Hermann Ungar : Die Verstümmelten

Die Verstümmelten
Die Verstümmelten Originalausgabe Rowohlt Verlag, Berlin 1923 269 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 37-jährige Prager Bankbeamte Franz Polzer schreckt vor jeder Veränderung zurück und assoziiert den Scheitel seiner schwarzhaarigen Vermieterin Klara Porges mit einer Vulva, vor der er sich ebenso ekelt wie vor dem weiblichen Körper insgesamt. Seine homoerotischen Neigungen jagen ihm allerdings auch Angst ein.
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Kritik

Der Titel "Die Verstümmelten" bezieht sich nicht nur auf den beinamputierten einarmigen Karl Fanta, sondern auch auf die anderen Figuren, die allesamt seelisch verkrüppelt sind. Als der Roman "Die Verstümmelten" 1923 veröffentlicht wurde, galt er als skandalös. Inzwischen wirkt er wie aus der Zeit gefallen, aber die Lektüre lohnt sich, weil Hermann Ungar mit dem Albtraum fernab vom Mainstream bleibt.
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Franz Polzers Kindheit und Jugend

Franz Polzers Mutter starb bald nach seiner Geburt. Eine kinderlose verwitwete Tante führte den Haushalt und hielt den Neffen fest, wenn ihr Bruder ihn schlug, was häufig geschah. Im Alter von 14 Jahren beobachtete Franz, wie der Vater dem Dienstmädchen der Nachbarn an die üppige Brust griff, und er ertappte den Vater und die Tante beim Inzest.

Milka, das Dienstmädchen der Nachbarn, spürte Franz Polzers Angst vor ihrer Weiblichkeit. Einmal passte sie den Jungen im Treppenhaus ab, drückte ihn in eine Nische, in der ein christliches Kreuz hing, öffnete ihm die Hose und machte sich an seinem Penis zu schaffen, bis er ejakulierte.

Lieber als zu Hause hielt Franz Polzer sich bei seinem Freund Karl Fanta auf, einem Mitschüler am Gymnasium, obwohl der Umgang mit Juden für einen Katholiken als schwere Sünde galt. Karls reicher Vater ermöglichte es Franz, die Universität in Prag zu besuchen. Während Karl Fanta ein Jurastudium begann, schrieb sich Franz Polzer für Medizin ein.

Polzer hätte auch früher nicht mit Frauen verkehrt, wenn Karl, der dies nicht verstand, ihn nicht zu Frauen geführt und zum Verkehr mit ihnen gezwungen hätte. Polzer erbrach sich oft, wenn er das Haus verließ, in das ihn Karl geführt hatte.

Die Ärzte schickten seinen Freund schließlich für mindestens ein Jahr nach Italien, weil sich an Karls Körper Abszesse gebildet hatten.

Daraufhin brach auch Franz das Studium ab. Das war vor 17 Jahren. Seither arbeitet der inzwischen 37-Jährige in einer Bank und wohnt bei der Witwe Klara Porges, die bei seinem Einzug noch im Trauerjahr war.

Franz Polzer bei der Witwe Klara Porges

Klara Porges übernimmt jeweils zu Beginn des Monats sein Gehalt. Sie teilt ihm Geld fürs Frühstück und die Straßenbahn zu, besorgt ihm ansonsten alles Nötige und verwahrt die Ersparnisse. Franz Polzer versucht, ihr aus dem Weg zu gehen und blickt nicht von der Zeitung auf, wenn sie ihm das Abendessen bringt. Sie beschwert sich darüber, dass er sie wie einen Dienstboten behandele und bringt ihn dazu, notgedrungen Sonntagsausflüge mit ihr zu unternehmen.

Eines Nachts glaubt er Geräusche zu hören und greift nach seinem an der Wand hängenden Heiligenbild, um sich zu vergewissern, dass es noch da ist. Aber dabei löst es sich vom Haken, fällt herunter, und das Glas zerschellt. Erschrocken rennt Franz Polzer aus dem Zimmer und landet im Nachthemd vor dem seiner Zimmerwirtin. Die zieht ihn in ihr dunkles Zimmer und ins Bett.

Klara Porges holt ihren Mieter nach Dienstschluss von der Bank ab, meint, er sei wie ein Schuljunge und befiehlt ihm zu Hause, das Hemd auszuziehen, bevor sie ihn mit dem Gürtel seiner Hose verprügelt.

„Nun wirst du gehorchen“, sagte sie.
Sie stieg nackt zu ihm ins Bett. Der Knoten ihres Haares hatte sich gelöst. Das Haar fiel um die Schulter.
Sie legte den Leib für ihn zurecht. Polzer bewegte sich nicht. Ihr Körper glänzte feucht von Schweiß. Über ihren Augen lag der Scheitel. Die weiße Kopfhaut schimmerte. Die dicken Brüste waren zur Seite gefallen und lagen schlaff vor ihm.

Der 17-jährige Wodak, der ihm in der Bank gegenüber sitzt, entdeckt ihn und Klara Porges in einem Café. Es spricht sich herum, dass Franz Polzer ein Verhältnis mit einer Witwe habe, obwohl man ihm das nicht zugetraut hätte. Einige Herren möchten Klara Porges kennenlernen und überreden ihn deshalb zu einem Gruppenausflug mit ihr.

Dr. Heinrich Ehrmann gehört ebenso wie ein Student zu Klara Porges‘ Bekannten, die sich in dem Café, das sie regelmäßig mit Franz Polzer zusammen besucht, zu ihnen setzen. Dem reichen Arzt, der seinen Beruf nicht mehr ausübt, entgeht nicht, dass Franz Polzers Hose zerrissen ist, und er besteht deshalb darauf, ihn neu einzukleiden.

In der Bank nehmen die Kollegen aufgrund des neuen Anzugs an, Franz Polzer habe ein Vermögen geerbt. Der Direktor behandelt ihn nun mit Respekt und versetzt ihn in eine andere Abteilung. Obwohl das einer Beförderung gleichkommt, ist es für Franz Polzer unerfreulich, denn er fürchtet um die in 17 Jahren geschaffene Ordnung in seinen Akten. Am Ende erweist sich die Neueinkleidung wirklich als verhängnisvoll, denn als die Herren in der Bank herausfinden, dass Franz Polzer den Anzug geschenkt bekam, beschimpfen sie ihn als Hochstapler. Er wagt sich daraufhin nicht mehr in die Bank und verliert seine Anstellung.

Karl Fanta

Sein Jugendfreund Karl Fanta ist inzwischen verheiratet. Er und seine Frau Dora haben einen 16-jährigen Sohn: Franz. Der damals von den Ärzten verordnete Italien-Aufenthalt verhinderte nicht, dass sich an Karl Fantas Körper ein Abszess nach dem anderen bildete. Beide Beine sind amputiert. Er weiß, dass sich Dora vor ihm ekelt, nicht nur wegen des Anblicks, sondern vor allem auch, weil die Eiterbeulen stinken.

Franz Polzer besucht Karl Fanta regelmäßig und erfährt, dass Dora sich vor dem Krüppel ausziehen und nach vorn beugen muss, damit er ihre Brüste berühren kann.

„Weil sie sich von mir angreifen lassen muss, der ich kein Mann mehr bin, schämt sie sich, ihre Brüste wie Sachen angreifen lassen von einer Sache! Ich bin eine Sache, Polzer, eine Sache. Nun tu ich’s fast jeden Tag, Polzer, jeden Tag! […] Nächstens, wenn du kommst, Polzer, rufe ich sie. Ich will dich zusehen lassen, Polzer.“

Damit Dora durch seine Hilflosigkeit an ihn gebunden bleibt, lehnt Karl Fanta einen Pfleger ab, aber zugleich will er zu Franz Polzer und zu dessen Vermieterin ziehen.

„Lass mich die Witwe sehen. Ich sehe dicke Weiber gern. Früher liebte ich wohl magere. Nun nicht mehr, Polzer. Dora ist mager wie ein Kind, Polzer. Brüstchen, kaum eine Handvoll!“

Schließlich findet er sich doch mit einem Pfleger ab. Der Mann, ein früherer Metzger, heißt Sonntag und berichtet, dass er in der Jugend gewalttätig gewesen sei. Nach einer Schlägerei lag er im Krankenhaus und wurde von einer Nonne gepflegt, obwohl er sie bei jeder Gelegenheit beleidigte – bis sie eines Nachts ermordet wurde. Das Verbrechen blieb unaufgeklärt. Sonntag sagt, für ihn sei das ein christliches Erweckungserlebnis gewesen und er habe danach keine Tiere mehr schlachten, also seinen Beruf nicht länger ausüben können. Das Schlachtermesser hat er allerdings nach wie vor bei sich.

Dora lässt sich von Sonntag überreden, sich einem Konventikel anzuschließen, in dem er fromme Vorträge hält und dafür sorgt, dass Dora wegen ihres Hochmuts und ihrer Vornehmheit von allen anderen gedemütigt wird.

Schließlich muss Karl Fanta auch der linke Arm abgenommen werden. Als Dora hört, dass der Arm im Hof des Sanatoriums begraben wird, verliert sie das Bewusstsein. Sonntag legt sie aufs Bett, öffnet ihre Bluse und befingert mit seinen groben Händen ihre linke Brust. Später beklagt sich Dora bei Franz Polzer darüber, dass er diesen Übergriff des Pflegers zugelassen habe.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Der Scheitel

Vom Sanatorium kehrt Karl Fanta nicht mehr nach Hause zurück, sondern mietet von der Witwe Klara Porges ein Zimmer, das er sich zunächst mit dem Pfleger teilt. Nach kurzer Zeit erklärt er Franz Polzer, dass er sich vor Sonntag fürchte und es nicht länger ertrage, mit ihm in einem Zimmer zu schlafen. Er überredet seinen Freund, dem Pfleger sein Zimmer zu überlassen und ins Schlafzimmer der Witwe zu wechseln.

Die erklärt Franz Polzer, dass sie von ihm schwanger sei und ihn heiraten werde.

Es stellt sich heraus, dass auch Karl Fanta den nackten Körper der Witwe kennt. Sonntag rät Franz Polzer eines Tages, früher als gewöhnlich von einem seiner üblichen Spaziergänge zurückzukommen. Dann überrascht er mit ihm Klara Porges und Franz Fanta in flagranti.

Der Junge klärt Franz Polzer darüber auf, dass die Witwe ihn ebenso wie seine Mutter und andere um Geld erpresse, und zwar mit der Drohung, Karl Fanta von Doras Seitensprung mit einem Tenor zu berichten. Franz Fanta weiß, dass seine Mutter inzwischen mit einer gefälschten Vollmacht Unsummen vom Konto seines Vaters abhebt, um die Geldgier der Witwe befriedigen zu können.

Franz Polzer findet den Anblick des Scheitels der Frau kaum erträglich: ein heller Spalt im schwarzen Haar. Während sie schläft, will er den Scheitel zerstören und öffnet vorsichtig ihren Haarknoten. Geld fällt heraus.

Am Morgen schleicht er aus dem Zimmer und geht zwei Stunden lang durch Prag. Als er zurückkommt, findet er im Treppenhaus ein aus einem Kopftuch der Witwe geknüpftes Bündel vor. Es ist blutig. Ohne es zu öffnen, nimmt er es mit zu Karl Fanta. Schließlich kommt auch Sonntag aus der Kirche nach Hause.

„Was haben Sie in der Hand?“, fragte der Pfleger.
„Ach ja“, sagte Polzer. Er hielt es noch immer auf den Knien. „Sie hat etwas darein eingeschlagen und es verloren. Ich fand es auf der Treppe.“
„Darf man sehen, was es ist?“, fragte der Pfleger.
Er zog an der Masche, zu der die Zipfel des Tuches geschlungen waren. Er hob das Tuch und Klara Porges‘ Kopf rollte von Polzers Schoß auf den Boden.
Der Haarknoten war gelöst. Aber der Scheitel war nicht zerstört.

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„Die Verstümmelten“: der Titel des Romans von Hermann Ungar (1893 – 1929) bezieht sich nicht nur auf den beinamputierten einarmigen Karl Fanta, sondern auch auf die anderen Figuren, die allesamt seelisch verkrüppelt sind. Hermann Ungar zeigt den Menschen als Opfer pathologischer Ängste und sexueller Obsessionen. Im Mittelpunkt dieses Albtraums steht der 37-jährige Franz Polzer, der vor jeder Veränderung zurückschreckt und den Scheitel der schwarzhaarigen Witwe Klara Porges mit einer Vulva assoziiert, vor der er sich ebenso ekelt wie vor dem weiblichen Körper insgesamt. Seine homoerotischen Neigungen jagen ihm allerdings auch Angst ein.

Oh, alles war hässlich und eine Qual, aber es durfte nicht anders sein.

Die einmal gestörte Ordnung musste immer neue Gesetzlosigkeit nach sich ziehen. Die Lücke war da, durch die das Unvorhergesehene einbrach und Furcht verbreitete.

Als der Roman „Die Verstümmelten“ 1923 veröffentlicht wurde, galt er als skandalös. Inzwischen wirkt er wie aus der Zeit gefallen, aber die Lektüre lohnt sich, weil Hermann Ungar mit der bizarren Horrorgeschichte fernab vom Mainstream bleibt.

Kritisch anmerken ließe sich, dass Hermann Ungar einige Handlungsstränge und Romanfiguren wie zum Beispiel Dr. Heinrich Ehrmann einfach fallen lässt.

Zunächst beabsichtigte Hermann Ungar, „Die Verstümmelten“ in der Ich-Form zu verfassen. Dann entschied er sich für die übliche dritte Person Singular, blieb jedoch bei der Perspektive der Hauptfigur Franz Polzer. Auch beim Schluss des trostlosen Romans änderte Hermann Ungar das ursprüngliche Konzept, und nun endet „Die Verstümmelten“ nicht mit der Identifizierung des Mörders, sondern mit einer unbestimmten Auflösung.

Hermann Ungar wurde 1893 im Judenghetto der mährischen Kleinstadt Boskovice geboren, wo sein Vater eine Branntweinfabrik und eine Gastwirtschaft besaß. 1918 promovierte er in Jurisprudenz, und von 1922 bis 1928 war er Handelsattaché bzw. Legationssekretär an der tschechoslowakischen Gesandtschaft in Berlin. Dann quittierte er den diplomatischen Dienst und ließ sich als freier Schriftsteller nieder, aber er lebte nicht mehr lang: Am 28. Oktober 1929 starb er an einem Blinddarmdurchbruch, den die Ärzte übersehen hatten, vielleicht, weil sie wegen seiner Hypochondrie unvorsichtig geworden waren.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.