Kristine Bilkau : Die Glücklichen

Die Glücklichen
Die Glücklichen Originalausgabe: Luchterhand und Literatur Verlag, München 2015 ISBN 978-3-630-87453-1, 300 Seiten ISBN 978-3-641-15636-7 (eBook) Taschenbuchausgabe: btb, München 2017 ISBN 978-3-442-71458-2, 300 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Cellistin Isabell und der Journalist Georg wohnen mit ihrem kleinen Sohn in einer Großstadt. Sie gehören einer Generation der gebildeten Mittelschicht an, die hohe Ansprüche stellt und unter Erfolgsdruck steht. Als Georg und Isabell fast gleichzeitig arbeitslos werden, droht ihnen der soziale Abstieg. Die Sorge, zu den Verlierern zu zählen, belastet die beiden – und ihre Ehe.
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Kritik

Kristine Bilkau ist mit dem Roman "Die Glücklichen" ein eindringliches Generationenporträt auf hohem literarischem Niveau gelungen. Feinsinnig und mit viel Empathie vertieft sie sich – aber auch die Leserinnen und Leser – in die Lage der beiden Hauptfiguren. Dabei beschreibt sie nichts, sondern setzt alles präzise und anschaulich in Szene.
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Eine gebildete Mittelstandsfamilie

Jacqueline du Pré ist das große Vorbild der Cellistin Isabell, aber ihr Können reicht weder für Sinfonieorchester noch für ein Streicherquartett; sie spielt ihr Instrument im Graben einer Musicalbühne. Und nach einer längeren Pause wegen der Geburt ihres Sohnes Matti zittern ihr bereits die Hände, wenn sie an ihr Solo denkt, und entsprechend unsicher führt sie dann auch am Abend den Bogen – was alles noch schlimmer macht. Dystoner Tremor heißt das.

Georg arbeitet als Journalist in einer Zeitungsredaktion. Der 42-Jährige verwaltet Themenpläne, redigiert Texte von Reportern und fährt auch schon mal für eine Homestory über ein Aussteigenpaar aufs Land. Björn konzipierte früher Verpackungen für internationale Markenprodukte. Jetzt wohnen er und seine Frau Maud mit dem Ziel der Selbstversorgung auf einem Bauernhof: Vom Konsumexperten zum Konsumverweigerer.

Gerüchte über einen bevorstehenden Verkauf des Zeitungsverlags beunruhigen die Belegschaft.

Sie hinkten technisch hinterher, ständig hieß es, da stimme was mit dem Server nicht, ständig zeigte sich, dass sie nicht genug Techniker hatten.

Georgs und Isabells Verdienst reicht für die Miete in einer Altbauwohnung der Großstadt, in die Isabell vor 20 Jahren mit ihrer Mutter eingezogen war. (Die Mutter lebt inzwischen im Allgäu.) Die Fenster sind mit Plastikplanen an einem Gerüst verhängt, denn die Fassade wird renoviert und gelb gestrichen.

In der Wohnung unter ihnen hauste ein zahnloser Rentner ohne Heizung und ohne Dusche, er war der Letzte, der Briketts aus dem Keller holte.

Als auch die Klingelschilder ausgewechselt sind und im Treppenhaus ein Kronleuchter hängt, liegt im Briefkasten eine Mieterhöhung.

Arbeitslosigkeit

Fast gleichzeitig verlieren Georg und Isabell ihren Arbeitsplatz: Isabell kehrt nach einer Krankschreibung und etwas Physiotherapie nicht mehr in den Orchestergraben zurück, weil die Musik der Streicher inzwischen digital eingespielt wird. Vergeblich hofft sie auf die Aufnahme in ein Tanzorchester.

In einem Meeting des Zeitungsverlags, zu dem auch die Auslandsredaktionen und -korrespondenten zugeschaltet sind, ist von depressiver Marktlage, einer starken Investorengruppe, Umstrukturierungen und Visionen die Rede.

Wir haben alle Möglichkeiten durchgerechnet. In diesen harten Zeiten kann niemand weitermachen wie bisher.

Von den Entlassungen bleibt Georg nicht verschont, und er findet ebenso wenig wie Isabell eine neue Anstellung. Die zuständige Beraterin der Arbeitsagentur schlägt der Cellistin eine Umschulung vor. Georg, der einmal von der Karriere eines Auslandskorrespondenten an einem Brennpunkt des Weltgeschehens träumte, bewirbt sich sogar auf Stellenangebote, in denen ein Redakteur für ein Kunden- und Mitarbeitermagazin gesucht wird.

Zu spät, um ein Familienvater zu sein, der etwas Bleibendes aufbaut. Eine Immobilie anschafft. Wohnen, Mieten, Kaufen, das Thema macht ihn zum Verlierer. Die Zeiten der vernünftigen Preise sind vorbei und werden nicht wiederkommen.

Haus, Baum, Kind. Das Später ist zu einem Jetzt geworden. Kein Haus, kein Baum, aber ein Kind.

Wenn Georg und Isabell nach Einbruch der Dunkelheit an beleuchteten Fenstern schöner Wohnungen mit offenen Vorhängen vorbeigehen und hineinschauen, wird ihnen bewusst, dass sie sich keinen Luxus mehr leisten können. Es ist vor allem Georg, der zur Sparsamkeit drängt und darauf besteht, dass sie statt im Bioladen beim Discounter einkaufen. Zum Entsetzen seiner Frau spielt er mit dem Gedanken, in eine billigere Kleinstadt zu ziehen.

Umdenken, nennt er es, wir müssen umdenken, so etwas sagt er.

Isabell will zunächst nicht wahrhaben, dass sie sich einschränken müssen und ihnen der gesellschaftliche Abstieg droht.

Anstatt nach Hause zu gehen, sucht sie im Feinkostladen langsam die Regale ab, studiert in Ruhe Risottomischungen in durchsichtigen Tütchen, nimmt sich einen Einkaufskorb, legt getrocknete Wildfeigen und ein Glas Rosenkandis hinein, sie hat keine Eile. Biohonig mit Lavendelblüten, Pfefferschokolade, Maronenaufstrich, den Georg mag, und das noch und das noch und das noch, ohne auf die Preise zu achten, ohne Summen im Kopf zu addieren, Himbeeressig und Gewürzmischungen für Pastagerichte.

Als Isabell die Wände des Kinderzimmers neu streicht, entdeckt sie hinter einer losen Tapete einen Wandsafe. Unterschiedlich tiefe Bohrlöcher deuten darauf hin, dass Vormieter versuchten, die Stahltür zu öffnen. Isabell forscht nach, wer vor Jahrzehnten hier wohnte und sich möglicherweise den Tresor einbauen ließ. Georg macht sich mit einer Bohrmaschine an die Arbeit – scheitert jedoch an dem dicken Stahl ebenso wie die Leute vor ihm.

Zukunftssorgen und die Angst vor dem sozialen Abstieg in Verbindung mit der Herausforderung, für Matti eine gute Mutter und ein guter Vater zu sein, belasten Georg und Isabell. Weil sie sich gegenseitig nicht helfen können, sondern im Gegenteil alles nur noch verschlimmern, droht der Familie das Scheitern.

Neue Herausforderung

Durch die Vermittlung seines früheren Kollegen Matthias, der inzwischen als  Kommunikationsmanager für Industrie und Technik bei der Landesmesse in Stuttgart tätig ist, erhält Georg die Möglichkeit, eine Woche lang dort auszuhelfen. Aber kurz nach seiner Ankunft in Stuttgart muss er den nächsten Zug nach Hause nehmen, weil seine Mutter Erika gestorben ist.

Georgs Eltern betrieben früher ein Radio- und Fernsehgeschäft. Sein Vater missachte die Zeichen der Zeit bis zuletzt.

Er hätte nur einmal durch einen Elektrodiscounter spazieren müssen, fünf Stockwerke erkunden, ein Meer von Fernsehern, Musikanlagen und endlose Bahnen aus Waschmaschinen, Kühlschränken, Geschirrspülern und anderen Haushaltsgeräten durchwandern müssen. Dann hätte er die ganze Fülle des Angebots zu Kampfpreisen gesehen und sofort verstanden, dass er von nun an besser keine großen Warenmengen mehr bestellte. Dass er sich höchstens noch auf die Stammkunden konzentrieren, seinen Techniknotdienst pflegen und sich dabei langsam auf den Ruhestand vorbereiten sollte.

Erika schloss das Geschäft nach dem Tod ihres Mannes. Allerdings blieb ein Haufen Ladenhüter übrig. Aus diesem Fundus wählte sie immer wieder Geschenke für Georg und Isabell aus, zum Beispiel einen 25 Jahren alten Wasserkocher. Den ehemaligen Laden richtete sich die Witwe als Wohnung ein. Die muss nun ausgeräumt werden, ebenso wie das noch immer gut gefüllte Lager mit alten Elektrogeräten. Georg sucht den Mietvertrag, um ihn zu kündigen. Hoffentlich ist das kurzfristig möglich, denn wovon sollte er das sonst bezahlen? Zu seinem Entsetzen stößt er auf einen noch laufenden Kreditvertrag, den sein Vater offenbar abgeschlossen hatte, um ihm das Studium zu ermöglichen. Dem Bestatter erklärt er, dass er arbeitslos sei und nur einen einfachen Sarg bezahlen könne. Die Situation überfordert Georg.

Ich muss den Laden leer räumen. Ich muss Mieter finden, und zwar schnell. Ich muss vielleicht renovieren. Ich brauch einen Entrümpler. Und ich muss endlich wieder ARBEITEN.

Während Georg zwei Tage lang mit Migräne auf dem Sofa liegt und sich immer wieder übergibt, zerstückelt Isabell die Kakteen ihrer Schwiegermutter und wirft die Teile auf den Müll. Nachdem sie die Wohnung gereinigt hat, stellt sie Nippes und alte Geräte ins Schaufenster des ehemaligen Ladens. Prompt kauft ihr eine Frau aus der Nachbarschaft einen alten fahrbaren Heizkörper ab. Daraufhin richtet Isabell eine Art Trödelladen ein und macht aus dem Ballast etwas Nützliches.

Georg kann kaum glauben, was er sieht, als er sich zum ersten Mal wieder dem Schaufenster nähert und durch die Scheibe  beobachtet, wie seine Frau ein Set alter Gläser für eine Kundin in Zeitungspapier einschlägt.

Was Isabell aus diesem dunklen Loch gemacht hat. Alles in diesen zwei Tagen. Sie muss geschuftet haben.

Endlich vertraut Isabell ihrem Mann an, welche Angst sie vor ihren letzten Auftritten hatte.

„Ich dachte, es geht weg, gerade weil ich niemandem etwas sage.“
„Das hat offenbar nicht gut funktioniert.“
„Diese Wörter, Zittern, Bogen, Hand, wenn ich sie ausspreche, dachte ich, würden sie bleiben und mir keine Ruhe mehr lassen.“
„Ich glaube, es ist umgekehrt. Wenn du sie nicht aussprichst, lassen sie dir keine Ruhe.“

Isabell nimmt sich vor, in der neuen Kindermusikschule zu fragen, ob sie dort Cello-Kurse geben könne.

Den Wandtresor lassen Georg und Isabell zu. Sie trotzen ihm sein Geheimnis nicht ab – ebenso wenig wie der Zukunft.

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In ihrem Debütroman „Die Glücklichen“ erzählt Kristine Bilkau von einem Ehepaar mit einem kleinen Kind in einer Großstadt. Es handelt sich um eine Musikerin und einen Journalisten. Es könnten auch Universitätsassistenten, Soziologen oder Stationsärzte sein. Sie repräsentieren eine Generation der gebildeten Mittelschicht, der die Lebensweise der Eltern fremd geworden ist, die hohe Ansprüche stellt, große Erwartungen hat und fortwährend unter Erfolgsdruck steht. Als Georg und Isabell fast gleichzeitig arbeitslos werden, droht ihnen der soziale Abstieg, das Scheitern. Sie müssen sich einschränken. Die Sorge, zu den Verlierern zu zählen, belastet die beiden – und ihre Ehe.

Kristine Bilkau ist mit „Die Glücklichen“ ein realistisches, nachvollziehbares und eindringliches Porträt einer Generation gelungen. Zugleich spricht sie Themen wie die Gentrifizierung, den Strukturwandel in der Wirtschaft und die Umbrüche in der Medienwelt an. Kristine Bilkau beleuchtet das Geschehen abwechselnd aus den sich ergänzenden und widersprechenden Blickwinkeln der beiden Hauptfiguren. Kunstvoll variiert und spiegelt sie Themen, Motive und Symbole. Das gilt nicht nur für die Plastikplanen vor den Fenstern, sondern vor allem auch für einen hinter der Tapete des Kinderzimmers entdeckten, offenbar seit Jahrzehnten ungeöffneten Wandtresor. Feinsinnig und mit viel Empathie vertieft Kristine Bilkau sich, aber auch die Leserinnen und Leser in die Lage von Georg bzw. Isabell. Dabei beschreibt sie nichts, sondern setzt alles ebenso präzise wie detailiert und anschaulich in Szene.

„Die Glücklichen“ ist ein formal gelungener und inhaltlich tiefgehender Roman auf hohem literarischem Niveau. Die Lektüre ist nicht kopflastig und abgehoben, sondern eindrucksvoll und mitreißend.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Luchterhand und Literaturverlag / Kristine Bilkau

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