Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf

Tauben fliegen auf
Tauben fliegen auf Originalausgabe: Jung und Jung, Salzburg / Wien 2010 ISBN: 978-3-902497-78-9, 315 Seiten dtv, München 2012 ISBN: 978-3423140782, 320 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ildikó und ihre Schwester Nomi bleiben zunächst bei der Großmutter in Csenta in der Ungarisch sprechenden Region Vojvodina im Norden Serbiens zurück, als ihre Eltern Miklós und Rózsa Kocsis Ende der 60er-Jahre in die Schweiz auswandern. Erst nach fünf Jahren, als die Eltern sich eine neue Existenz aufgebaut haben, werden sie nachgeholt. Die Familie integriert sich, erwirbt die Schweizer Staatsbürgerschaft, verliert aber auch nicht den Kontakt zur Heimat ...
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Kritik

Melinda Nadj Abonji entwickelt in "Tauben fliegen auf" keine Handlung im engeren Sinn, sondern reiht Episoden aneinander und springt dabei vor und zurück. Sie setzt häufig statt eines Punktes ein Komma und schreckt vor 2½ Seiten langen Sätzen nicht zurück.
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Ildikó und ihre zwei Jahre ältere Schwester Nomi bleiben zunächst bei der Großmutter Anna („Mamika“) in Csenta in der Ungarisch sprechenden Region Vojvodina im Norden Serbiens zurück, als ihre Eltern Miklós und Rózsa Kocsis Ende der Sechzigerjahre in die Schweiz auswandern.

Und wissen Sie, wie ich mir diese bessere Welt vorgestellt habe? „Besser“ bedeutete für mich einfach „mehr“. Mehr von allen guten Dingen, die ich kannte. Vater und Mutter lebten in einem Land, in dem es mehr Schweine gab, mehr Hühner, mehr Gänse, da musste es Unmengen von Weizen geben, Mais, Sonnenblumen, der Klatschmohn wuchs überall. In den Speisekammern hingen unzählige Würste, große, wohlriechende Schinken, die Einmachgläser türmten sich auf den Regalen, in der Schweiz gab es sicher nicht nur freitags Palatschinken, sondern jeden Tag.

Zwei Jahre lang teilt sich das Ehepaar Kocsis mit den Landsleuten Sándor und Irén Bad und Küche. Miklós arbeitet als Metzger bei Herrn Fluri und auf dem Schlachthof. Rózsa verdient als Kassiererin und Kindermädchen dazu. Außerdem putzen sie am Wochenende gemeinsam in einer Bank. Nach vier Jahren richten sie mit zwei Waschmaschinen im Keller eine „Wäscherei, Glätterei und Büglerei“ ein.

Erst jetzt lassen sie Nomi und Ildikó nachkommen.

Nachdem Miklós und Rózsa Kocsis die Wäscherei sieben Jahre lang betrieben haben, eröffnen sie in den Achtzigerjahren stattdessen eine Cafeteria.

Im zweiten Anlauf schaffen sie 1987 die Einbürgerungsprüfung. Daraufhin stellt der Gemeindepräsident in einem kurzen Lichtbildervortrag die Familie vor, und bei der folgenden Abstimmung spricht sich eine Mehrheit dafür aus, den Kocsis‘ die Schweizer Staatsbürgerschaft zu gewähren.

Den Kontakt zu den Verwandten in der Vojvodina lassen sie nicht abreißen. Sie telefonieren nicht nur mit Miklós‘ Bruder Móric und dessen Ehefrau Manci – den Einzigen, die ein Telefon besitzen –, sondern reisen auch immer wieder hin und wohnen dann während ihres Aufenthalts in der Regel bei Miklós‘ verwitweter Mutter Anna („Mamika“).

Beispielsweise fahren sie im Sommer 1980 in einem tiefbraunen Chevrolet zur Hochzeit von Mórics und Mancis Sohn Nándor mit Valéria, die mit dreihundert Gästen gefeiert wird.

Während eines Aufenthalts im August 1984 – diesmal sind sie mit einem Mercedes unterwegs – lernen Nomi und Ildikó ihre Halbschwester Janka kennen, die gerade ihr Abitur machte. Erst jetzt erfahren sie, dass ihr Vater bereits zum zweiten Mal verheiratet ist. Seine erste Frau hieß Ibolya. Dass er sich scheiden ließ, war etwas Neues in der Familie.

1986 fahren sie ausnahmsweise nicht zu Mamika, sondern zu Rózsas Schwester Icu, dem Schwager Piri und dem Neffen Béla, der inzwischen als Taubenzüchter mehrere Wettbewerbe gewonnen hat. Kurz vor dem Ziel bleiben sie mit ihrem weißen Mercedes im Schlamm stecken.

Tante Icu stellt Brot auf den Tisch, Tomaten, Würste, Paprika, ihr müsst ausgehungert sein, Sahne, Quark, frische Butter, meine Tante, deren trockene Locken jetzt, spät in der Nacht, am Kopf kleben, ihre himmlischen Augen, die sich mädchenhaft freuen, Kinder, Kinder, dass ihr endlich da seid! und der Tisch ist noch nicht voll genug, den Speck muss ich noch holen, wie konnte ich den Speck vergessen und den Schnaps!, ihr fülliger Körper, der nochmals in der Speisekammer verschwindet, um im nächsten Augenblick den Tisch mit einer unglaublichen Torte zu verschönern, ach, und jetzt hab ich den Schnaps und den Speck wieder vergessen!

Während die Männer am anderen Morgen ihren Rausch ausschlafen, fährt Icu mit ihrer Schwester und den beiden Nichten zu ihrer Tochter Csilla, die gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Eltern mit einem Kerl namens Casba in einem Slum lebt und erst von der Nachbarin zwei Stühle ausleihen muss, damit die Besucherinnen sich setzen können. Icu bringt ihr einen Korb voll Nahrungsmittel mit. Auf ihren Wunsch redet Rózsa mit Csilla und drängt sie, wieder nach Hause zurückzukehren. Aber die junge Frau erklärt, sie liebe ihren Lebensgefährten und nehme die Armut gern auf sich.

Piri glaubt den Frauen nicht, dass sie auf dem Markt waren. Er ahnt, dass sie mit Csilla sprachen. Für ihn ist seine Tochter gestorben.

Beim nächsten Mal besuchen die Kocsis wieder Mamika.

[…] in der ersten Gesprächspause greifen wir nach den mitgebrachten Säcken und Taschen – mit der Zeit haben wir eine richtige Systematik im Geschenke verteilen entwickelt, Nomi, die den Kaffee, die Schokoladen, die Seifen auf den Tisch stellt, ich, die ein paar Worte über die mitgebrachten Kleidersäcke verliert, Mutter und Vater, die die spezifischen Geschenke überreichen, Diät-Schokolade für unsere Mamika, Taubenfutter für Béla, Haarfärbemittel für Bélas Frau, die Coiffeuse ist, hautfarbene Verbände für Tante Icu, deren Beine von ihrer Arbeit in der Hanffabrik schwarz gefleckt sind, den Asthma-Spray für Onkel Móric, dessen Atemwege verklebt sind, weil er nicht nur Bauer ist, sondern seit Jahren auch in der Mühle arbeitet, einen Mixer für Nándor und Valéria, die mittlerweile zwei Kinder haben […]

Während Miklós und Rózsa Onkel Pisti besuchen, bleiben Nomi und Ildikó bei ihrer Großmutter und lassen sich von ihrem Großvater („Papuci“) erzählen.

1942 waren die Faschisten erstmals auf den Hof gekommen, drei Uniformierte auf Fahrrädern, und hatten den Landwirt aufgefordert, sich ihnen anzuschließen. Er hielt sie hin. Von da an kamen fast wöchentlich Faschisten vorbei, und weil er nicht mitmachte, nahmen sie sich ein Pferd, ein paar Schweine, Mais oder Weizen. Móric und sein sechs Jahre jüngerer Bruder Miklós waren wütend, weil der Vater sich nicht wehrte. Der zwölfjährige Móric bedrohte die Diebe mit einer Schrotflinte, aber Papuci konnte Schlimmeres verhindern. Vermutlich ließen die Faschisten Papuci nur am Leben, weil sein Onkel Lajos ein großes Tier bei ihnen war. Nach Stalingrad machten marodierende Partisanen Papuci zu schaffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Lajos und andere Faschisten von Kommunisten erschossen. 1946 begannen die Enteignungen. Nun waren es Kommunisten, die Papuci immer wieder aufsuchten und ihn drängten, sein Land herzugeben. Als eines Tages der kleine Feri aus einem Nachbardorf gelaufen kam und berichtete, dass die Kommunisten seinen Vater verhaftet hätten, versteckte Papuci sich in Mais- und Weizenfeldern. Aber er wurde denunziert und nach ein paar Wochen festgenommen. Miklós hörte während des Unterrichts, wie sein Vater im Keller des Schulgebäudes gefoltert wurde. Papuci wurde nach Pozarevac ins Arbeitslager und später nach Kostolac in ein Kohlebergwerk gebracht. Als er nach über einem Jahr heimkam, erkannte seine Frau ihn kaum noch wieder. Der Einundfünfzigjährige starb noch im selben Jahr. Den Hof hatten die Kommunisten inzwischen enteignet.

Im April 1989 fahren Miklós und Ildikó in einem silbergrauen Mercedes zu Mamikas Beerdigung.

Am 3. Januar 1993 übernehmen die Kocsis‘ in dem Dorf am Zürichsee, in dem sie seit dreizehn Jahren wohnen, das gut gelegene Café „Mondial“. Miklós kocht, Rózsa, die fünf Jahre zuvor die Wirtefachschule absolvierte, übernimmt neben der Büroarbeit das Backen, und die Töchter helfen am Buffet und im Service mit. Außerdem sind die Hilfsköchin Dragana, die Küchenhilfe Marlis und die Kellnerin Glorija im „Mondial“ beschäftigt.

Miklós missfällt es, dass Ildikó ihr Studium schleifen lässt, um im Café mithelfen zu können. Er ahnt nicht, dass sie ihr Jura-Studium bereits vor einem Jahr beendete und inzwischen Vorlesungen in Philosophie, Religionswissenschaften, Literatur, Pädagogik und Geschichte besucht hat. Vergeblich protestiert Miklós dagegen, dass Nomi und Ildikó die eine oder andere Nacht in der stillgelegten, inzwischen von jungen Leuten besetzten Fabrik Wohlgroth verbringen und mit den beiden Hausbesetzern Dave und Mark sogar befreundet sind. Für ihn ist Wohlgroth ein Ort, an dem es keine Gesetze gibt. Dabei tut Miklós alles, um seinen beiden Töchtern ein gutes Leben zu ermöglichen. Ildikó findet die Aufopferung der Eltern allerdings auch als Einschränkung:

[…] ich werde mundtot gemacht mit Sätzen wie: Ihr sollt es einmal besser haben als wir, wir arbeiten nur für euch […]

1993 fragt der junge, in der kroatischen Stadt Dubrovnik aufgewachsene Serbe Dalibor Bastic im Café „Mondial“ nach Arbeit. Die Familie Kocsis kann ihm zwar keine Stelle anbieten, aber Ildikó notiert sich seine Telefonnummer, ruft ihn bald darauf an und verabredet sich mit ihm. Obwohl sie beide aus dem ehemaligen Jugoslawien stammen, können sie sich nur in englischer Sprache unterhalten. Seit Ildikó als dreizehnjährige Schülerin in den Sizilianer Matteo de Rosa verliebt gewesen war, ist Dalibor der erste Mann, für den sie starke Gefühle entwickelt.

Als Nomi und Ildikó den neuen Freund mit nach Wohlgroth nehmen, reagiert Mark eifersüchtig. Nun kann er nicht länger verdrängen, dass Ildikó mit ihm schlief, obwohl sie ihn von Anfang an nicht wirklich geliebt hat.

Rózsas fünfzigster Geburtstag wird mit Freunden wie Sándor und Irén, Zoltán und Birgit in einem Fischrestaurant gefeiert.

Nomis und Ildikós Cousin Béla wird zur jugoslawischen Volksarmee eingezogen, obwohl er sich monatelang bei Freunden versteckte. Er kämpft jetzt in Banja Luka.

Als die Kroatin Glorija in der Küche versehentlich die Serbin Dragana rempelt, kommt es zwischen den beiden Frauen zu einem lautstarken Streit, der die Gäste verschreckt. Dragana wirft ihrer Kollegin vor, bösartig wie der kroatische Staatspräsident Franjo Tudjman zu sein, und Glorija behauptet darauf hin, der serbische Staatspräsident Slobodan Miloševic sei ein Verbrecher. Nach einer kurzen Prügelei liegt Glorija mit aufgeschürftem Knie und zerrissener Strumpfhose auf dem Küchenboden.

Zwei Gäste, ein Schweizer und ein italienischer Einwanderer, der mehrere Bauunternehmen betreibt, diskutieren über die Balkankriege. Dabei versucht der Schweizer mit angelesenem aber unverdautem Wissen zu glänzen.

Dalibor reist unvermittelt nach Dubrovnik zurück und lässt Ildikó allein.

Eines Tages ist die Herrentoilette im „Mondial“ mehr als üblich verschmutzt: Neben dem WC liegt eine Unterhose. Jemand hat sich offenbar auf den Boden entleert und einen Teil des Kots an die Wand geschmiert. Ildikó bleibt nichts anderes übrig, als zu putzen.

[…] im Mondial hat uns noch nie jemand „Schissusländer“ genannt, unsere Gäste sind im Allgemeinen gepflegt gekleidet, tragen gute, saubere Schuhe und Accessoires, Schmuck, Taschen, Hunde, die zu ihrer Kleidung passen; und ich habe noch nie genauer darüber nachgedacht, was an dieser Anständigkeit, die mit aufrechter Haltung und gedämpfter Stimme einen Kaffee bestellt (samstags vielleicht noch einen zweiten), wirklich bedrohlich ist, aber jetzt, wo ich nichts fühle, aber putzend denke, verstehe ich mich, dass das Nette, Wohlanständige, Kontrollierte, Höfliche eine Maske ist, und zwar eine undurchdringliche: sie hat den nicht einzuholenden Vorteil, dass man jemandem die Maskenhaftigkeit nicht vorwerfen kann […], kein Durchgedrehter, Abnormaler, unberechenbarer Freak hat seine eigene Scheiße in die Hand genommen und sie an unsere Klowand geschmiert, sondern ein kultivierter Mensch (ich, die „Scheiße“ schreibt, kann mir nicht vorstellen, wie die hiesigen Bürgerinnen und Bürger das Wort in den Mund nehmen, aber vielleicht tun sie es, flüstern sich „Scheiße“ zu, Jugo und Scheiße, das passt zusammen […]

Kurz darauf verlässt Ildikó das Elternhaus und nimmt sich eine eigene kleine Wohnung.

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„Tauben fliegen auf“, der Debütroman von Melinda Nadj Abonji, handelt von einer ungarischen Familie aus der nordserbischen Region Vojvodina, die Ende der Sechzigerjahre in die Schweiz auswandert. Mit viel Arbeit bauen sich Miklós und Rózsa Kocsis eine neue Existenz auf, denn ihre beiden Töchter sollen es einmal besser haben als sie. Sie integrieren sich und erwerben die Schweizer Staatsbürgerschaft, ohne den Kontakt zur Heimat zu verlieren. Fünfundzwanzig Jahre lang (von 1968 bis 1993) begleiten wir die Familie, die sich zwischen drei Kulturen bewegt. Einzelne Erinnerungen gehen bis in die Vierzigerjahre zurück. „Tauben fliegen auf“ handelt aber nicht nur von Aufbruch und Heimatlosigkeit, sondern auch vom Erwachsenwerden und der Suche nach sich selbst.

Da Melinda Nadj Abonji am 22. Juni 1968 in Becsej in der Vojvodina geboren wurde und im Alter von fünf Jahren in die Schweiz kam, ist anzunehmen, dass „Tauben fliegen auf“ autobiografische Züge aufweist.

Melinda Nadj Abonji entwickelt keine Handlung im engeren Sinn, sondern reiht assoziativ Episoden aneinander und springt dabei zeitlich vor und zurück, ohne in jedem Fall anzugeben, in welcher Phase wir uns befinden. Ein formgebender Aufbau fehlt.

Solange die Ich-Erzählerin Ildikó Kocsis und ihre Schwester noch als Kinder bei der Großmutter in der Vojvodina leben, herrscht das Pronomen „wir“ vor. Später weicht es dem „ich“. Hin und wieder spricht die Ich-Erzählerin auch in der zweiten Person Singular zu ihrer Großmutter.

Häufig setzt Melinda Nadj Abonji statt eines Punktes ein Komma. So entstehen zweieinhalb Seiten lange Sätze. Dennoch lässt sich „Tauben fliegen auf“ gut lesen.

2010 wurde Melinda Nadj Abonji für „Tauben fliegen auf“ sowohl mit dem Deutschen als auch mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet.

Den Roman „Tauben fliegen auf“ von Melinda Nadj Abonji gibt es auch in einer gekürzten Version als Hörbuch, gelesen von der Autorin (Regie: Katja Gosse, Bearbeitung: Joachim Hoell, Köln 2010, 6 CDs, ISBN 978-3-8371-0847-7).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Jung und Jung

Das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und die Balkankriege der Neunzigerjahre

Sibylle Berg - GRM. Brainfuck
Einen Plot gibt es in "GRM. Brainfuck" von Sibylle Berg nur rudimentär. Die ersten 200 Seiten sind sprachlich virtuos und mitreißend, witzig und voller Esprit. Aber mit mehr als 630 Seiten ist die kulturpessimistische Groteske viel zu lang. In dem Maß, wie sich die Wirkung des aus der Lyrik entlehnten Zeilensprungs und der zynischen Stakkato-Sätze abschleift, nimmt das Wirre, Fragmentarische und Elliptische der Darstellung zu.
GRM. Brainfuck