Eve Smith : Der letzte Weg

Der letzte Weg
The Waiting Rooms Orenda Books, London 2020 Der letzte Weg Übersetzung: Beate Brammertz Wilhelm Heyne Verlag, München 2022 ISBN 978-3-453-32169-4, 446 Seiten ISBN 978-3-641-28017-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In der "Großen Krise" vor 20 Jahren hat die britische Regierung ein Medikationsgesetz erlassen, das die knapp gewordenen und gegen multiresistente Bakterien kaum noch wirkenden Antibiotika Patienten vorbehält, die jünger als 70 Jahre sind. Für Senioren bedeutet deshalb jeder Kratzer ein tödliches Infektionsrisiko. Auf Wunsch bekommen sie staatliche Sterbehilfe.
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Kritik

Der dystopische Thriller "Der letzte Weg" von Eve Smith spielt in naher Zukunft in England, und zwar nach einer von multiresistenten Bakterien verursachten Tuberkulose-Pandemie. Eine solche Entwicklung ist angesichts des massenhaften Einsatzes von Antibiotika in der Tiermast und bei der Behandlung auch harmloser Infektionen durchaus realistisch, sollte uns also zu denken geben.
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20 Jahre nach der Großen Krise

Weil Antibiotika in der Vergangenheit viel zu häufig verschrieben und darüber hinaus in großen Mengen bei der Tierzucht eingesetzt wurden, kam es zu einer medikamentenresistenten Tuberkulose-Pandemie. Das war vor 20 Jahren. Seit der Großen Krise sind die britischen Grenzen geschlossen; in allen Lebensbereichen müssen strenge Hygiene-Regeln eingehalten werden, und es gilt ein Medikationsgesetz, das Menschen ab dem 70. Geburtstag von einer Behandlung mit Antibiotika ausschließt. Für ältere Menschen ist also jede Infektion ein tödliches Risiko. Besitzer von Katzen können deshalb den Tieren kostenlos die Krallen entfernen lassen. Wer rechtzeitig und bei klarem Verstand eine entsprechende Verfügung unterschreibt, erhält zur gegebenen Zeit staatliche Sterbehilfe. Immer wieder wird dagegen demonstriert, aber die Regierung bleibt unerbittlich.

Kate

Kate Connelly, eine ausgebildete Krankenschwester, leistet seit der Großen Krise vor 20 Jahren Sterbehilfe in einer entsprechenden Londoner Einrichtung. Die 45-Jährige und ihr Ehemann Mark haben eine 18-jährige Tochter namens Sasha, die noch zur Schule geht.

Kates Adoptivmutter Pen stirbt im Alter von 79 Jahren, fünf Jahre nach ihrem Ehemann. Ihr Tod veranlasst Kate, mit Hilfe von entsprechenden Agenturen nach ihrer leiblichen Mutter zu suchen.

Die Frau, die ihr Neugeborenes zur Adoption freigab, hieß Mary Kate Sommers. Weil sie ihren Namen geändert hat, ist es schwierig, etwas über ihren Verbleib herauszufinden, aber schließlich erfährt Kate, dass ihre Mutter unter dem Namen Lily Taylor im Pflegeheim Liscombe House lebt.

Kate schreibt ihr mit gemischten Gefühlen, aber Lily antwortet mit großer Freude. Kurz darauf besuchen Kate und Sasha sie.

Lily

Lily Taylor ist auf eine Gehhilfe angewiesen, weil sie an Osteorarthritis leidet. Wenige Tage vor ihrem 70. Geburtstag kündigt ihre Pflegerin Anne eine neue Kollegin an: Natalie.

Lily erschrickt, als sie eine Karte mit dem Foto eines von Wilderern verstümmelten Nashorns erhält. Sie versteht das als Anspielung auf die Umstände, unter denen sie als 23-jährige Doktorandin den sieben Jahre älteren Pharmakologen Dr. Piet Bekker kennenlernte. Aber der ist seit 19 Jahren tot.

Mary

Mary Kate Sommers studiert in Oxford Biologie und reist 27 Jahre vor der Großen Krise als Doktorandin für Feldstudien in Botanik nach Südafrika. Im Astofele-Nationalpark verliebt sie sich in den Pharmakologen Dr. Piet Bekker, den sie allerdings für unerreichbar hält, weil er verheiratet ist und eine sechsjährige Tochter namens Cara hat. Wider Erwarten beginnt er eine Affäre mit ihr. Bei einem heimlichen Treffen in einer alten Hütte in der Nähe des Flusses Letaba werden die beiden von einem Ranger in flagranti ertappt, der wegen eines von Wilderern verstümmelten Nashorns nach Bekker sucht.

Als Mary schwanger ist, erwartet Piet Bekker, dass sie zu einer Abtreibung bereit ist. Die 25-Jährige bringt jedoch das Kind in London zur Welt und gibt es gleich nach der Geburt zur Adoption frei.

Jahre später nimmt Piet Bekker erneut Kontakt mit Mary auf und drängt die Wissenschaftlerin zu einer Partnerschaft mit seinem Unternehmen Pharmaplanta. Er ist vor allem an ihren Forschungsergebnissen über die Pferde- und die Falsche Feige interessiert (Carpobrotus edulis, Carpobrotus falsus). Das Gift besonders der Falschen Feige tötet sogar gegen Antibiotika resistente Bakterien ab, verursacht aber auch Organschäden. Obwohl es Pharmaplanta gelingt, die Toxizität des Präparats zu verringern, ruft die Einnahme Funktionsstörungen von Leber und Nieren hervor. Trotzdem strebt Bekker eine klinische Studie in Südafrika an, denn er glaubt, eine Anzahl von Todesfällen müsse man hinnehmen, wenn nur so ein wirksames Medikament als Ersatz für die nicht mehr brauchbaren Antibiotika entwickelt werden kann, das dann massenweise Leben rettet.

28 Jahre nach Marys Feldforschungen in Südafrika, ein Jahr nach dem Ausbruch der medikamentenresistenten Tuberkulose-Pandemie, wird die Botanikern von Commander Graham Parfrey kontaktiert. Der Geheimagent, der über Marys Affäre mit Piet Bekker Bescheid weiß, setzt sie mit der Drohung unter Druck, ihrer Tochter Kate etwas anzutun. Er zwingt sie, beim Prozess im Old Bailey gegen den „Pest-Doktor“ Piet Bekker auszusagen, von dem die Kronanwältin Charlotte Tanner behauptet, er habe sich mit seinem Wissen in der Bioterror-Organisation „Gleichheit für alle“ (GFA) engagiert und so mitgeholfen, die Große Krise auszulösen.

Bevor der Angeklagte verurteilt werden kann, stirbt er in der Untersuchungshaft. Seine Witwe schneidet sich daraufhin die Pulsadern auf und nimmt sich das Leben.

Lily

Zum 70. Geburtstag erhält Lily von der Pflegerin Anne eine Brosche als Geschenk – und von einem anonymen Absender eine Karte mit den Worten „Alles Gute zum Geburtstag. Es wird Dein letzter sein.“

Am nächsten Morgen bemerkt Lily einen Ausschlag. Anne, heißt es, sei wegen gesundheitlicher Probleme vorübergehend zu Hause. Natalie springt für die Kollegin ein. Lily fleht die Pflegerin an, die Infektion vorerst zu vertuschen, damit der bevorstehende zweite Besuch ihrer Tochter nicht abgesagt werden muss, und Natalie gelingt es tatsächlich, Lilys Medi-Profil drei Tage lang so zu fälschen, dass die Staphylokokken-Infektion nicht auffällt.


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Aber Natalie tut dies nicht, um Lily zu helfen. Im Gegenteil. Als die 70-Jährige nicht mehr zu retten ist, gibt sich Natalie als Piet Bekkers Tochter Cara zu erkennen. Nach jahrelanger Suche spürte sie die ehemalige Geliebte ihres Vaters trotz der Namensänderung auf und bewarb sich unter falschem Namen erfolgreich als Pflegerin im Liscombe House. Als sie Lily angeblich gegen Grippe impfte, injizierte sie ihr Staphylococcus aureus. Parallel dazu widerrief sie in Lilys Namen deren schriftliche Zustimmung zur Sterbehilfe, um ihren Racheplan perfekt zu machen: Lily soll qualvoll sterben, weil sie durch ihre Falschaussage vor Gericht nicht nur Caras Vater, sondern auch die Mutter auf dem Gewissen hat.

Kurz bevor Kate ihre Mutter erneut besuchen möchte, erfährt sie durch einen Anruf, dass man bei Lily einen Abszess an der linken Schulter entdeckt habe. Kate nimmt sofort ein Taxi zum Liscombe House, findet ihre Mutter aber nicht mehr dort vor: Lily wurde bereits in die für todkranke Hochrisiko-Patienten eingerichtete Klinik Penworth verlegt. Als Kate das Liscombe House verlassen will, hält eine Pflegerin sie zurück und behauptet, ihre Halbschwester zu sein. Sie heiße Cara. Piet Bekker sei auch Kates Vater, erklärt sie. Sie hat eine aufgezogene Spritze bei sich. Kate gelingt es, ihr die Spritze abzunehmen und ihr den Inhalt in die Vena basilica zu injizieren. Cara stirbt. Weil Kate noch Wiederbelebungsmaßnahmen durchführt und ihr Handeln als Notwehr gewertet wird, droht ihr kein Gerichtsverfahren.

Die Wahrheit

Zur Lilys bzw. Marys Urnenbeisetzung kommt auch der bald 80 Jahre alte frühere Geheimagent Graham Parfrey. Nach der Zeremonie erklärt er Kate, warum er damals dafür sorgte, Piet Bekker aus dem Verkehr zu ziehen. Der Pharmakologe hatte zunächst zwar einer riskanten klinischen Studie in Südafrika zugestimmt, aber dann den aus Sicht der Regierung unbedingt erforderlichen Medikamenten-Einsatz aus Sorge vor zu vielen Toten zu verhindern versucht. Bekkers Beteiligung an einer Terrorgruppe war nur vorgeschoben gewesen; die GFA bestand nur aus einem Häufchen harmloser Aktivisten.

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Der dystopische Roman „Der letzte Weg“ von Eve Smith spielt in naher Zukunft in England, und zwar nach einer Tuberkulose-Pandemie, die durch multiresistente Bakterien ausgelöst wurde (Große Krise). Eine solche Entwicklung ist angesichts des massenhaften Einsatzes von Antibiotika in der Tiermast und bei der Behandlung auch harmloser Infektionen durchaus realistisch, sollte uns also zu denken geben.

Eve Smith schrieb „Der letzte Weg“ zwar kurz vor der Covid-19-Pandemie, aber dadurch bekam der Roman eine zusätzliche Brisanz. Der Autorin geht es vor allem um ethische Fragen wie Triage und Sterbehilfe.

Parallel dazu sucht die seit der Großen Krise vor 20 Jahren bei der Sterbehilfe eingesetzte Krankenschwester Kate nach ihrer leiblichen Mutter, die sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigab. Dabei stößt sie auf Geheimnisse und gerät an eine Person, die sich an Kates Mutter für Taten in der Vergangenheit rächen will.

Eve Smith entwickelt die Tragödie in „Der letzte Weg“ aus drei Handlungssträngen bzw. Perspektiven auf zwei Zeitebenen: 20 Jahre nach bzw. 27 Jahre vor der Großen Krise.

Die beklemmende Dystopie lässt sich auch gut als gesellschaftskritischer Thriller lesen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022

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