Antje Rávik Strubel : Blaue Frau
Inhaltsangabe
Kritik
Berlin
Adina Schejbal wird 1984 in Harrachov geboren, einem Ort im Skigebiet Čertova Hova auf der tschechischen Seite des Riesengebirges. Ihre Mutter, eigentlich eine Mode-Designerin, arbeitet nachts an der Rezeption eines Wellness-Hotels.
Als Jugendliche gibt sich Adina in einem Rio genannten Chatroom als „der letzte Mohikaner“ aus. Die Figur des Chingachgook aus James Fenimore Coopers 1826 veröffentlichten Romans über den Untergang nordamerikanischer Indianerstämme durch europäische Siedler zur Zeit des Siebenjährigen Krieges gibt ihr Kraft.
Am 18. September 2006 verlässt die inzwischen 21 Jahre alte Adina ihren Heimatort und besteigt in Liberec einen Fernbus nach Berlin, um dort sechs Wochen lang eine Sprachschule im Stadtteil Lichtenberg zu besuchen. Später will sie Geowissenschaften studieren, Geologie und Geophysik. In einem Mehrbettzimmer in einem Hostel quartiert sie sich ein.
Sie wird von einer androgynen jungen Frau angesprochen. Rickie ist eine lesbische Fotografin, die die Welt auf sich „einprasseln“ lässt. Sie verfügt über feine Antennen und manipuliert Adina geschickt. So gelingt es ihr auch, die Tschechin zu überreden, sich von ihr porträtieren zu lassen.
Rickies Studio lag in einer Seitenstraße. Die Haustür war voller Graffiti. Früher war hier mal ein Laden gewesen für Müsli, Honig und ätherische Öle. Der Laden war nicht gut gelaufen, weil Lichtenberg damals noch Lichtenberg war, ein Arbeiterbezirk. „Paar Bauarbeiter haben sich hier ihr Frühstück geholt“, sagte Rickie, „und die wollten Bockwurst und Bier.“
Von Mainstream und Auszeichnungen hält die Künstlerin nichts:
„Je preisergekrönt, desto durchergefallen.“
Haus an der Oder
Rickie vermittelt Adina ein Praktikum auf einem ehemaligen Gut auf der deutschen Seite der Oder, nördlich von Schwedt in der Uckermark. Das Gelände gehört Razvan Stein, der aus dem bestehenden Ferienressort eine Einrichtung für den Kulturaustausch mit Osteuropa machen will und sich um Fördergelder bemüht.
Zuerst beachtet er die Praktikantin gar nicht, aber dann fällt ihm auf, dass er mit „Nina“, wie er sie der Einfachheit halber nennt, leichter an Fördergelder kommen könnte:
„Eine Osteuropäerin im Schlepptau ist der beste Schmierstoff der Welt. Du segelst geschmeidig in die Förderprogramme.“
Im Februar 2007 empfängt Razvan Stein einen „Multiplikator“ aus Berlin und die Repräsentantin einer Schweizer Stiftung. Johann Manfred Bengel, so heißt der Deutsche, hält „Nina“ für eine Russin, und das erregt ihn. Am Abend lässt Razvan Stein die Praktikantin mit Johann Manfred Bengel im Gutshaus allein. Sie solle dem Ehrengast Gesellschaft leisten, ordnet er an.
Johann Manfred Bengel vergewaltigt Adina. Kurz zuvor raubte ihr der Jurastudent Ira das Schweizer Messer, mit dem sie sich hätte wehren können.
Am nächsten Morgen berichtet Adina der Schweizerin, was geschehen ist. Das sei eine schwere Anschuldigung, meint die Frau, und es passe nicht zu ihm. Sie arbeite seit neun Jahren mit Johann Manfred Bengel zusammen; er habe eine Ehefrau und drei Kinder.
„Sind solche Anschuldigungen im Moment nicht sehr in Mode?“
Als die beiden Männer mit im Raum sind, sagt die Schweizerin:
„Unsere junge tschechische Kollegin wirkt ein wenig überfordert. Was immer gestern Abend vorgefallen ist; ich kann nur anregen, das schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen.“
Und als die Schweizerin weg ist, wendet sich der „Multiplikator“ aus Berlin an Razvan Stein:
„Schön, sehr schön“, sagte Johann Manfred Bengel. „Osteuropa steht derzeit im Fokus, auch im Auswärtigen Amt. Ich würde da ungern etwas auf den Prüfstand stellen.“ Er räusperte sich. „Es hat mich einiges gekostet, unserer Schweizer Kollegin die fixe Idee auszureden, sich deine Unterlagen anzuschauen. Steuererklärung. Die Arbeitserlaubnis der Mädchen. Da käme einiges zusammen, nicht wahr. […] Wenn sich jemand deine Unterlagen genauer anschauen würde. Aus der Idee, dich in unser Exilprogramm aufzunehmen, würde dann mit Sicherheit nichts.“
Helsinki
Adina flieht. Ein Kifferpaar nimmt sie im Auto mit und bringt sie zum Bahnhof in Oulu. Von dort könnte Adina zu ihrer Mutter nach Harrachov zurückkehren, aber das wagt sie nicht, weil sie sich schämt. Stattdessen steigt sie in den Zug nach Helsinki.
Dort arbeitet sie schwarz als Aushilfe in einem Hotel und wird in einer Abstellkammer einquartiert.
Sie wendet sich mit einer Mail an eine Hilfsorganisation für Frauen, die sexuelle Gewalt erlebten, aber dann begegnet sie Leonides und fasst nicht weiter nach, obwohl sie keine Antwort erhält.
Der estnische Europa-Abgeordnete und Politikwissenschafler Leonides Siilmann stammt aus Tallinn und wohnt in Tartu, wo er auch eine Professur hat, aber er ist ständig auf Reisen. Er versteht sich als Brückenbauer zwischen Ost und West. Ganz besonders engagiert er sich für die Einhaltung der Menschenrechte.
Dass er in Tartu verheiratet ist, ahnt Adina nicht.
Sie zieht zu ihm in das Apartment am Stadtrand von Helsinki, das die Universität dem Gastprofessor zur Verfügung gestellt hat. Er hält sie für eine Studentin und nennt sie liebevoll „Sala“.
Insgeheim ahnte sie, dass Leonides nicht von Dauer war.
Die Wochen und Monate mit ihm waren nur ein Durchatmen, ein Luftholen. Luft zu holen ist lebenswichtig und damit aufzuhören beinahe unmöglich.
Also hörte sie vorerst nicht auf.
Adina schläft zwar mit Leonides, lässt jedoch keine Penetration zu.
Bei seinem Einfühlungsvermögen, das für ganz Europa reicht, hätte ihm auffallen müssen, dass etwas nicht stimmte mit ihrer Haut, ihrem Zurückzucken im Bett, etwas das in Ordnung gebracht werden musste.
Eine Straße überqueren
Im September 2008 bringt eine Limousine den Politiker und Adina anlässlich einer Tagung mit Teilnehmern aus ganz Europa, bei der Leonides die keynote speech halten soll, zu einem Empfang im Rathaus.
Leonides macht sie mit Kristiina bekannt, einer promovierten Sozialwissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin, die seit 2006 ein Mandat im Finnischen Parlament hat. Er selbst kann sich nicht um seine Begleiterin kümmern, denn er muss zahlreiche Hände schütteln. Adina hört, wie er mit einem Deutschen redet – und als dieser sich räuspert, erkennt sie ihn: Johann Manfred Bengel! Keine Minute länger hält sie es im Festsaal aus. Kristiina beobachtet, wie die junge Frau im dünnen Kleid über die Freitreppe hinunterrennt und ein Taxi nimmt. Ihre Jacke hat Adina in der Garderobe zurückgelassen. In Leonides‘ Apartment packt sie ein paar Sachen in einen Rucksack und steckt einige herumliegende Geldscheine ein.
Zwei Nächte verbringt sie im Windschutz der Felsen am Strand. Dann mietet sie eine kleine Wohnung in Helsinki.
Eine Woche nachdem sie Leonides ohne Abschied und Erklärung verlassen hat, schickt sie Kristiina als „der letzte Mohikaner“ eine Mail und erhält von der Sekretärin der Abgeordneten einen Termin.
Leonides habe einem Kriminellen die Hand gegeben, erklärt Adina. Das kann Kristiina zunächst gar nicht glauben, aber dann erinnert sie sich, wie er seinen 35. Geburtstag feierte, mit einem Segeltörn von Käsmu nach Helsinki und einem Fest in der Marina von Tervasaari – alles bezahlt von einem Gazprom-Manager.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Adina möchte, dass sich der Vergewaltiger vor Gericht verantworten muss. Kristiina, die gut vernetzt ist, fragt Liv um Rat, eine renommierte Rechtsanwältin, die sich auf das Strafrecht in Fällen von sexueller Gewalt spezialisiert hat. Die Juristin weist darauf hin, dass in Deutschland gerade einmal zehn Prozent der Anzeigen wegen einer Vergewaltigung zu einer Verurteilung führen und deshalb auch nur schätzungsweise fünf Prozent der Sexualstraftaten angezeigt werden.
„Beim geklauten Portemonnaie fragt keiner, ob du dem vermeintlichen Dieb nur was anhängen willst. Da glaubt man dir sofort. Wenn du missbraucht oder vergewaltigt wurdest, glaubt dir keiner.“
Liv hält im Fall eines Gerichtsverfahrens gegen den Vergewaltiger einen Freispruch für wahrscheinlich, denn man würde Adina unter Druck setzen, etwa so:
„Kann der Beschuldigte gedacht haben, Sie wären einverstanden? Sie sagen selbst, Sie könnten die Sicht des Angeklagten auf den osteuropäischen Kulturkreis nicht beurteilen. Wäre es nicht denkbar, dass der Angeklagte das, was Sie als Vergewaltigung erlebten, für ‚wilden Sex‘ gehalten hat?“
Kristiina trifft sich mit Leonides. Er beklagt sich darüber, dass Sala ohne Abschied und Erklärung verschwand. Als er erfährt, dass Adina den Deutschen Johann Manfred Bengel beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben, erschrickt er, denn gerade der soll in den nächsten Tagen mit dem Eeva-Liisa-Manner-Preis geehrt werden, und Leonides steht als Laudator auf dem Programm der bereits verschickten Einladungen.
Er telefoniert mit anderen Mitgliedern des Komitees und initiiert eine Sondersitzung.
Sexuelle Fehltritte unterliefen den Besten, darüber herrschte weitgehend Einigkeit. Würde man anfangen, sich an persönlichen Mängeln zu stoßen, hätte man für den Preis bald keine Kandidaten mehr.
„Der Mann wird für seine Arbeit ausgezeichnet, nicht für sein Gefühlsleben!“, wandte jemand entnervt ein […]. „Solange gerichtlich nichts vorliegt, tangiert uns das doch überhaupt nicht. […]“
„Wir müssen neutral bleiben“, pflichtet ihm jemand bei. „Sonst machen wir uns angreifbar. […]“
Am Ende der Diskussion beschließt die Kommission, Johann Manfred Bengel den Preis wie vorgesehen zu verleihen. Leonides weigert sich nun allerdings, die Laudatio zu halten.
Adina beschließt, keine Anzeige zu erstatten.
In einem Geschäft stiehlt sie ein Messer und einen schwarzen Hoodie.
Um mit Kristiina an der Preisverleihung teilzunehmen, verlässt sie ihre Wohnung in einem Plattenbau und durchquert die Unterführung zum Hafen. Es gelingt ihr, hinter die Bühne zu kommen. Dort wartet sie mit dem Messer in der Hand im Halbdunkel auf den Vergewaltiger.
Die blaue Frau
Immer wieder tritt eine Schriftstellerin als Ich-Erzählerin auf. Wenn sie von ihrer Wohnung in einem Plattenbau in Helsinki durch eine Unterführung zum Hafen geht (wie Adina), begegnet sie dort einer geheimnisvollen Frau mit einem blauen Tuch im hellen Wildledermantel.
Wenn die blaue Frau auftaucht, muss die Erzählung innehalten.
Ich erwähne mein Vorhaben, einen Roman zu schreiben. Gewöhnlich verschweige ich Fremden, dass ich Schriftstellerin bin. Aber die blaue Frau möchte wissen, was mich nach Helsinki bringt, und in Helsinki nahm die Idee zum Roman vor zwei Jahren Form an. Ich erzähle ihr vom Wissenschaftskolleg in der Fabianinkatu, wo ich Stipendiatin war […].
Ihr Erscheinen muss unhinterfragt bleiben.
Sie sei nicht der Mensch, den ich suche.
Sie hat keine Besitzansprüche gegenüber dem Leben. Sie findet nur, dass es manchmal vor dem Erzählen zu schützen ist.
Ich frage die blaue Frau, ob es sich nicht umgekehrt verhalte. Ob nicht das Erzählen vor dem Leben geschützt werden müsse, vor dem Gewöhnlichen, dem Vergessen, dem Vergehen der Zeit.
Sie verweigere das Erzählen nicht, um mir Auskünfte vorzuenthalten. Das Erzählen ordne die Geschehnisse zu einer Geschichte, die sie zu einer Fremden mache. Nur dem Fremden werde seine Geschichte abverlangt. Hier aber gehe es um sie und mich. Nicht von ungefähr treffe sie mich in einem Hafen.
Im Unerkundbaren, sagt sie, kommen wir einander nah.
Das Wort einer Dichterin. Welche, ist ihr entfallen.Sonst müsste ich glauben, am Ende mir selbst begegnet zu sein.
Schriftsteller liefern immer jemanden ans Messer, so hat es Joan Didion einmal formuliert.
Die blaue Frau hat dafür ein feines Gespür.
Die Ich-Erzählerin fährt zur Universität, um dort zu recherchieren.
Es ist schön, für einen Augenblick nicht an die blaue Frau zu denken, was mich doch an sie denken lässt.
Vor zwei Jahren lernte sie Prof. Leonides Siilmann kennen. Er hielt damals einen Vortrag am Helsinki Collegium for Advanced Studies, und sie war Stipendiatin des Wissenschaftskollegs.
Sie trifft sich mit ihm. Er deutet an, dass er in dem von der Universität zur Verfügung gestellten Apartment am Rand von Helsinki mit einer Frau zusammen lebt. Dabei weiß die Schriftstellerin, dass er mit einer Lehrerin in Tartu verheiratet ist.
Ihm schmeicheln meine Fragen. Wüsste er, dass er mir als Vorbild für eine Romanfigur dient, hielte er das für angemessen.
Einige Zeit hält die Ich-Erzählerin vergeblich Ausschau nach der blauen Frau.
Die blaue Frau steht hinter mir. Sie dreht mich zu sich herum. Sie lacht.
Sie ist die ganze Zeit da gewesen.
Ich hätte mich nur umzudrehen brauchen, nur einmal hinter mich schauen, einen Blick über die Schulter zurück.Es gehe um sie. Ohne sie verliere ich den Anlass des Schreibens. Das Buch werde bedeutungslos.
Überraschend schlägt die blaue Frau der Schriftstellerin vor, mit ihr durch die Unterführung zu gehen und sie zu ihrer Wohnung zu begleiten. Als kenne sie sich in dem Plattenbau aus, steuert die blaue Frau im dritten Stock auf die richtige Tür zu.
Diesen Schuhabtreter, sagt die blaue Frau, erkenne sie wieder.
In die Matte aus Kokosfaser vor der Tür ist ein Schriftzug getränkt. Tervetuloa komeat miehet. Die blaue Frau lacht. Dass er noch hier sei. Den habe sie damals aufs Gesicht gedreht.Ich unterstelle ihr, dass sie die Wohnung aus eigenem Erleben kennt. Das sie hier gewohnt hat. Aufgang D, dritter Stock.
In der Wohnung beginnt die blaue Frau zu erzählen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Ob sie mir nicht sagen wolle, von wem die Rede sei.
Von Sala, sagt die blaue Frau. Sie lehnt sich zurück. Sie lächelt mich an, und dann beginnt sie zu sprechen.
Im Licht der untergehenden Sonne erzählt sie. Sie erzählt der Reihe nach und von Anfang an.„Warum“, frage ich, als sie fertig ist, als sie zu reden aufhört, als scheinbar alles gesagt ist und sie sagt, über der Entscheidung, nicht mehr zu reden, könne ein Leben vergehen, „warum hast du ihn nicht getötet?“
Die blaue Frau legt ihre Finger an die Schläfen und zieht die Haut straff nach hinten. Die Augen werden schmal, das Gesicht eine lachende Maske.
„Warum ich?“
Ins Zentrum ihres ebenso vielschichtigen wie kunstvollen Romans „Blaue Frau“ stellt Antje Rávik Strubel die Vergewaltigung einer jungen Tschechin durch einen Deutschen ‒ ausgerechnet in der Uckermark, wo mit seiner Unterstützung eine Einrichtung für den Kulturaustausch zwischen Ost und West geschaffen werden soll. Die traumatisierte 21-Jährige, die aus Scham nicht mehr zu ihrer Mutter zurückkehrt und versuchen muss, sich selbst wiederzufinden, wird nun auch damit konfrontiert, dass sie kaum eine Chance hat, vor Gericht Recht zu bekommen, weil man Vergewaltigungsopfern nur selten glaubt.
„Beim geklauten Portemonnaie fragt keiner, ob du dem vermeintlichen Dieb nur was anhängen willst. Da glaubt man dir sofort. Wenn du missbraucht oder vergewaltigt wurdest, glaubt dir keiner.“
Sexualisierte Gewalt ist eine Variante des Machtmissbrauchs. Es geht Antje Rávik Strubel in „Blaue Frau“ um Machtstrukturen und Verständigungsprobleme nicht nur zwischen Frauen und Männern, sondern auch zwischen Ost- und Westeuropa.
Das Thema ist wichtig und brisant. Aber das Besondere an „Blaue Frau“ ist die Form, die komplexe Komposition, die Antje Rávik Strubel dazu dient, mit viel Empathie die innere Entwicklung der Protagonistin, nein, nicht grell auszuleuchten, sondern zu umspielen.
Die vier Teile des meisterhaft gestalteten Romans tragen die Überschriften Helsinki, Rickies Laden, Haus an der Oder, Eine Straße überqueren. „Blaue Frau“ beginnt und endet in Helsinki. In den beiden mittleren Kapiteln erfahren wir, was vor Adinas Ankunft in Finnland geschah. Dadurch ist die Linearität bereits aufgehoben, aber auch innerhalb der Abschnitte wird die Hauptfigur von einer Sekunde zur anderen von Erinnerungen heimgesucht. Das sind dann keine klar abgegrenzten Rückblenden, sondern regelrechte Abstürze in die Vergangenheit. Szenen schieben sich ineinander, Konturen verschwimmen, und es kommt zu Überblendungen wie im Kino.
Wie auf einer Orgel wechselt Antje Rávik Strubel in „Blaue Frau“ die sprachlichen Register. Mal beschreibt sie hyperrealistisch ein Detail, dann arbeitet sie mit vagen Andeutungen.
Dem ersten Teil („Helsinki“) stellt Antje Rávik Strubel ein Zitat der dänischen Schriftstellerin Inger Christensen voran:
Ich habe gehört, dass ich die Frau bin, der er schon auf Seite sechzehn begegnet.
Und auf Seite 16 taucht die titelgebende blaue Frau erstmals auf, die auf Seite 147 Ilse Aichinger zitieren wird:
„Im Unerkundbaren kommen wir einander nah.“
Die blaue Frau ist nicht greifbar. Mitunter wirkt sie wie eine poetische Allegorie der schriftstellerischen oder gar dichterischen Kreativität. Lange Zeit trifft eine sonst nicht hörbare Ich-Erzählerin ‒ eine wie Antje Rávik Strubel an einem Roman arbeitende Schriftstellerin und Stipendiatin am Helsinki Collegium for Advanced Studies ‒ die blaue Frau nur im Hafen von Helsinki. Erst gegen Ende zu schlägt die blaue Frau vor, mit ihr durch eine im Buch immer wieder erwähnte Unterführung zu gehen und begleitet die Schriftstellerin zu ihrer Wohnung.
Die Unterführung wird zu einem magischen Gang. Sie wird mit Bedeutung total überfrachtet.
Augenscheinlich war die blaue Frau schon früher in der Wohnung, und sie erkennt auch den Fußabstreifer mit dem Schriftzug „Tervetuloa komeat miehet“ (Willkommen schöne Männer) wieder, erinnert sich, ihn umgedreht zu haben. In der eigentlichen Handlung ist es jedoch die drei Namen tragende Protagonistin Adina / Nina / Sala, die diesen Teppich umdreht. Da verschmelzen die Personen miteinander. Die sich überlagernden Rollen der Ich-Erzählerin, Adinas und der blauen Frau spiegeln die Annäherung der Autorin an ihre Hauptfigur.
Es heißt, Antje Rávik Strubel habe acht Jahre lang an dem Roman „Blaue Frau“ gearbeitet. 2021 wurde sie dafür von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Den Roman „Blaue Frau“ von Antje Rávik Strubel gibt es auch als Hörbuch, gelesen von der Autorin selbst.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © S. Fischer Verlag