Andreas Winkelmann : Nicht ein Wort zu viel
Inhaltsangabe
Kritik
Nicht ein Wort zu viel
Weil Frau Eberitzsch, die Inhaberin der Buchhandlung „Schriftzeichen“, unpässlich ist, vertritt ihre 32-jährige Mitarbeiterin Faja Bartels sie bei einer Autorenlesung von David Sanford, der seinen erfolgreichen Debütroman „Dunkelheit, mein Freund“ vorstellt. Das Video, das sie an diesem Abend auf ihrem Smartphone erhält, hält sie für einen geschmacklosen Scherz: der Zahntechniker Claas Rehagen, der wie sie zur Insta-Gruppe „Bücherjunkies“ gehört, ist mit durchsichtiger Folie auf einen Stuhl gefesselt und hat ein Schild um den Hals hängen, auf dem steht:
Erzähl mir eine spannende Geschichte.
Sie darf fünf Wörter haben. Nicht ein Wort zu viel.
Sonst muss dein Freund sterben. Seine Zeit läuft bald ab.
Faja denkt nicht mehr daran, bis sie am nächsten Tag ein zweites Video erhält, das wieder Claas mit Folie gefesselt auf dem Stuhl zeigt. Aber nun scheint er tot zu sein.
Kriminalhauptkommissar Simon Schierling übernimmt den Fall.
Bald darauf entdeckt eine Mitarbeiterin der öffentlichen Bücherei den Toten in den alten Räumen der Einrichtung, die soeben in ein modernes Gebäude umzieht. Claas Rehagen ist unter der Folie an einem tief in Mund und Rachen gedrückten Knäuel Papier erstickt, auf dem die Worte stehen, die im Video zu sehen waren.
Der zweite Mord
In Claas Rehagens von Büchern überquellender Wohnung stößt die Polizei auf einen weiteren Toten, dessen Ermordung nach dem gleichen Muster inszeniert ist: mit Folie auf einem Stuhl fixiert, mit einem Papierknäuel erstickt.
Sowohl hier als auch in der ehemaligen Bücherei liegt der Roman „Dunkelheit, mein Freund“ von David Sanford, und das erste Video erreichte Faja während einer Lesung aus diesem Buch. Das kann kein Zufall sein.
Erst einige Zeit später findet die Polizei heraus, dass es sich bei dem zweiten Ermordeten um Hardy Herrmann handelt. Der hat auch mit Literatur zu tun: er veröffentlichte zwei Romane als Selfpublisher.
Jaro
Der 34-jährige Zielfahnder Jaroslav („Jaro“) Schrader wird nach einem von ihm geleiteten Einsatz von seinem Kollegen Harald Mertens beschuldigt, den Tod von zwei Erwachsenen und eines ungeborenen Kindes verursacht zu haben. Zweifellos warf Johannes Jorgensen beim missglückten Versuch einer Festnahme seine schwangere Freundin Mandy Stein aus dem Fenster. Gleich darauf stürzte er selbst hinterher – und Harald Mertens will gesehen haben, dass Jaroslav Schrader den Kriminellen in die Tiefe stieß. Der beteuert, er sei losgesprungen, um Jorgensen zurückzuhalten, habe ihn aber nicht mehr erreicht, also weder absichtlich noch unabsichtlich gestoßen. Seine Chefin Annegret Möhlenbeck leitet eine interne Untersuchung ein, und bis zu deren Abschluss wird Jaroslav Schrader erst einmal mit Aufgaben beschäftigt, die ihn voraussichtlich nicht in direkten Kontakt mit Zielpersonen bringen. Außerdem verpflichtet Annegret Möhlenbeck ihren Mitarbeiter dazu, sich von der Psychotherapeutin Aylin Coban beraten zu lassen, die im Polizeipräsidium angestellt ist.
Als erstes soll er in einem Vermisstenfall ermitteln: der 22-jährige Unternehmersohn Thorsten Fleischer, der kürzlich sein BWL-Studium abbrach, ist seit zehn Tagen verschwunden. Jaro befragt Thorstens Vater. Heinz Fleischer gibt ihm eine Liste von Freunden seines schwulen Sohnes. Er zeigt kein Verständnis dafür, dass Thorsten lieber Literatur als BWL studiert hätte. Schließlich habe er selbst auch den maroden Betrieb seines Vaters übernommen und zur erfolgreichen Fleischer Elektro GmbH aufgebaut, obwohl er lieber Musiker geworden wäre. Über Thorstens Schreibversuche machten sich der Vater, die Stiefmutter und die leibliche Mutter offenbar lustig.
Von Thorstens Mutter Katrin ist Heinz Fleischer längst geschieden. Die alkoholkranke Frau, die so gut wie nie ihre Mietwohnung verlässt, weiß auch nicht, wo Thorsten sein könnte.
Zuoberst auf der von Heinz Fleischer zusammengestellten Liste der Freunde seines Sohnes steht Ansgar Brandhorst. Jaro sucht ihn auf seinem Biohof auf. Thorstens bester Freund baut illegal Cannabis an, aber Jaro bemerkt nichts, was bei der Suche nach dem Vermissten weiterhelfen könnte.
Und die Polizei hält es immerhin für möglich, dass Thorsten Fleischer nichts zugestoßen ist, sondern dass er von sich aus untergetaucht ist.
Faja
Jaros Ermittlungen ergeben, dass Thorsten Fleischer eine zehn Jahre ältere Halbschwester aus der ersten Ehe seiner Mutter hat: Faja Bartels.
Als er zu ihr fährt, um sie zu befragen, beobachtet er, wie ein Mann mit Bart eine Frau auf der Straße packt und in einen geparkten Kastenwagen zu zerren versucht. Jaro rennt los. Der Täter flüchtet, kehrt aber im Bogen zurück und rast mit dem Lieferauto davon.
Bei der Überfallenen handelt es sich um Faja Bartels.
Die Narben im Gesicht der 32-jährigen Buchhändlerin stammen aus der Kindheit. Als Faja acht Jahre alt war, fing ihr Vater Marco Pohl wieder einmal einen heftigen Streit mit ihrer Mutter Katrin an, die gerade dabei war, Frikadellen zu braten. Das heiße Fett aus der vom Herd gerissenen Pfanne verbrannte eine Gesichtshälfte des Mädchens. Die Mutter ließ sich daraufhin scheiden.
For sale: baby shoes, never worn
Faja erhält Polizeischutz.
An ihrer Stelle entführt der Serienmörder Lisbeth Heiland aus dem Büro der Autovermietung, bei der sie beschäftigt ist. Sie gehört wie Faja zu den „Bücherjunkies“. Ihre Leiche – ebenfalls mit Folie auf einem Stuhl fixiert – wird im Lager der Buchhandlung „Schriftzeichen“ gefunden.
Kriminalhauptkommissar Simon Schierling, der nun mit Jaro Schrader bei der Fahndung nach dem Serienmörder zusammenarbeitet, erfährt von seinem Kollegen, dass Ernest Hemingway einmal gewettet haben soll, er könne mit gerade einmal sechs Wörtern eine Geschichte erzählen. Es heißt, er habe die Wette gewonnen, und zwar mit „For sale: baby shoes, never worn“. In der deutschen Übersetzung sind dafür sogar nur fünf Wörter erforderlich: „Zu verkaufen: Babyschuhe, nie getragen“.
Der Satz macht Simon Schierling betroffen, denn er und seine Frau Marie haben zwar die sechsjährigen Zwillinge Luzie und Lanie, aber ihr Sohn starb im Alter von zwei Jahren.
Dunkelheit, mein Freund
Augenscheinlich steht die Mordserie mit Literatur in Verbindung, und weil David Sanfords Roman „Dunkelheit, mein Freund“ demonstrativ an den Fundorten der Leichen herumlag, gerät der Schriftsteller in den Fokus der polizeilichen Ermittlungen.
Als Jaro herausfindet, dass „Dunkelheit, mein Freund“ mit dem unveröffentlichten Manuskript „Out of the Dark“ von Hardy Herrmann identisch ist, reicht der Tatverdacht nicht nur für einen Durchsuchungsbeschluss des von David Sanford bewohnten Forsthauses, sondern auch für eine Festnahme von ihm und seiner Assistentin Nora Goldmann. Bei den Vernehmungen erhärtet sich zwar nicht der Mordverdacht, aber David Sanford muss zugeben, dass er bürgerlich Frank Krieger heißt und seine unter diesem Namen veröffentlichten Romane erfolglos blieben. Deshalb verständigte er sich mit Hardy Herrmann darauf, dessen Text gegen Bezahlung als eigenen auszugeben. Und nun ist Hardy Herrmann tot und kann den versprochenen zweiten Roman für David Sanford nicht mehr schreiben.
Scheherazade im Internet
Jaro, der sich inzwischen mit Aylin Coban angefreundet hat, versucht vergeblich, die Psychotherapeutin zu erreichen, und sie fehlt auch im Polizeipräsidium. Besorgt fährt er zu ihrer Adresse und hört von einer Nachbarin, dass Aylin Coban am Vorabend von einem uniformierten Polizisten abgeholt worden sei.
Aylin fiel auf einen Trick herein. Der Mörder verkleidete sich und behauptete, er habe den Auftrag, sie ins Polizeipräsidium zu fahren. Nun sitzt sie mit Folie umwickelt auf einem Stuhl und starrt auf die Kontrollleuchte einer Videokamera.
Erneut verlangt der Serienmörder eine Geschichte mit fünf Wörtern. Diesmal bitten die „Bücherjunkies“ die ganze Buchbloggerszene um Hilfe. Die Schwarmintelligenz ermöglicht es, dem Beispiel der Scheherazade zu folgen und eine Reihe von Geschichten mit Cliffhangern zu erfinden, die alle genau fünf Wörter haben. Tatsächlich geht der Mörder darauf ein, lässt Aylin erst einmal am Leben und fragt nach Fortsetzungen.
Mordverdacht
Hat Dirk Eberitzsch, der Sohn der Buchhändlerin, etwas mit der Mordserie zu tun? Er versuchte vergeblich, Frauen wie Faja Bartels anzubaggern. Nachgewiesen werden kann ihm erst einmal nichts Schwerwiegendes.
Weil sich der Serienmörder vor allem an Faja Bartels wendet, gerät deren vor sieben Monaten auf Bewährung aus der Haft entlassener Vater Marco Pohl unter dringenden Verdacht. Aber als Simon Schierling ihn festnehmen will, wird er von einem Schuss schwer verletzt, und Marco Pohl taucht unter.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Die Auflösung (Spoiler)
Dass der Serienmörder seine Opfer mit Industriefolie umwickelt, bringt Jaro dazu, sich nochmals im Lager der Fleischer Elektro GmbH umzusehen. Dort erfährt er, dass sich Heinz Fleischer ein paar Tage frei genommen und in seine Jagdhütte zurückgezogen habe.
In der Jagdhütte findet Jaro den Unternehmer tot vor, mit Folie auf einen Schaukelstuhl gefesselt, aber nicht erstickt wie die anderen Opfer, sondern erschossen.
Während Simon im Krankenhaus liegt, erfährt Jaro von Faja, dass Sascha, die erst seit einigen Monaten zu den „Bücherjunkies“ gehört, nichts mehr von sich hören lässt. Außerdem fiel Faja auf, dass sich ihre Ausdrucksweise vor etwa drei Wochen änderte.
Vor drei Wochen verschwand Thorsten. Sascha gab sich bei ihrer Aufnahme in die Gruppe als 28-jährige Briefzustellerin aus, die ihr Einkommen abends in der Gastronomie aufbessert. Sascha – der Vorname ist geschlechtsneutral – habe einmal den Namen eines kranken Freundes erwähnt, berichtet Faja. Als Jaro den Namen Ansgar hört, ahnt er, dass es sich bei „Sascha“ um Thorsten Fleischer handelte. Er rast los, zu dessen bestem Freund Ansgar Brandhorst. Die Haustür des Bauernhauses auf dem Biohof ist nicht abgeschlossen. Jaro betritt es und sucht nach Aylin.
Es stank.
Ein besonderer Geruch, den Jaro kannte.
Er griff in die wuselnde Fliegenmasse nach der Klinke, drückte sie nieder und öffnete […] die Tür. […]
Hinter der Tür aus Holz fand sich eine zweite aus Plastik. […]
Die Tür […] ließ sich durch einen Reißverschluss öffnen. […]
Mit spitzen Fingern zog er den Reißverschluss auf.
Sofort drang der Verwesungsgeruch mit Macht heraus, gefolgt von einigen Schmeißfliegen […].
Hinter der Folie lag eine andere Welt.
Im Zimmer steht ein altes Ehebett. Darauf ein in Folie eingewickelter Toter.
Hinter einer anderen Tür stößt Jaro auf Ansgar Brandhorst. Der drückt sich die Mündung einer Pistole unters Kinn.
Bei dem verwesenden Toten im Ehebett handelt es sich um seine große Liebe Thorsten Fleischer. Er erschoss sich vor drei Wochen aus Verzweiflung darüber, dass er als Künstler nicht ernst genommen wurde. Ansger Brandhorst gab sich dann an seiner Stelle im Internet als „Sascha“ aus.
Er rächte den toten Freund, indem er dessen Vater erschoss und Mitglieder der Bücherblogger-Szene mit beschriebenem Papier erstickte. David Sanfords Roman „Dunkelheit, mein Freund“ sei eine falsche Fährte gewesen, erklärt er Jaro. Der betrügerische Autor habe es verdient, unter Mordverdacht zu geraten.
Jaro verhindert Ansgar Brandhorsts Suizid nicht.
Nachdem dieser sich erschossen hat, befreit er Aylin.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Mit „Nicht ein Wort zu viel“ hat Andreas Winkelmann einen professionell gestalteten Page Turner vorgelegt. Originell ist nicht zuletzt der Hintergrund der Handlung: Leseratten, die aus der frustrierenden Realität in die Welt der Literatur flüchten, im Internet Bücher empfehlen oder verreißen und sich darüber online austauschen. Außerdem dreht sich die Handlung um die Herausforderung, mit wenig Text viel auszusagen: „Nicht ein Wort zu viel“ lautet die Maxime.
Andreas Winkelmann hat sich für „Nicht ein Wort zu viel“ ebenso lebendige wie verschiedenartige Charaktere ausgedacht, und bei der chronologischen Entwicklung der spannenden Geschichte wechselt er fortwährend die Perspektive. Kurze Kapitel tragen zum rasanten Tempo bei. Zugleich ist der Aufbau des Thrillers sorgfältig durchdacht. Die Biografien der Figuren werden skizziert, aber Andreas Winkelmann folgt nicht dem aktuellen Trend, dem Privatleben der Ermittlerinnen bzw. Ermittler einen breiten Raum zu geben. Mit einer ganzen Reihe von Verdächtigen und überraschenden Wendungen sorgt Andreas Winkelmann gekonnt für Spannung.
Den Thriller „Nicht ein Wort zu viel“ von Andreas Winkelmann gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Charles Rettinghaus.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Rowohlt Verlag