Maxim Biller : Der falsche Gruß

Der falsche Gruß
Der falsche Gruß Originalausgabe Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021 ISBN 978-3-462-00082-5, 128 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In seiner in Berlin spielenden Novelle "Der falsche Gruß" erzählt Maxim Biller von zwei eitlen Männern: dem erfolgreichen jüdischen Schriftsteller Hans Ulrich Barsilay und dem Nichtjuden Erck Dessauer, der im selben Verlag ein ehrgeiziges Buch veröffentlichen möchte. Weil Erck Dessauer eine Intrige des vermeintlichen Konkurrenten gegen sein Vorhaben befürchtet, schwärzt er ihn in einem Zeitungsartikel an, um ihm zuvorzukommen.
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Kritik

In der Novelle "Der falsche Gruß" von Maxim Biller schwingt viel mit. Es geht um todbringende Ideologien und den Versuch, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu relativieren. Die böse Satire auf den Literaturbetrieb und das Verhältnis von Juden und Nichtjuden ist schon wegen der geschliffenen Sprache, der Tragikomik und Maxim Billers Sarkasmus inspirierend und unterhaltsam.
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Naftali Aronowitsch Frenkel

An der Theke des Bistros „Trois Minutes“ in Berlin-Mitte trinkt Erck Dessauer Rotwein und feiert so den Vertrag und den Vorschuss, die er drei Tage zuvor für seinen geplanten Frenkel-Dokuroman bekommen hat. Bisher hat er nur Buchkritiken und Restaurant-Tipps fürs Klassik-Radio verfasst.

Leider steht er nun ausgerechtnet bei dem renommierten Verlag unter Vertrag, der seit zwei Jahrzehnten das literarische Zuhause des erfolgreichen Schriftstellers Hans Ulrich Barsilay ist. Und von dem gibt es bereits eine Novelle über Naftali Aronowitsch Frenkel (1883 − 1960), einen der Hauptverantwortlichen für die Entwicklung der Lagerstrukturen im Solowezki-Gulag in den Zwanzigerjahren.

Wer, wenn nicht ich, soll ein Buch über den Herrn der Solowezki-Inseln und Erbauer der Baikal-Amur-Magistrale schreiben, über den genialen Erfinder der Gulag-Sklavenwirtschaft […] Naftali Aronowitsch Frenkel?

Im Alter von 17 Jahren hatte Frenkel es bereits bei der obskuren Import- und Exportfirma Steiner & Co in der ukrainischen Stadt Nikolajew zum Vorarbeiter gebracht. Als der Besitzer nach der Oktoberrevolution aus Furcht vor den Bolschewiken ins Ausland floh, übernahm Frenkel das verwaiste Unternehmen und zog damit nach Odessa. Dort tat er sich mit Mischka Japontschik zusammen, dem König der Unterwelt, der eigentlich Michail Jakowlewitsch Winnizkij hieß. Aber dann verhafteten ihn schwer bewaffnete Tscheka-Agenten. „Wegen Schmuggels, Zuhälterei und anderer privatwirtschaftlicher Aktivitäten“ wurde er zu zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in den Solowezki-Gulag gebracht, das erste sowjetische Straflager überhaupt. 1924 wandte sich Frenkel an Stalin und trug ihm den Plan vor, nur den Arbeitsfähigen in den Lagern halbwegs ausreichend Nahrung zu geben.

[…] dieses geniale Essen-für-Arbeit-System, das sich auch Mischka Japontschik oder dessen Cheder-Lehrer hätten ausdenken können, war nichts anderes als eine besonders billige und bis dahin nie gesehene Form der Menschenvernichtung.

Damit begann „Frenkels märchenhafte Karriere als erster industrieller Massenmörder der Neuzeit“.

Der falsche Gruß

Erck bemerkt Barsilay im „Trois Minutes“. Der jüdische Bestsellerautor sitzt mit dem Rechtsanwalt Leo Meinl, dem Maler Franz Zanussi und dessen kichernder, linksradikaler französischer Exfrau Lola an einem der Tische. Erck springt von seinem Barhocker und geht „langsam, böse, bedrohlich durch das an diesem Abend überraschend leere und völlig unglamouröse Trois Minutes direkt auf den Tisch zu“. Im letzten Augenblick dreht er ab und nimmt den Weg zur Toilette.

Dort betrachtet er sich feindselig im Spiegel.

Als er zurückkommt, spricht Barsilay ihn an:

„Erck Dessauer, richtig? […] Was macht die Magisterarbeit? Wie war noch mal das Thema?“

Die beiden Männer waren sich nämlich einige Jahre zuvor schon einmal begegnet, im Dezember 2000 beim Frühstück im Café Einstein in Berlin. Von dort wollte Erck Dessauer zu dem Diktaturforscher Prof. Wolfgang Sartorius, um ihn als Betreuer seiner Magisterarbeit mit dem Arbeitstitel „Spätbolschewismus als Identität und Nachteil“ zu gewinnen. Hans Ulrich Barsilay traf sich im Café Einstein mit Valeria Petrowna Brik, der Leiterin des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik in Potsdam – und kam mit Erck Dessauer ins Gespräch.

„Spätbolschewismus als Identität und Nachteil“, sagte ich. „Also, das war jedenfalls der Arbeitstitel.“
„Interessant.“
„Das ist aber fast schon zehn Jahre her.“
„Was? Wirklich?“
[…]
„Und damals im Café Einstein haben Sie zu mir gesagt, dass ich meine Magisterarbeit vergessen soll. Ihre Begleiterin“ – ich stockte – „sie hat fast dasselbe gesagt. Aber nur fast.“
„Im Ernst? Ich hoffe, Sie haben nicht auf uns gehört.“

Tatsächlich warf Erck nach der Begegnung mit Valeria und Barsilay seine noch nicht und auch in Zukunft nie geschriebene Magisterarbeit dem Professor gewissermaßen vor die Füße.

Als ich zwei Stunden später Sartorius’ kahles, verrauchtes Büro in der Reinhardtstraße verließ, war meine akademische Karriere zu Ende, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte. Ich hatte nämlich gerade einem der größten Spezialisten für bolschewistischen Terror und die komplexe Geschichte der Gulags erklärt, dass ich keine Lust hätte, mich weiter gegen die große Schwarz-Weiß-Erzählung von Leuten wie ihm aufzulehnen, und dass ich darum beschlossen hätte, die Magisterarbeit auf unbestimmte Zeit zu verschieben.

Im „Trois Minutes“ wendet er sich nun von dem Tisch ab, an dem Barsilay, Lola, Zanussi und Meinl sitzen. Aber im nächsten Augenblick dreht er sich noch einmal um.

„Mein Großvater, zum Beispiel, ja?“, sagte ich, und jetzt erst merkte ich, dass ich von dem viel zu teuren, viel zu trockenen Trois-Minutes-Rotwein, mit dem ich vorhin an der Bar auf mich selbst und meinen ersten Buchvertrag angestoßen hatte, schon ziemlich betrunken war, „›der arme, arme Julius‹, wie wir ihn immer genannt haben, ja, genau … Der hat sein Leben lang geweint! Und wissen Sie warum? Weil er kein richtiger Arier war und darum ausgerechnet in der Scheiß-Wehrmacht untertauchen musste. […] Wollen Sie ganz genau wissen, warum er immer nur geheult hat? Ja?! Wollen Sie das wissen?“

„Ich sag’ Ihnen, warum er ständig geweint hat“, sagte ich endlich.

Erck Dessauer weiß überhaupt nicht, warum sein Großvater Julius immer weinte, aber er erinnert sich an eine passende Stelle aus einem Buch und tut nun so, als erzähle er von seinem Großvater, bis Barsilay trocken sagt:

„Hermann Lenz, Neue Zeit, eigentlich ein ganz guter Roman.“

Da überkommt es Erck Dessauer:

Es war eine Mischung aus Hitlergruß und dem verrutschten Armwedeln eines Betrunkenen, aber vielleicht war es auch einfach nur mein ungeschickter Versuch, den französischen Quenelle nachzumachen, das weiß ich nicht mehr genau. Jedenfalls stand ich eines Nachts vor fünf Jahren im Trois Minutes in der Torstraße vor dem ewigen Unruhestifter und Menschenfeind Hans Ulrich Barsilay und machte das erste Mal seit meiner Kindheit wieder meine absurde Nazigymnastik. Gleichzeitig trat ich wütend gegen den Tisch […]. Dann senkte ich den Arm schnell wieder, wenn ich mich richtig erinnere, und starrte schweigend auf den Boden. […] kämpfte ich mit meiner Übelkeit und meiner Angst vor dem Skandal, der mir nach meinem Hitlergruß-Blackout drohte.

Nach dem falschen Gruß

Als Erck Dessauer am nächsten Morgen aufwacht, kann er es kaum glauben, dass der im „Trois Minutes“ den Hitler-Gruß zeigte.

Und wer würde mir glauben, dass ich unschuldig war, dass ich auf diese Weise nur ein Zeichen gegen Barsilays eigene Nazimethoden setzen wollte? Jetzt hatte er also etwas richtig Gemeines und Großes gegen mich kleinen deutschen Idioten in der Hand, dachte ich.

Er wundert sich darüber, dass Barsilay den falschen Gruß nicht kommentierte, befürchtet jedoch eine Anzeige mit all ihren Konsequenzen.

Und dann nimmt er sich das Auschwitz-Kapitel in Barsilays Buch „Meine Leute“ vor. Darin schildert der Autor, wie er angesichts der Gaskammern von einer „bewusstseinserweiternden“ Lähmung übermannt worden sei und er sich von Dr. Alik Germanowicz in Oświęcim habe behandeln lassen müssen. Durch Googeln findet Erck Dessauer heraus, dass es in dem Ort keinen Arzt dieses Namens gibt. Andere Angaben entsprechen ebenfalls nicht der Realität: Barsilay muss sich die Szene ausgedacht haben! Darüber schreibt Erck Dessauer nun einen Essay mit dem Titel „Der Barsilay-Dreh“, der von der „Zeit“ gedruckt wird.

Kurz darauf heißt es in einer Pressemitteilung der Verlegerin, dass sie die Lektoren gebeten habe, Barsilays bereits veröffentlichte Bücher auf Faktentreue zu prüfen und bis zum Ergebnis die Zusammenarbeit mit dem Autor ruhen lassen werde. Von Barsilay hört man nichts mehr. Gerüchten zufolge hat er sich ins Ausland abgesetzt.

Warum hat er mir nicht irgendwann am Teutoburger Platz aufgelauert und mich ein paarmal kräftig geohrfeigt? Warum hat er nicht wenigstens nach meiner cleveren Zeit-Attacke versucht, mir zu schaden, und allen davon erzählt, wie ich selbst, sein größter Kritiker, mitten in einem bekannten Berliner Prominenten-Restaurant wie ein abgedrehter Nazi-Exhibitionist öffentlich gegen die Gesetze des großen Holocaustkults verstoßen hatte?

Erck Dessauer schreibt das Buch über Naftali Aronowitsch Frenkel zu Ende. Als es im Herbst 2010 unter dem Titel „Eine sibirische Karriere“ erscheint, wird der Autor zu einem Empfang bzw. einer Lesung in die protzigen Villa der Verlegerin in Potsdam-Sacrow eingeladen, die früher einmal Martin Bormann gehört hatte.

„Im viel zu warmen Winter 2012“ verfasst Erck Dessauer „in [s]einer großen, modernen Eigentumswohnung in der Bernauer Straße“ den vorliegenden Text.

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In seiner in Berlin spielenden Novelle „Der falsche Gruß“ erzählt Maxim Biller von zwei eitlen Männern: dem erfolgreichen jüdischen Schriftsteller Hans Ulrich Barsilay und dem Nichtjuden Erck Dessauer, der im selben Verlag ein ehrgeiziges Buch veröffentlichen möchte. Weil Erck Dessauer eine Intrige des vermeintlichen Konkurrenten gegen sein Vorhaben befürchtet, schwärzt er ihn in einem Zeitungsartikel an, um ihm zuvorzukommen.

In „Der falsche Gruß“ schwingt viel mit. Beispielsweise denkt man beim Lesen an Marcel Reich-Ranicki, Günter Grass und Martin Walser. Es geht aber auch um todbringende Ideologien und den Versuch, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu relativieren.

„Der falsche Gruß“ ist eine böse Satire auf den Literaturbetrieb und das Verhältnis von Juden und Nichtjuden. Es geht um den Holocaust und den Völkermord unter Stalin. Maxim Biller erzählt auch von dem Palästinenser Arafat al-Zaidin, dessen Familie 1982 ermordet wurde, der 1988 als Student in Leipzig von Neonazis zusammengeschlagen wird und der dann bei einem israelischen Vergeltungsangriff ums Leben kommt.

Maxim Biller überlässt das Wort in „Der falsche Gruß“ dem Protagonisten Erck Dessauer und zeigt auf raffinierte Weise immer wieder, wie unzuverlässig die Wahrnehmung dieses voreingenommenen Ich-Erzählers mit seinem Minderwertigkeitskomplex ist. Mitunter weist Erck Dessauer sogar selbst darauf hin:

Er sah natürlich überhaupt nicht aus wie Trotzki, das habe ich vorhin nur so hingeschrieben.

Schon wegen der geschliffenen Sprache, der Tragikomik und Maxim Billers Sarkasmus ist die Lektüre von „Der falsche Gruß“ inspirierend und unterhaltsam.

Die Novelle „Der falsche Gruß“ von Maxim Biller gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Christian Brückner.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Maxim Biller: Die Tochter
Maxim Biller: Sechs Koffer
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