J. J. Voskuil : Die Mutter von Nicolien

Die Mutter von Nicolien
De moeder van Nicolien Uitgeverij G. A. van Oorschot, Amsterdam 1999 Die Mutter von Nicolien Übersetzung: Gerd Busse Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021 ISBN 978-3-8031-3332-8, 256 Seiten ISBN 978-3-8031-4307-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nicoliens verwitwete Mutter wird zunehmend dement. Tochter und Schwiegersohn bemerken den Verfall zunächst kaum. Dann sind die vereinzelten Ausfälle irritierend, lästig, manchmal auch amüsant. Nicolien und Maarten fühlen sich hilflos. Schließlich erkennt die alte Dame sie nicht mehr ...
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Kritik

"Die Mutter von Nicolien" ist ein trauriger, berührender Roman mit tragikomischen Zügen. J. J. Voskuil verzichtet auf jede Effekthascherei. Form und Sprache sind betont schlicht. Der Autor fokussiert auf die Beziehung des Ehepaars Koning zu Nicoliens Mutter und blendet alles andere aus.
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1957

Das Ehepaar Nicolien und Maarten Koning bewohnt ein Zwei-Zimmer-Apartment in Amsterdam. Die beiden besitzen kein Auto, und wenn sie zu Nicoliens verwitweter Mutter in Den Haag wollen, fahren sie mit dem Zug.

Wir beobachten sie vom 1. Juli 1957 an, wenn sie Nicoliens Mutter besuchen, von ihr besucht werden oder mit ihr telefonieren. Beide sagen „Sie“ zu ihr, und Nicolien wird von Frau Haspers Niekewiek genannt.

1973

Am 1. Januar 1973 fragt Nicoliens Mutter ihren 46-jährigen Schwiegersohn nach dem Wochentag.

„Montag“, antwortete er. […]
„Musst du dann nicht zur Arbeit?“
Es war schon das dritte Mal, dass sie das fragte. „Nein“, sagte er geduldig, „denn es ist Neujahr.“
„Ach ja.“
Es war einen Moment still.
„Also war gestern Silvester?“
„Ja.“
„Habe ich euch dann schon ein frohes neues Jahr gewünscht?“
„Ja, das haben Sie.“
„Oh, zum Glück.“

Am 10. Mai 1973 ruft Nicoliens Mutter an und fragt Maarten: „Ist Niekewiek nicht da?“ Die liege im Krankenhaus und sei operiert worden, sagt er und erklärt seiner Schwiegermutter, wie sie mit dem Bus dorthin kommt. An der Haltestelle holt er sie ab.

Seine Schwiegermutter verließ als Letzte den Bus. […]
„Tag, Mutter“, sagte er. Er gab ihr einen Kuss.
„Hey, du bist hier?“, sagte sie überrascht. „Wo ist Niekewiek?“
„Zu der gehen wir jetzt.“
„Ach ja.“
„Geben Sie mir ruhig Ihren Arm.“
„Ja, gern.“ Sie hakte sich bei ihm unter.
Sie folgten dem Bürgersteig in Richtung des Krankenhauses.
„Wo ist Niekewiek jetzt?“, fragte sie.
„Im Krankenhaus.“

1974

Im Februar 1974 wird Nicoliens Mutter am Auge operiert und liegt mit fünf anderen Patientinnen in einem Zimmer, als ihre Tochter und ihr Schwiegersohn sie besuchen.

„Ich weiß eigentlich nicht, was ich hier mache“, sagte ihre Mutter.
„Sie liegen im Krankenhaus.“
Ihre Mutter schüttelte den Kopf.
„Sie sind operiert worden!“
Sie musste lachen. „Red doch keinen Unsinn.“

Am 18. März 1974 ruft Nicoliens Mutter an und klagt, dass sie ihre Augentropfen nicht finden könne. Die Stimme klingt nach Panik. Kurz darauf ist sie erneut am Telefon:

„Oh, Tag Maarten. Mutter hier!“
„Tag, Mutter.“
„Hör mal, ich habe das Fläschchen gefunden!“
„Schön! Sehen Sie!“
„Aber jetzt bin ich mir nicht sicher, ob es auch das richtige Fläschchen ist.“

Maarten fragt, was auf dem Etikett stehe, aber das kann seine Schwiegermutter nicht lesen, weil sie ihre Brille verlegt hat. Maarten fragt nach der Farbe des Etiketts.

„Gold mit Grün.“
„Dann ist es Eau de Cologne! Das dürfen Sie auf keinen Fall nehmen!“
„Ach ja? Ist das Eau de Cologne?“
„Ja, das ist Eau de Cologne! Wenn Sie das in Ihre Augen träufeln, tut es sehr weh!“

Am 21. April 1974 klagt Nicoliens Mutter am Telefon, sie sei krank. Sofort fahren Nicolien und Maarten zu ihr.

„Wenn Sie uns jetzt bloß hört …“, sagte [Nicolien] oben an der Haustür. „Sie ist wieder so taub in letzter Zeit.“

Nicoliens Mutter öffnet sofort.

„Ich dachte, Sie würden im Bett liegen“, sagte Nicolien. Sie gab ihr einen Kuss.
„Im Bett? Ach was, Kind. Ich liege doch tagsüber nicht im Bett.“
Er gab ihr seinerseits einen Kuss.
„Aber Sie waren doch krank?“
„Krank? Davon weiß ich nichts.“

Maarten schaut die Post seiner Schwiegermutter durch und stellt fest, dass sie seit der Augenoperation keine Rechnungen mehr bezahlt hat. Das übernimmt nun er.

Bei einem Besuch am 9. Juni 1974 bringt Nicoliens Mutter ein Geschenk für ihren Schwiegersohn mit. Während er das Päckchen auswickelt, sagt sie:

„Du weißt bestimmt schon, was es ist. […] Ich dachte mir, das würde dir bestimmt schmecken.“
Während sie sich setzten, öffnete er das Päckchen. „Ein Stück Seife“, sagte er überrascht.
„Ein Stück Seife?“, sagte seine Schwiegermutter verwundert. „Ach, ich dachte, dass es Käse wäre.“
Er lachte. „Nein, es ist wirklich und wahrhaftig Seife.“ Er roch daran. „Kein Zweifel möglich.“
Sie musste selbst auch darüber lachen. „Das ist schon was, wenn man so eine verrückte Mutter hat“, sagte sie. „Damit wirst du schön zu schaffen haben.“

1977

Während eines Besuchs bei Nicoliens Mutter am 27. März 1977 klingelt das Telefon. Es ist Frau Baas, eine von Frau Haspers‘ Bekannten, die vorbeikommen möchte.

„Ja“, rief ihre Mutter laut und mit einer etwas höheren, tonlosen Stimme in die Sprechmuschel. „O nein, das geht nicht, denn ich bin bei den Kindern.“
„Nein, Sie sind hier!“, rief Nicolien.
„Oh, warte mal. Meine Tochter sagt, dass ich hier bin. […]“

Am 12. August 1977 ist Nicolien mit ihrer Mutter unterwegs. Beim Einsteigen in die Straßenbahn merkt Nicolien, dass ihr ein Taschendieb das Portemonnaie herauszieht. Sie kann es ihm zwar entreißen, aber es öffnet sich, und die Münzen fallen heraus. Während sie sich bückt, schließen sich die Türen, und die Tram fährt mit ihrer Mutter los.

Vergeblich sucht Maarten die Straßen nach seiner Schwiegermutter ab. Als er zurückkommt, hört er Stimmen in der Wohnung: Die verirrte ältere Dame ist einem Herrn aufgefallen, und zum Glück konnte sie ihm ihre Adresse nennen. Herr Langeraad hat sie hergebracht.

1978

Während Nicoliens Mutter zu Besuch ist, verlässt sie am frühen Morgen des 29. Mai 1978 unbemerkt die Wohnung. Vom Fenster aus sieht Nicolien sie im Pyjama auf der Straße stehen.

Am 20. Juli 1978 ruft Nicolien ihren Mann an:

„Ich bin im Krankenhaus. Sie sind gerade dabei, Mutter zu untersuchen.“
„Was ist denn mit Mutter?“
„Sie hat auf der Straße gelegen.“
„Auf der Straße?“
„Als ich kam, war sie nicht da, und als ich sie gesucht habe, lag sie auf der Straße, mit lauter Leuten um sie herum. Sie hatten den Krankenwagen schon angerufen, aber ich glaube nicht, dass sie was hat.“

Nach dem Vorfall findet der Hausarzt es unverantwortlich, die Greisin länger allein in ihrer Wohnung zu lassen. Nicolien setzt sich daraufhin mit dem Sozialamt in Verbindung, und am 14. August 1978 bringen sie und Maarten ihre Mutter ins Pflegeheim Sammersbrug in Den Haag.

Zum Jahreswechsel 1978/79 holen Nicolien und Maarten die 85-Jährige zu sich nach Hause.

„Ihre Mutter sah auf. „Ich danke Ihnen“, sagte sie höflich, mit einer hohen, etwas schrillen Stimme, „aber ich würde jetzt doch gern wieder zu meinen Kindern.“
„Aber Sie sind doch bei Ihren Kindern?“
Ihre Mutter sah sie verstört an. „Bin ich bei meinen Kindern?“
„Wir sind doch Ihre Kinder!“
„Seid ihr meine Kinder?“, fragte sie ungläubig.“

1980

Erst Ende Februar 1980 lösten Nicolien und Maarten die leer stehende Wohnung auf.

Am 9. März 1980 feiern sie mit Nicoliens Mutter deren 87. Geburtstag, aber den Grund versteht die alte Dame nicht mehr.

Bei einem Besuch ihrer Mutter am 27. Dezember 1980 zeigt Nicolien auf Maarten und fragt, ob sie wisse, wer das sei.

„Ja, ein Herr.“
„Nein, sehen Sie mal richtig hin.“
Sie drehte den Kopf ein wenig in seine Richtung, denn er saß auf der Seite des zugekniffenen Auges. „O ja, jetzt sehe ich es.“
„Wer ist es denn?“
„Eine Frau.“ Sie sah Nicolien hilflos an. „Ich würde so gern mein Kind noch einmal sehen.“
„Aber ich bin doch Ihr Kind?“
„Bist du mein Kind?“ Sie strich Nicolien über den Arm. Tränen stiegen ihr in die Augen. „Wie kann es bloß sein, dass ich das nicht mehr weiß?“, sagte sie traurig.“

1985

Am 11. April 1985 stirbt Nicoliens Mutter im Pflegeheim. Vier Tage später findet die Beerdigung statt.

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In seinem Roman „Die Mutter von Nicolien“ veranschaulicht J. J. Voskuil, wie eine Frau zunehmend dement wird. Die Tochter und der Schwiegersohn bemerken den Verfall zunächst kaum. Dann sind die vereinzelten Ausfälle irritierend, lästig, manchmal auch amüsant. Nicolien und Maarten fühlen sich hilflos. Als kein echtes Gespräch mehr möglich ist und Nicoliens Mutter nicht mehr allein zurechtkommt, bringen Tochter und Schwiegersohn sie in einem Pflegeheim unter. Schließlich erkennt die alte Dame sie nicht mehr, und 1985 stirbt sie im Alter von 92 Jahren.

„Die Mutter von Nicolien“ beginnt am 1. Juli 1957 und endet mit der Beerdigung am 15. April 1985. J. J. Voskuil fokussiert auf die Beziehung des Ehepaars Koning zu Nicoliens Mutter und blendet alles andere aus. Nicoliens und Maartens Lebensumstände – soweit sie nicht Nicoliens Mutter betreffen – werden allenfalls angedeutet.

Chronologisch erzählt J. J. Voskuil in mehr als 60 nur drei, vier Seiten langen, jeweils mit einem Datum überschriebenen Kapiteln von der zunehmenden Altersdemenz der Frau. Übergänge zwischen den Kapiteln gibt es nicht. Die Szenen setzen ohne Beschreibung des Settings ein, zumeist mit Dialogen in wörtlicher Rede.

„Die Mutter von Nicolien“ ist ein trauriger, berührender Roman mit tragikomischen Zügen. J. J. Voskuil verzichtet auf jede Effekthascherei. Form und Sprache sind betont schlicht.

Johannes Jacobus Voskuil (1926 – 2008) war ein Volkskundler am Meertens Instituut in Amsterdam und ein niederländischer Schriftsteller. Das Manuskript des Romans „Die Mutter von Nicolien“ stellte er im Juni 1998 fertig. Das Buch erschien 1999 im Verlag van Oorschot unter dem Titel „De moeder van Nicolien“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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