Kai Wieland : Zeit der Wildschweine

Zeit der Wildschweine
Zeit der Wildschweine Originalausgabe Klett-Cotta, Stuttgart 2020 ISBN 978-3-608-98225-1, 271 Seiten ISBN 978-3-608-11626-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Leons Vater glaubt, dass dem entwurzelten Sohn ein Anker fehle und versucht, ihn ans Elternhaus zu binden. Leon möchte jedoch nicht so werden wie sein genügsamer, Gartenarbeit liebender Vater. Er sträubt sich gegen jede Einengung, will reisen, Neues erleben und sich selbst verwirklichen ...
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Kritik

In dem Roman "Zeit der Wildschweine" von Kai Wieland geht es weniger um äußere Ereignisse, als um die melancholische Gedankenwelt des seinen Weg suchenden Ich-Erzählers Leon und die Frage, ob sich die Wirklichkeit besser mit Worten oder mit Bildern spiegeln lässt.
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Spiegelbild

Als Leon in der Kampfsportschule angesprochen wird und zum Wandspiegel hin antwortet, statt sich umzudrehen, schleudert der andere zornig eine halb volle Trinkflasche nach ihm.

„Tu das nie wieder“, zischte Janko und hob dann die Stimme: „Tu das verdammt noch mal nie wieder! Wag‘ es nicht noch einmal, über den Spiegel zu mir zu sprechen. Ich bin nicht dein verfluchtes Spiegelbild!“

So lernen sich der Reisejournalist und der Fotograf kennen. Als Leon von Marc, dem Produktmanager des Reiseverlags Finnmark, den Auftrag erhält, einen Reiseführer über Lost Places zu schreiben, nimmt er Janko für die Bilder mit nach Frankreich.

Erzähle den Menschen Geschichten, die sie berühren, hatte Marc sinngemäß gesagt, und solche wollte ich schreiben, von Verlust und Verfall, vom Verlassen und Vergessen, den vier Vs des Berufsmelancholikers, und dazu noch ein gutes Hotel.

Treibgut

Seinen ersten Fotoapparat bekam Janko von seinem Onkel Zdravko Mihajlovic. Der hatte die Kamera geborgen, als sein jüngerer Bruder Dragiša 1992 in Bijeljina von einem Scharfschützen getötet worden war, der ihn wegen der Kamera für einen Kriegsberichterstatter gehalten hatte. Janko heißt eigentlich Robert Fink und trägt den Namen des Mannes, den seine Mutter in Deutschland geheiratet hat.

Beim Urban Exploring in Saroncourt prahlt Janko mit einer Zeitraffer-Sequenz.

„Timelapse“, schwärmte er. „Zwei Stunden in zwölf Sekunden.“
Auch das noch, dachte ich, aber dann erwachte in mir der Trotz. Was waren schon zwei Stunden? Schreibend verwaltete ich die Jahrzehnte, beherrschte die Gezeiten und marschierte in Vierundzwanzigstundenschritten. Ein einziger dieser Schritte genügte, um mich aus Saroncourt zurück vor das Kaminfeuer in meinem Garten zu bringen, oder Ben zu mir, seine kleine Hand im Zentrum einer heimelig knisternden Erinnerung […] − keine Fotografie der Welt konnte das leisten.

Auf einer Klippe entdecken Leon und Janko eine Hütte und verbringen dann einige Zeit mit dem einsamen Bewohner Alphonse, einem älteren Mann, der Treibgut sammelt.

Treibholz, hatte Alphonse behauptet, gleiche Erinnerungen. Und dann baute er sich ein Haus daraus? Das war sehr unvorsichtig von ihm.

Zohra

An einem Strand fällt den beiden Männern eine Surferin auf und sie warten, bis sie aus dem Wasser kommt. Unbekümmert schlüpft sie aus ihrem Neoprenanzug und achtet auch nicht weiter darauf, dass Janko sie nackt fotografiert. Auf der Suche nach geeigneten Wellen ziehe sie an der Atlantikküste entlang und schlafe im Auto, sagt sie.

In der Hoffnung, sie wiederzusehen, fährt Leon ein paar Tage später nach Boulogne, während sich Janko in Calais umsehen will.

Sie heiße Zohra, behauptet sie in Boulogne. Am nächsten Morgen klopft Leon an ihrem Auto und geht mit ihr frühstücken.

Man hatte sie beim Frühstück einfach gerne um sich, sie war wie schlechtes Wetter an einem unverplanten Sonntag.

Ihr Vater, ein Immigrant, sei Buchhändler in Nortzeele gewesen, erzählt sie und behauptet, dass der Schriftsteller Ernest Hemingway und der Fotograf Robert Capa ihre Namen in die Ladentheke der Buchhandlung geschnitzt hätten.

Dünkirchen

Nach Leons Ankunft in Dünkirchen ruft ihn Zohra an und teilt ihm mit, dass sie vor dem Musée Dunkerque parke. Sie gehen zusammen in ein Restaurant. Dort kommt ein Franzose namens Laurent zu ihnen an den Tisch, der Leons Begleiterin als Marie begrüßt und erklärt, dass sie sich schon als Kinder in Nortzeele kannten.

Als sich herausstellt, dass beide Männer Cineasten sind, verabschiedet sich Marie alias Zohra. Laurent macht als Statist bei dem von Christopher Nolan in diesen Tagen in Dünkirchen gedrehten historischen Kriegsfilm „Dunkirk“ mit und überredet seinen neuen Bekannten, sich ihm anzuschlließen. Der mit Laurent befreundete Crowd Assistant Director Gilbert teilt Leon einen alten Armeemantel zu, mit dem sich dieser bei einer Massenszene unter die Statisten mischt.

Laurent warnt Leon, Marie alles zu glauben.

„So ist Marie, sie erfindet sich und ihre Umwelt ständig neu. Sie ist eine Künstlerin.“

Nortzeele

Das Küstendorf Nortzeele wurde in den Neunzigerjahren von den Bewohnern geräumt, weil das Gebiet für eine geplante Erweiterung der Hafenanlagen von Dünkirchen vorgesehen war. Aufgrund von Planänderungen erwies sich die Aufgabe des Orts am Ende als sinnlos.

In dem verlassenen Dorf stößt Leon gleich bei seiner Ankunft auf einen Protestzug von Gartenzwergen. Ein Schild nennt den Namen der Künstlerin: Marie Parayko.

Leon findet auch die Buchhandlung. Die Tür ist unverschlossen, und Leon betritt das ehemalige Ladengeschäft. Während er sich im Keller umsieht, hört er erneut die Türklingel. Es ist Janko. Mit ihm traf Marie sich in Calais. Erst nach einer Weile kommt sie aus der Wohnung über der Buchhandlung herunter.

Leon und Janko übernachten in Maries Klappbett, während sie – wie gewohnt – im Auto schläft.

Am nächsten Morgen fährt Leon ohne Unterbrechung nach Baden-Württemberg zurück.

Wildschweine und Maisfelder

Bereits vor dem Aufbruch nach Frankreich nahm Leon einen Vorschlag seines Vaters Joachim an, die Adressen zu tauschen. Das Haus wachse ihm über den Kopf, behauptete er und einigte sich dann mit Leon darauf, dessen kleine Mietwohnung zu übernehmen, während der Sohn ins Elternhaus am Rand eines Dorfes mit 500 Einwohnern zog.

Joachim hat zwei Ehefrauen überlebt. Silvia, die erste der beiden, kam kurz nach der Hochzeit bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Leons Mutter starb vor vier Jahren. Noch sehr viel länger ist der Nachbar Herbert Seibold verwitwet.

Leons Mutter, eine Akademikerin aus der Stadt, mochte den im Nachbarhaus wohnenden Jäger nicht und versuchte zu verhindern, dass ihr Sohn beim Ausweiden der Tiere zusah. Der Vater verbot Leon auch, nach Einbruch der Dunkelheit in den nahen Wald zu gehen.

Mein Vater hatte mir als Kind verboten, mich bei Dämmerung dem Wald zu nähern. Wegen der Wildschweine, hatte er gesagt, und ich akzeptierte das, obwohl ich mein Leben lang nicht ein einziges gesehen habe. Aber wie denn auch. Dafür hätte ich schließlich in den Wald gemusst, am Abend, wenn es dunkel wurde.

Leons Schwester Jana hilft bei den Umzügen. Sie wohnt mit ihrem Ehemann Torben, dem siebenjährigen Ben und dem Nachkömmling Henry in einem eigenen Haus. Torben ist allerdings nur selten da, denn wenn er nicht geschäftlich in Japan zu tun hat, arbeitet er im Büro.

Leon hält Herbert Seibold für einen unipolaren, linear denkenden Menschen. Aber wenn der Nachbar die Mais-Monokultur kritisiert, stimmt er ihm zu, dass diese Fehlentwicklung eine Metapher für die aus den Fugen geratene Welt ist.

Während Jana mit den Kindern zu Besuch ist, brennt es im Garten. Weder der Rasen noch der Buchenzaun sind  zu retten. Leon hält seinen kleinen Neffen Ben für den Brandstifter und wirft seiner Schwester vor, nicht auf ihn aufgepasst zu haben, aber Herbert Seibold weist ihn zurecht: Das Feuer wurde durch unzureichend gelöschte Grillkohle verursacht.

Bald darauf brennen die Maisfelder.

Während die Saugänge zu Staub zerfallen und im Aschenebel verschwinden, sehen nur zwei von uns Frühaufstehern mehr als ein brennendes Maisfeld. Natürlich weiß keiner besser als Seibold, was die Stunde geschlagen hat. Er starrt mich noch immer an, wir verstehen uns, erkennen die Zeichen. Die Zeit der Wildschweine geht zu Ende, und mein Nachbar hat recht, wenn er große Augen macht. Wir alle machen große Augen, weil der Mais, trivial, aber leicht entzündlich, ein letztes Mal Eindruck schindet an diesem Morgen, brennend und brennend auf Quadratkilometern.

Seit die Saugänge brannten, liegt eine neue Klarheit in der Luft, und ich versuche nicht länger zu splittern, zu zerfallen und Sand zu sein, um mich in alle Windrichtungen zu zerstreuen.

Nachdem der Vater wegen eines Schlaganfalls im Krankenhaus behandelt wurde und eine Reha absolviert hat, zieht er zurück zu seinem Sohn ins Haus.

Eines Abends wird Leon von Herbert Seibold abgeholt und mit zum Hochsitz genommen. Am frühen Morgen gibt es der Jäger auf, weiter auf Wildschweine zu warten. Leon bleibt noch – und beobachtet dann doch noch eine Rotte von Wildschweinen.

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Was mit einem körperlichen Kräftemessen zwischen Leon und Janko in der Kampfsportschule beginnt, setzt sich als Konkurrenz des Journalisten und des Fotografen fort: Wie lässt sich die Wirklichkeit besser spiegeln, mit Worten oder Bildern? Die surfende Künstlerin Marie Parayko personifiziert noch eine dritte Art, mit der Realität umzugehen: Sie erfindet sich und ihre Umwelt immer wieder neu und fungiert – literarisch betrachtet − als unzuverlässige Erzählerin.

Der Ich-Erzähler Leon steht im Mittelpunkt des Romans „Zeit der Wildschweine“ von Kai Wieland, und aus seiner subjektiven Perspektive erleben wir, was geschieht. Allerdings ereignet sich äußerlich nicht viel; es geht mehr um Gedanken, und die sind eher grüblerisch als analytisch und zielgerichtet.

Leons Vater glaubt, dass dem entwurzelten Sohn ein Anker fehle und versucht, ihn ans Elternhaus zu binden. Leon möchte jedoch nicht so werden wie sein genügsamer, Gartenarbeit liebender Vater. Er sträubt sich gegen jede Einengung, will reisen, Neues erleben und sich selbst verwirklichen, aber die Vorstellung, die er von sich selbst hat, ist mehr vom Kino geprägt als von realistischen Lebensentwürfen.

Kai Wieland entwickelt die Geschichte im Wechsel der beiden Handlungsstränge und zwischen Präsens und Präteritum. Dadurch verliert man beim Lesen des Romans „Zeit der Wildschweine“ nie den Gegensatz zwischen sesshaftem Familienleben und Urban Exploring an Lost Places aus dem Blick.

Die Atmosphäre ist melancholisch und nachdenklich. Kai Wieland liebt originelle Analogien und schreibt beispielsweise von „Gedanken, die sich nutzlos in den Schatten legen wie überfressene Löwen“. So wie sich die im Wald vermuteten Wildschweine kaum sehen lassen und im Labyrinth der Saugänge in den Maisfeldern verbergen, arbeitet auch Kai Wieland in „Zeit der Wildschweine“ mit Leerstellen bzw. literarischen Ellipsen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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