Helen Weinzweig : Von Hand zu Hand

Von Hand zu Hand
Passing Ceremony House of Anansi Press, Toronto 1993 Von Hand zu Hand Übersetzung: Hans-Christian Oeser Nachwort: James Polk Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020 ISBN 978-3-8031-3328-1, 160 Seiten ISBN 978-3-8031-4286-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die aleatorischen Vignetten ergeben das Bild einer absurden Hochzeit in Toronto. Die wegen ihrer Promiskuität verrufene Braut und der schwule Bräutigam haben nicht vor, die Ehe zu vollziehen, erhoffen sich jedoch eine Befreiung von der üblen Nachrede. Die Gäste sind allesamt unglücklich und frustriert, einige von ihnen auch pervers.
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Kritik

Man kann den Roman "Von Hand zu Hand" als tragikomische Gesellschaftssatire lesen. Helen Weinzweig führt uns nicht durch eine Geschichte, sondern wirft uns scheinbar ungeordnet groteske Fragmente hin. Sie hat den poetischen Roman wie ein polyphones, polyrhythmisches Musikstück komponiert.
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In einer Kapelle in Rosedale, einem gehobenen Stadtviertel in Toronto, findet eine Hochzeit statt. Die Braut mit den kurz geschnittenen Haaren ist wegen ihrer Promiskuität verrucht. Einige ihrer Liebhaber befinden sich unter den Gästen, zum Beispiel Gunnar Erikson, dessen aktuelle Geliebte zur Braut sagt, sie könne ihn zurückhaben. Auch Gerard Broussin ist da.

– Ah, Gerard, du bist zu meiner Hochzeit gekommen! Ich hatte nicht damit gerechnet … […]
– […] Es hat mich fast um den Verstand gebracht … dich verloren zu haben … Ich konnte den Gedanken nicht ertragen … Schließlich habe ich getan, was du immer von mir verlangt hast … Ich habe meiner Familie, meinem Zuhause, meiner Stelle Adieu gesagt. Ich bin gekommen, um dich mitzunehmen.
– Mein Liebling, es ist zu spät; während ich darauf wartete, dass du dich endlich entscheidest, habe ich mich umentschieden.
– Ich habe mich entschieden. Ich werde auf dich warten. Wir brauchen die Party nicht zu unterbrechen. Wenn du mit deiner Maskerade fertig bist, werden wir zusammen aufbrechen.
– Ich kann nicht. Ich bin verheiratet.
[…]
Der Bräutigam sagt:
– Schade, dass Sie den ganzen Weg umsonst gekommen sind. Vielleicht werden Sie uns mal besuchen, wenn wir uns eingerichtet haben.
Gerard ignoriert ihn […]
Gerard spuckt der Braut ins Gesicht.
[…]
Der Bräutigam holt ein Tuch aus seiner Tasche und wischt ihr den Speichel von der Wange.
– Es war ein Versehen, sagt er.

Der schwule Bräutigam wurde von seinem Freund Leon verlassen. In seiner Brusttasche steckt eine Ansichtskarte aus Málaga mit einem Foto, auf dem Leon am Strand liegt und die olivfarbene Haut eines schlanken Jungen streichelt. Der Bräutigam denkt an seine Schwester Maggie, die sich das Leben genommen hat.

Lass dir sagen Maggie was du erreicht hast indem du dich umgebracht hast … nichts … umgebracht hast du dich für nichts und wieder nichts … hast du ihn so sehr geliebt oder ihn so sehr gehasst was außer deinem hoffnungslosen Elend hattest du im Sinn … dass Larry unter Gewissensbissen leiden würde oder was? … dein Tod bereitete ihm Kopfschmerzen auf der Beerdigung holte er sich eine Erkältung bekam Fieber … Aileen pflegte ihn sie kam mit ihrem kleinen Jungen und blieb … Larry der keine Kinder wollte ein verarmter Maler ohne Verpflichtungen ist inzwischen Familienvater der die Verehrung des Jungen entgegennimmt und in seinen Kaffee rührt …

Die schluchzende, sich selbst bemitleidende Mutter der Braut sitzt neben ihrem Sohn Thomas in der zweiten Kirchenbank. Der 53-jährige Vater der Braut hat anderswo Platz genommen. Obwohl er in Kanada offenbar mit seiner Verhaftung rechnen muss, ist er mit seiner mexikanischen Frau und ihrem Säugling aus Tepoztlán angereist. Die Braut entdeckt ihn in der Kirche und geht zu ihm:

Mit einer Stimme, kaum lauter als ein Flüstern:
– Vater …
– Ah, mein liebes Kind, wie schön, dich wiederzusehen.
[…]
– Ist das deine neue Frau? Wie alt ist sie?
– Ihr Name ist Raquel. Etwa achtzehn, schätze ich.
– Sie ist zehn Jahre jünger als ich. Und sie hat bereits ein Baby.
– Du darfst dich nicht mit ihr vergleichen. In Mexiko reifen die Frauen früh. Ihre Blütezeit ist kurz, ach so kurz, meine Liebe. Du hast ein langes Leben vor dir.
– Sie ist nicht viel älter als ich in meiner kurzen Blütezeit. Du hast mich fortgeschickt. Du hast mir mein Kind wegnehmen lassen. Und doch hast du ein Mädchen geheiratet, das jünger ist als deine Jüngste.
– Du darfst dir deinen Hochzeitstag nicht mit Bitterkeit verderben.
– Ich wünschte, du wärst nicht gekommen, um mich an alles zu erinnern.
– Du hast mich eingeladen.
– Es war eine Mitteilung, keine Einladung – um dir Bescheid zu geben, dass ich einen Mann gefunden habe, der bereit ist, mich zu heiraten. Wir haben nicht mit dir gerechnet. Aber der Versuchung, anzugeben, hast du ja noch nie widerstehen können: Schaut mich an, schaut meine schöne junge Frau an, schaut mein schönes kleines Baby an.

Getraut wird das Paar von Spencer Reilly, der vorgibt, ein Geistlicher zu sein. Nach der Zeremonie spricht er mit einem Bekannten von einem Geheimdienst.

– […] Ich war gut, nicht wahr?
– Du bist aufgetreten, als wärst du der Kirche geweiht. Niemand würde glauben, dass du kein Mann Gottes bist. Dein Vortrag, die Zitate, deine Ermahnungen an das Paar, einfach großartig.
– Ich habe die Aufgabe sehr genossen. Die Atmosphäre der Ehrerbietung. Wie sie an meinen Lippen hingen. […] Du darfst niemandem davon erzählen; meine Verkleidung muss geheim bleiben.

Das Brautpaar schreitet wie bei einem Spießrutenlauf durch den Mittelgang zum Portal und nimmt dann die Glückwünsche der Hochzeitsgäste entgegen.

In der Schlange der Gratulanten warten die Gäste darauf, dass sie an der Reihe sind, das Paar anzulächeln. Beim Anblick des wachsbleichen Gesichts der Braut bringen sie ihre vorbereiteten Worte nicht über die Lippen. Es ist davon auszugehen, dass ihr Lächeln ein freudiges ist, schließlich ist es ihre Hochzeitsnacht. Sie ist nicht mehr die Jüngste, obwohl das geschorene Haar ihr ein kindliches, fast unschuldiges Aussehen verleiht. Tatsächlich ist es ein erschreckender Anblick: Unter einem Nimbus aus Orangenblüten blüht das junge alte Gesicht, das zum ersten Mal ohne Schminke, nackt zu betrachten ist, nichts Künstliches, weder um die Augen noch auf den Wangen, der Mund blutleer. Das geisterhafte Gesicht mit dem geheimnisvollen Lächeln löst einen leichten Schock aus, und dem Hochzeitsgast gelingt es kaum, einen Glückwunsch hervorzustammeln und rasch weiterzugehen.

Die Hochzeitsfeier findet in einer Steinvilla statt, in einem von einer Frau namens Edie betriebenen Hotel. Am Büfett gibt es vier ganze Lachse auf Silberplatten.

Auch der Bürgermeister Howard Perkins mischt sich unter die Hochzeitsgäste.

Raquel setzt sich auf den Boden und stillt ihr Kind. Mrs Endicott meint, das gehöre sich nicht. Als der Vater der Braut und des Babys widerspricht, fordert sie ihn auf, der Mexikanerin „zivilisiertes Benehmen“ beizubringen. Raquel, die kein Englisch versteht, lächelt ihr Baby an und wundert sich:

Weshalb gibt es bei dieser Hochzeit keine Musik, keine Lieder, kein Gelächter? Niemand scheint glücklich zu sein.

Die Hochzeitsgäste tuscheln über den anwesenden Arzt Dr. Peter Fountain, dessen schwerkranke Frau Doris in zwölf Tagen sterben will.

Was wird er mit ihren Kleidern machen? Schränke voller Kleider und Mäntel und Schuhe, Schubladen und Schachteln mit Klamotten aller Art. Je mehr sie abgenommen hat, desto mehr hat sie gekauft.

Als eine Frau namens Judith ins Obergeschoss der Villa hinaufgeht, trifft sie dort auf Anthony („Tony“) Hoffmans Großmutter. Es stinkt nach Blähungen und Erbrochenem.

„Warten Sie. Wie heißen Sie?“
„Judith.“
„Judith. Ein passender Name. Das Schicksal hat Sie hierhergeführt, um mich zu rächen. Kommen Sie bald wieder. Und bringen Sie die Polizei mit. Man wird sie verhaften, und ich werde mein Haus zurückbekommen. Es ist mein Haus. Das ganze Haus. Ich bin reich, ich werde Sie belohnen. […]“
„Ich werde tun, was ich kann.“
„Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten mir nach dem Mund reden. Ich durchschaue Sie. Sie sind Psychiaterin, Sie wurden geschickt, um mich für verrückt zu erklären. Dann bekommt sie mein Geld und alles andere auch. Man hat Ihnen einen Schlüssel gegeben, so sind Sie hereingekommen.“
„Die Tür stand offen, ich habe das Badezimmer gesucht.“
„Sie lügen. Die Tür ist immer verschlossen. Sie hat Angst, dass ich entwische und zur Polizei gehe, sie sperrt mich ein. […]“

Das Brautpaar tut schließlich so, als bräche es in die Flitterwochen auf und steigt ins Auto. Weil es so kalt ist, schlägt der Bräutigam vor, ein Motelzimmer zu nehmen, aber das möchte die Braut nicht:

– Nein. Die kennen mich alle.
– Aber diesmal ist es anders – du bist verheiratet.
– Sie werden es nicht glauben. Sie werden mich immer noch wie Dreck behandeln.

Die beiden warten, bis die Hochzeitsgäste fort sind.

Sie dürfen nicht wissen, dass wir die Stadt nicht verlassen haben.

Erst nach Mitternacht kehrt das Paar zurück. Edie hat die von der Braut gemietete Hochzeitssuite, das „Versailles-Zimmer“, jedoch inzwischen Judith und einem Freier überlassen.

Weil Sie nicht erschienen sind, war ich gezwungen, es an jemand anderen zu vermieten.

Statt in der Hochzeitssuite übernachtet das Paar in einer kalten Dachkammer. Sie werde sich nie wieder von einem Mann berühren lassen, schwört die Braut.

– […] Ich werde fortgehen, verschwinden, mich irgendwo einsperren und mit dem Baby zurückkommen. Das wird dir helfen, nicht wahr? Das wird sie durcheinanderbringen – sie werden denken, du seist Vater geworden. Die Wahrheit braucht niemand zu erfahren.
– Ich werde es Leon sagen müssen.
– Wenn es sein muss. Und ich werde meine Babys wiederbekommen. Arme kleine Bastarde, die sich aus blutigen Schößen hervordrängen, die ihre Lungen füllen und ihr Schicksal nicht kennen.
– Wir werden sie damit aussöhnen, dass sie geboren wurden.

Zwei Jahre später wird sich Raquel auf dem Feldbett im Schuppen des Gärtners ihres Mannes in Tepoztlán an die Schrecken der Hochzeit in Toronto erinnern. An diesem Tag wird sie erneut schwanger werden.

Schließlich wird ihr Mann es für notwendig erachten, Alfredo zu entlassen, da der Gärtner die Anweisung, sich vom Haus des Casero, von seinem Wohnzimmer, seiner Küche fernzuhalten, wiederholt missachtet hat und sich weigert, in seinem Quartier zu bleiben, wenn er nicht im Garten arbeitet.

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Man kann den Roman „Von Hand zu Hand“ als tragikomische Gesellschaftssatire lesen. Helen Weinzweig führt uns nicht durch eine Geschichte, sondern wirft uns scheinbar ungeordnet groteske Fragmente hin. Vieles deutet sie nur an oder lässt es ganz aus. Die zwischen ein paar Zeilen und einigen Seiten langen aleatorischen Vignetten ergeben das Bild einer absurden Hochzeit in Toronto.

Die wegen ihrer Promiskuität verrufene Braut und der schwule Bräutigam haben nicht vor, die Ehe zu vollziehen, erhoffen sich jedoch eine Befreiung von der üblen Nachrede.

Den poetischen Roman „Von Hand zu Hand“ hat Helen Weinzweig wie ein polyphones, polyrhythmisches Musikstück komponiert, in dem die Hochzeitsgäste einen vielstimmigen Chor bilden. Die 18-jährige Mexikanerin Raquel lächelt zufrieden, wenn sie ihr Kind stillt, wundert sich jedoch über die anderen Hochzeitsgäste, die allesamt unglücklich und frustriert wirken. Es fehlt ihnen an Liebe, und einige sind pervers wie Anthony („Tony“) Hoffman, den es sexuell erregt, wenn er sich vorstellt, verhaftet zu werden und eingesperrt zu sein, oder ein anderer Gast, dessen Namen wir nicht erfahren:

Eine Person ist da, die sich aus Liebe umbringen will. Aus Liebe zu mir. Sie sehnt sich danach, versklavt zu werden. Den Gefallen werde ich ihr tun. Ich werde ihr Herr sein. […]
Eine Person ist da, die damit drohen wird, dass sie sich die Pulsadern aufschneidet, sämtliche Tabletten schluckt oder sich auf die U-Bahn-Gleise wirft. Mit Küssen werde ich sie davon abbringen. […] Wenn sie mir erst einmal vertraut, braucht es viel Geschick, um sie an den Rand der Verzweiflung zu treiben, ohne irgendein Versprechen zu brechen. Von entscheidender Bedeutung ist die Wahl des Zeitpunkts: Ich muss da sein, um sie bei jenem letzten, jenem exquisiten Moment zwischen Leben und Tod aufzuhalten. Ich werde sie retten. Der Gedanke erregt mich. Ich spüre eine Leidenschaft, wie ich sie noch nie erlebt habe. Mit Sex werde ich sie jedes Mal wieder ins Leben zurückbringen. Lebendig, aber in einem Schockzustand, blass, schwach, gleichgültig gegen alles, was ich mit ihr anstelle. […]
Von da an werde ich sie an den Rand des Abgrunds treiben. Wieder und wieder. Geben, vorenthalten. Verkünden, bestreiten. Schmeicheln, drohen. Ignorieren, bestrafen.

James Polk berichtet im Nachwort, wie er 1971 das Manuskript von Helen Weinzweig erhielt. Sie empfahl ihm, den Papierstapel in die Luft zu werfen und die Seiten dann in der zufälligen Reihenfolge zu drucken. Statt diesem Rat zu folgen, überarbeitete der Lektor mit der Autorin den Entwurf, und 1973 erschien das Buch unter dem Titel „Passing Ceremony“ im House of Anansi Press in Toronto. Hans-Christian Oeser übertrug „Passing Ceremony“ ins Deutsche, und der Verlag Klaus Wagenbach veröffentlichte den Roman unter dem Titel „Von Hand zu Hand“.

Helen Weinzweig wurde 1915 in Warschau als Tochter einer Frisörin und eines Talmudgelehrten und marxistischen Revolutionärs geboren. Sie hieß zunächst Helen Tenenbaum. Als sie zehn Jahre alt war, emigrierte ihre vom Ehemann verlassene Mutter mit ihr nach Kanada. 1940 heiratete Helen den Komponisten John Weinzweig. Im Alter von 52 Jahren veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte („Surprise!“). 1973 debütierte Helen Weinzweig mit dem Roman „Passing Ceremony“ / „Von Hand zu Hand“. Für „Basic Black with Pearls“ / „Schwarzes Kleid mit Perlen“ wurde sie 1981 mit dem Toronto Book Award ausgezeichnet. Helen Weinzweig starb 2010 im Alter von 95 Jahren.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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