztbesuch seines Freundes Dr. Peter Matuschek. Der hielt eine sofortige Einweisung Klaras in die nahe psychiatrische Einrichtung für erforderlich. Während Klara von Sanitätern abgeholt wurde, zog Elsje mit ihren Nichten und Neffen zu Karol Baum auf den Hof.

Mehrmals versuchte sie, ihre Schwester zu besuchen, aber sie wurde jedes Mal von einer Ordensfrau an der Pforte abgewiesen. Und als Elsje dann insistierte, wurde die Nonne deutlicher:

„Junge Frau, dies hier ist eine Psychiatrie, hier werden Menschen eingeliefert, die für unser Volk nichts mehr leisten können und die auch sicher nicht mehr gesund werden. Jede Geisteskrankheit ist ja auch eine Strafe Gottes, das darf man nicht vergessen. […] Die meisten Patienten überleben ihre Geisteskrankheit nicht, eine Lungenentzündung, eine Infektion, Wundbrand – das alles führt bei den derzeitigen Verhältnissen schnell zum Tod, auch wenn wir natürlich alles versuchen, um sie zu retten.“

„Ich gebe Ihnen jetzt einen guten Rat! Verschwinden Sie so schnell, wie Sie gekommen sind! Machen Sie, dass Sie fort kommen, rasch, bevor Sie hier noch jemand bemerkt! Das nimmt sonst auch für Sie kein gutes Ende!“

Marie wunderte sich bereits kurz nach ihrer Ankunft in Josefsburg über einen Stolperstein, der ihre Tante Klara als Opfer der Nationalsozialisten ausweist. Nun begreift sie die Zusammenhänge.

Das Geständnis

Karol, Elsje und die Kinder lebten auf dem Hof in Bitkau wie eine Familie zusammen – bis der Krieg endete. Obwohl Elsje sich inzwischen eng mit Karol verbunden fühlte, hielt sie es für ihre Pflicht, mit den Kindern nach Josefsburg zurückzukehren und auf ihren Ehemann zu warten.

Während einiger Minuten, in denen die Greisin ihre Besucherin Marie wieder erkennt, spricht sie davon, dass sie sich schuldig fühle, weil sie nicht nur Karol, sondern auch Friedrich und sich selbst unglücklich gemacht habe. Und sie gesteht Marie, dass nicht Friedrich, sondern Karol der leibliche Vater war. Als sich Elsje nach zwei Fehlgeburten in einer Kurklinik im Harz erholte, besuchte Karol sie dort. Es war ihr letzter Kontakt mit ihm, und er erfuhr auch nichts von der Schwangerschaft.

Das Ende

Maries Jugendfreund Charly, der inzwischen Krankenpfleger geworden ist, hilft ihr, die Mutter heimlich vom Pflegeheim in die Gnadenkapelle zu bringen. Danach gelingt es ihnen auch, sie unbemerkt von der Nachtschwester wieder in ihr Bett zu legen.

Marie ist bei ihr, als sie noch in derselben Nacht friedlich stirbt.

Bei der Beerdigung wirft sie Karols Briefe auf den Sarg im offenen Grab.

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In ihrem Debütroman „Marie kommt heim“ erzählt Bernadette Schoog von einer gestörten Mutter-Tochter-Beziehung. Erst kurz vor dem Tod der Greisin erfährt Marie ein Familiengeheimnis, das ihr hilft, die Mutter zu verstehen. Elisabeth Hagen fühlt sich schuldig, nicht zuletzt, weil sie vor langer Zeit aus Pflichtgefühl eine Entscheidung traf, die mehrere Menschen unglücklich machte. Es ist fast zu spät, als sich Mutter und Tochter endlich nahekommen. Marie ist dann aber bei der alten Frau, als diese friedlich stirbt.

„Marie kommt heim“ beginnt mit der Autofahrt der Tochter zu ihrer sterbenden Mutter. Aber erst auf Seite 32 biegt Marie in der Nähe ihres Geburtsorts von der Autobahn ab, und es dauert noch weitere 38 Seiten, bis sie das Pflegeheim betritt, denn Bernadette Schoog überlässt sie während der fünfstündigen Fahrt und in den ersten Stunden nach der Ankunft ihren Erinnerungen. Dabei sind die Übergänge zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit fließend. Eine Ausnahme bildet die auf Seite 206 abrupt mit einem neuen Kapitel beginnende Rückblende, die auch nicht – wie die übrigen Teile – aus Maries Perspektive erfolgt. Die Vorgeschichte entwickelt sich also nicht chronologisch, sondern assoziativ. Und erst gegen Ende zu erfahren Marie und wir als Leserinnen bzw. Leser von einem Familiengeheimnis. Das ist elegant gelöst.

Bernadette Schoog lässt sich viel Zeit, die berührende Geschichte zu erzählen. Nach meinem Geschmack hält sie sich allerdings zu viel mit Nebensächlichkeiten auf, wälzt beispielsweise eine belanglose Autorenlesung von Seite 157 bis 177 aus und lässt dann auch noch auf mehr als neun Seiten einen One-Night-Stand des Schriftstellers mit der Buchhändlerin folgen. Zeitgeschichtliche Zusammenhänge und Themen wie Euthanasie werden dagegen in „Marie kommt heim“ nur kurz tangiert.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Alfred Kröner Verlag

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