Julia Schoch : Mit der Geschwindigkeit des Sommers

Mit der Geschwindigkeit des Sommers
Mit der Geschwindigkeit des Sommers Piper Verlag, München / Zürich 2009 ISBN 978-3-492-05252-8, 150 Seiten ISBN 978-3-492-97635-0 (eBook) ISBN 978-3-492-25873-9 (Taschenbuch) Überarbeitete Neuausgabe Mit der Geschwindigkeit des Sommers Deutscher Taschenbuch-Verlag dtv, München 2022 ISBN 978-3-423-14851-1, 142 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin denkt in der Rückschau über das Leben ihrer toten Schwester nach. Diese hoffte vergeblich auf die Einlösung der Zukunftsversprechen zunächst des DDR-Regimes, dann des Westens. Auf die Wende folgte die endgültige Desillusionierung. Parallel dazu erlebte sie die Wiederaufnahme der Liebesaffäre mit dem "Soldaten" als bloße Rückkehr in die Vergangenheit ohne Zukunftsperspektive.
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Kritik

Julia Schoch verklärt in ihrem Roman "Mit der Geschwindigkeit des Sommers" nicht die DDR, aber sie blickt ebenso kritisch auf die Unterlassungssünden in den Jahren 1989/90 und die Verhältnisse im wiedervereinigten Deutschland. Die von einem klugen, nachdenklichen Ich in der Rückschau erzählte Geschichte entwickelt sich nicht chronologisch, sondern assoziativ in Fragmenten. Bemerkenswert ist das Fehlen wörtlicher Rede.
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Der letzte Kontakt

Als die Ich-Erzählerin von einer mehrwöchigen Asienreise nach Deutschland zurückkommt, findet sie die bereits eine Woche alte Nachricht vom Tod ihrer älteren Schwester vor, dazu eine von der Schwester am zweiten Tag nach der Ankunft in New York abgeschickte Klappkarte mit der Abbildung des Renaissance-Gemäldes „Madonna mit der Milchsuppe“ von Gerard David.

Sie denkt an das Telefongespräch mit der Schwester im Oktober. Sie führte es während der Reisevorbereitungen mit dem Telefon zwischen Ohr und Schulter geklemmt, nach dem Pass suchend und Unterlagen ordnend. Dass sie zum letzten Mal mit ihrer Schwester sprechen würde, ließ sich nicht absehen. Die Schwester berichtete ihr, dass sie ihren Liebhaber nach einem halben Jahr wieder getroffen habe. Sie sei entschlossen, Schluss zu machen und habe das auch bereits beim letzten Zusammensein gewusst, aber „der Soldat“ – so nannte sie ihn, obwohl er längst nicht mehr beim Militär war – ahne davon ebenso wenig wie von ihrer Absicht, nach New York zu fliegen.

Offizierstöchter

Die Schwestern wuchsen als Offizierstöchter in einer aus dem Nichts gestampften Garnisonsstadt der Nationalen Volksarmee am Stettiner Haff auf. Als Kind hing die Jüngere am Rockzipfel der Älteren, aber als Erwachsene ist sie viel in der Welt unterwegs, während die Ältere zeitlebens kaum über die nächste Kreisstadt hinaus kam.

Im Gegensatz zu mir – ich war ständig mit Abfliegen oder ankommen beschäftigt – war sie nie gereist. Nicht einmal den Plan zu einer Reise hatte es bei ihr gegeben.

Ich ging, und sie blieb, wo sie immer gewesen war, in dem Ort, in dem wir unsere Kindheit und unsere Jugend verbracht haben und meine Schwester nun sogar ihr ganzes Leben.

Was die Ich-Erzählerin beruflich tut? Wir erfahren nur, dass sie Drehbücher schreibt. Ihre Schwester absolvierte nach der Schule eine Ausbildung zur Schaufenstergestalterin, aber bevor sie eine Anstellung hätte bekommen können, wurde sie schwanger, heiratete im Frühjahr 1989 und brachte ein Kind zur Welt. Im Spätsommer 1989 wies man der Familie eine eigene Wohnung zu. Nach der Wende, als die Schwester bereits ihr zweites Kind erwartete, erhielt der Ehemann das Optikergeschäft der Familie in der Kreisstadt vom Staat zurück, und sie mieteten ein Haus.

Die Garnisonsstadt schrumpfte nach der Wiedervereinigung, und immer mehr Wohnungen standen leer.

Der Soldat

Die Schwester ging noch zur Schule, als sie dem „Soldaten“ begegnete, der in den Achtzigerjahren in die Garnisonsstadt gekommen war. Es geschah bei einem Tanzabend in einer Gaststätte.

Tanz: ein Saal mit ein paar nackten Tischen und einem Tresen darin. Dumpfe Gesichter, zusammengesunkene Körper, die Soldaten dazwischen wie Aussätzige. Obwohl man meinen könnte, die Stadt lebt vom Militär, ist der Anblick von Uniformen für viele eine Provokation.

Die Einheimischen versuchten auch mit dem „Soldaten“ eine Prügelei anzufangen, und als ihm beim Herumgeschubse ein Roman von Ernest Hemingway aus der Tasche rutschte, verschärfte die Verachtung für Bücherleser die Aggression. Aber die Schwester der Erzählerin hob das Buch vom Boden auf.

Der Soldat und sie bildeten plötzlich ein Paar gegen die übrigen Leute im Saal.

Die beiden verließen die Gaststätte und liebten sich noch am selben Abend auf dem schmierigen Lehmboden eines Getreidefeldes, wobei er sich an ihren Körper klammerte „wie an eine Rettungsboje“.

Sie verabredeten sich mehrere Male, aber dann endete die Zeit des Soldaten in der Garnisonsstadt und sie verloren sich aus den Augen.

Jahre später, als die Schwester der Erzählerin bereits Mutter von zwei Kindern war, rief der „Soldat“ an und schlug ein Wiedersehen vor. Er wohnte inzwischen mit seiner Ehefrau ein paar Autostunden entfernt und war schon lange nicht mehr beim Militär. Die Angerufene lud ihn ein und hörte ihm zu, als er erzählte, dass er nach der Wende „irgendein Ingenieursstudium“ angefangen und abgebrochen hatte.

Sie hörte ihm zu, sie wusste: Darum ging es nicht.
Deshalb war sie in der Tür stehen geblieben, als er das Haus schon verlassen hatte. Sie rührte sich nicht, rief ihm nicht nach, stand bloß mit klopfendem Herzen da. Ein halbes Lächeln. Es war unausweichlich, er würde, er musste sich umdrehen.
Wie sie damals, beim ersten Wiedersehen, übereinander hergefallen waren, Menschen, die sich abrupt etwas zurückholen wollen. Sofort. Und danach immer wieder. Das Gierige dieses Augenblicks war auch eine Art gewesen, sich plötzlich zu erinnern, ein Mittel, sich ein Geheimnis zu verschaffen, das keines mehr war, die bedrohliche Gleichgültigkeit der neuen Zeit dem eigenen Leben gegenüber zu verjagen, sie zu verscheuchen und sich das Eigene zurückzuholen, mit dem Lachen und Schreien, mit menschlichen Geräuschen.

Bei ihren weiteren Verabredungen waren sie vorsichtiger und fuhren in Gegenden, wo sie nicht damit rechnen mussten, Bekannten aufzufallen.

So wie er kein Interesse an ihrem gegenwärtigen Leben zeigte und gar nicht auf die Idee kam, dass sie ihre Familie für ihn aufgeben könnte, war auch für sie eine gemeinsame Zukunft kein Thema. Da gab es keine Pläne.

Beim letzten Treffen mit ihrem Liebhaber schlug sie vor, ein Zimmer im Hotel der ehemaligen Garnisonsstadt zu nehmen, in dem inzwischen polnische Erntehelfer einquartiert waren. Dort irritierte sie ihn mit ihrer Hemmungslosigkeit. Dass sie bereits über eine deutsche Agentur ein Privatzimmer in New York gebucht hatte, verschwieg sie ihm.

Epilog

Beim letzten Telefongespräch im Oktober fragte die Ich-Erzählerin ihre Schwester, wie sie denn plötzlich auf die Idee gekommen sei, ihren Liebhaber „abzustoßen“.

Der Ausdruck sollte spaßig sein, aber sie hatte ernst geantwortet: Nicht einfach. Vielmehr habe es sich ergeben mit der Zeit. Inzwischen glaube ich, sie sagte, sie sei über den Sommer hinweg immer mehr auf diesen Gedanken verfallen, ja: er habe sich mit der Geschwindigkeit des Sommers in ihr festgesetzt.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr die Ich-Erzählerin auch, dass ihr Schwager das Haus an diesem Morgen schweigend verlassen hatte.

Seine Kraft war aufgebraucht. Die jahrelange Furcht vor dem Moment war kräftezehrender gewesen als die Verkündung selbst. Er hatte es hingenommen, aber er hatte es nicht mehr ertragen können zuzusehen, wie sie sich davonmachte.

Die meisten Bekannten der Toten glauben, sie habe in New York versehentlich eine Überdosis Schlafmittel eingenommen, aber die überlebende Schwester ist anderer Meinung:

Sie war abgereist, um zu sterben. Doch mit dieser Sicht auf die Dinge, die geschehen sind, stehe ich allein.

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In ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ nennt Julia Schoch keine Namen. Wir erfahren nicht, wie die beiden Schwestern heißen, und wenn vom Liebhaber der Älteren die Rede ist, wird er nur „der Soldat“ genannt.

Die Ich-Erzählerin denkt in der Rückschau über das Leben ihrer Schwester nach. Dass diese tot ist, erfahren wir bereits beim Lesen der ersten Zeilen des Romans:

Was weiß diese Zeit von einer anderen.
Bevor meine Schwester sich in New York das Leben nahm oder, den Ahnungslosen zufolge, zufällig dort starb, hatte ich das immergleiche Bild von ihr im Kopf.

„Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ ist ein DDR-Roman. Die Ich-Erzählerin nutzt die durch den Untergang der DDR entstehenden Möglichkeiten, auch wenn das vielleicht nicht über das hinauskommt, was man Aktionismus nennt. Die ältere Schwester dagegen hofft vergeblich auf die Einlösung der Zukunftsversprechen, zunächst des DDR-Regimes, dann des Westens. Auf die Wende folgt die endgültige Desillusionierung. Die Chance, den Osten Deutschlands nicht einfach der Bundesrepublik einzuverleiben, sondern aus der Wiedervereinigung etwas Neues mit positiven Zügen beider Systeme zu machen, wird vertan. Parallel dazu erlebt die ältere Schwester die Wiederaufnahme der Liebesaffäre mit dem „Soldaten“ als bloße Rückkehr in die Vergangenheit ohne Zukunftsperspektive. Es irritiert sie, dass „der Soldat“ – der längst nicht mehr beim Militär ist – statt einer Uniform Zivilsachen trägt. Durch die politischen und privaten Frustrationen wird die ältere Schwester aus der Bahn geworfen.

Die verlockende Vorstellung, dass in diesem anderen Staat ein anderer Lebenslauf für sie bereitgestanden hatte, verdrängte den nachträglichen Schrecken über die Begrenztheit in dem Land, das in immer weitere Ferne rückte.

Julia Schoch verklärt mit ihrem Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ nicht die DDR, aber sie blickt ebenso kritisch auf die Unterlassungssünden in den Jahren 1989/90 und die Verhältnisse im wiedervereinigten Deutschland.

„Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ entwickelt sich nicht chronologisch, sondern assoziativ, in sehr kurzen, fragmentierten Abschnitten.

[…] schiebt sich allmählich ein Bild über das andre. Denn die Bilder verschwimmen nicht. Sie liegen ausgestanzt nebeneinander, jedes in seine Zeit gehörend, jedes vom nächsten getrennt.

Bald schon werde ich mich an meine Schwester nur noch in Szenen und Gedanken erinnern, wie ich sie hier notiere: Erinnern ist eine Art zu vergessen.

Dabei überlässt Julia Schoch das Wort einer klugen, nachdenklichen Ich-Erzählerin, die sich an Fragen nach dem gescheiterten Leben ihrer Schwester herantastet. Das geschieht leise, illusionslos und mit kühlem Blick. Allerdings weist diese Erzählfigur das Wissen einer auktorialen Autorin auf.

Besonders mitreißend kann „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ nicht sein, denn Julia Schoch verzichtet nicht nur auf eine stringente Entwicklung, sondern auch auf Emotionen, anschauliche Szenen – und wörtliche Rede. Der Text bleibt unkonkret wie in folgendem Beispiel:

Es geschieht, was sie will, jemand ruft, und sie, ohne sich nach dem Rufer umzudrehen, antwortet ihm, gelassen spricht ihre Stimme in den Saal hinein. Nicht schnippisch, nicht überdreht, beinahe sanft antwortet sie ihm. Es wird gelacht, aber das Feixen und Johlen gilt nur dem Unbekannten, der da gerufen hat.

Die Biografie der Autorin weist Übereinstimmungen mit der ihrer Ich-Erzählerin in „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ auf, aber wir wissen nicht, bis zu welchem Grad es sich um ein Alter Ego handelt.

Julia Schoch wurde am 17. Mai 1974 in Bad Saarow als Tochter einer Buchhändlerin und eines NVA-Offiziers geboren, wuchs jedoch in Eggesin auf, einer Garnisonsstadt am Stettiner Haff, bis die Familie 1986 nach Potsdam zog. Julia Schoch studierte Germanistik und Romanistik in Potsdam, Montpellier und Bukarest und lehrte an der Universität Potsdam französische Literatur, bis sie sich 2003 entschloss, freiberufliche Schriftstellerin und Übersetzerin (zum Beispiel von Fred Vargas) zu werden.

Unter dem Titel „Der Körper des Salamanders“ waren bereits 2001 Erzählungen von Julia Schoch erschienen. 2004 folgte ihr erster Roman: „Verabredungen mit Mattok“. „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ ist ihr zweiter Roman.

Den Roman „Mit der Geschwindigkeit des Sommers“ von Julia Schoch gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Claudia Michelsen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Piper Verlag

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Serge