Ivo Andric : Die Brücke über die Drina

Die Brücke über die Drina
Originalausgabe: Na Drini Cuprija Belgrad 1945 Übersetzung: Ernst E. Jonas Carl Hanser Verlag, München 1992 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 69, München 2007, 422 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im 16. Jahrhundert ließ Mehmet Pascha Sokolis, der Großwesir des Osmanischen Reiches, bei der bosnischen Stadt Wischegrad eine steinerne Brücke über die Drina errichten. Das Bauwerk verband Orient und Okzident. Moslems, Christen und Juden lebten hier lange Zeit friedlich zusammen. Die Sprengung der Brücke im Ersten Weltkrieg war deshalb auch ein Menetekel.
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Kritik

Nicht eine Figur, sondern eine Brücke über die Drina steht im Mittelpunkt dieser Chronik, einer Sammlung von Legenden und realistischen Episoden, in denen sich die Geschichte des Balkans spiegelt. Wir erleben sie aus der Sicht der Bewohner.
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Einer der christlichen Knaben, die vom Osmanischen Reich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf dem Balkan für die Janitscharen ausgehoben wurden, brachte es in Konstantinopel zum Großadmiral, Schwiegersohn des Sultans und schließlich zum Großwesir: Mechmed Pascha Sokoli. Er stammte aus Sokolowitschi, einem bosnischen Dorf in der Nähe von Wischegrad. Obwohl er seine Heimat nie wieder sah, vergaß er sie nicht. Als gestandener Mann ordnete der Großwesir den Bau einer steinernen Brücke in Wischegrad an. Es war die einzige Brücke über die Drina, einen rechten Nebenfluss der Sawe. Bisher gab es dort nur eine Fähre, die ihren Betrieb bei Hoch- bzw.Niedrigwasser einstellte.

Mechmed Pascha Sokoli beauftragte einen Mann namens Abidaga mit dem Brückenbau. Abidaga kam mit dem Baumeister Tosun Effendi nach Wischegrad. Während ein Holzgerüst errichtet wurde, fingen dalmatinische Steinmetzen unter Meister Antonio aus Ulzinj damit an, den aus den Bergen bei Banja herbeitransportierten Stein zu bearbeiten. Rücksichtslos hielt Abidaga die Christen im Umkreis zur Fronarbeit an. Das Projekt nahm bald solche Ausmaße an, dass es kaum noch etwas gab, was nicht dabei eingesetzt wurde, weder Männer noch Pferde, Ochsen oder Fuhrwerke. Auch in weiter entfernten Gebieten wurden Arbeiter rekrutiert. Sie brachten Unruhe nach Wischegrad, und die gestiegende Nachfrage führte zu deutlichen Preiserhöhungen.

Der christliche Bauer Radisaw stiftete schließlich Fronarbeiter an, mit ihm Sabotageakte durchzuführen

Einige der Bewohner glaubten, die Wassernixe Vila verursache die Zerstörungen, und man riet Abidaga, zwei Kinder als Opfer für Vila in die Brücke einzumauern. Zufällig kam zu dieser Zeit in einem Dorf oberhalb von Wischegrad ein geisteskrankes und taubes Mädchen mit einem Zwillingspaar nieder. Drei Tage nach der Totgeburt erhob sich die Wöchnerin Ilinka und begann nach den Kindern zu suchen. Weil die Dorfbewohner so taten, als seien die Kinder in einen Brückenpfeiler eingemauert worden, lief die Gehörlose verzweifelt auf der Baustelle herum und zeigte den Arbeitern ihre vor Milch strotzenden, schmerzenden Brüste.

Abidaga glaubte nicht an Feen oder Nixen. Deshalb befahl er Plewljak, dem Kommandeur der Sejmen, die Saboteure zu vernichten. Schließlich wurde Radisaw gefangen genommen. Zuerst drückte ihm der Zigeuner Merdschan, der als Schmied, Henker und Folterknecht tätig war, rotglühende Ketten auf die Brust und riss ihm die Zehennägel mit einer Zange aus. Dann trieb er dem mit gespreizten Beinen auf den Boden gebundenen Bauern von unten her einen Pfahl durch den Körper, bis dessen Spitze an der rechten Schulter wieder austrat, wobei Merdschan darauf achtete, dass Radisaw am Leben blieb. Der Gepfählte wurde dann senkrecht aufgestellt. Als er endlich tot war, befahl Plewljak, die Leiche den Hunden vorzuwerfen, aber einige Christen bestachen den Henker und bestatteten Radisaw heimlich am Ufer der Drina.

Nach zwei Jahren wurde Abidaga durch Arif Beg abgelöst. Der Großwesir hatte nämlich herausgefunden, dass die mit dem Brückenbau über die Drina beschäftigten Arbeiter weder verpflegt noch bezahlt worden waren, weil Abidaga die dafür von Mechmed Pascha Sokoli zur Verfügung gestellten Gelder in die eigene Tasche gesteckt hatte. Der Übeltäter wurde mit seinem Harem in ein anatolisches Dorf verbannt.

Gegen Ende des dritten Baujahres riss ein Seil an einem Kran: Ein Brückenpfeiler fiel herab, exakt in die vorgesehene Position. Aber einem Gehilfen des Steinmetzmeisters Antonio wurde dabei der Unterleib zerquetscht. Während die untere Körperhälfte des Toten zwischen Pfeiler und Fundament eingeschlossen blieb, bestattete man den Oberkörper.

Nach fünfjähriger Bauzeit war die Brücke über die Drina 1571 fertig. Es handelte sich um eine 250 Schritt lange Steinbrücke mit elf Bögen. Besonders der mittlere Teil – die Kapija, das Tor – bildete fortan einen Mittelpunkt des Lebens in Wischegrad.

Kurze Zeit später wurde Mechmed Pascha Sokoli von einem Attentäter erstochen.

Als sich die Serben 1804 gegen das Osmanische Reich erhoben, wurde auf der Brücke über die Drina erstmals eine Wache eingerichtet. Beim ersten Passanten, der den Wachhabenden verdächtig vorkam, handelte es sich um den Greis Jelisije, einen verrückten Giauren-Derwisch. Ohne weitere Überprüfung wurde er gefesselt und hingerichtet, und zwar zusammen mit dem neunzehnjährigen Waisen Mile aus Lijeska, der Lieder gesungen hatte, die von den Türken für eine politische Provokation gehalten worden waren. Die abgetrennten Köpfe der beiden Männer wurden zur Abschreckung auf Pfähle gesteckt.

Schließlich überließ der geschwächte Sultan das Gebiet westlich der Drina nach Absprache mit dem russischen Zaren einem serbischen Fürsten. Die Moslems in den von den Serben übernommenen Gebieten flüchteten über die Drina-Brücke. Der über neunzig Jahre alte Hadschi Suko, der zweimal nach Mekka gepilgert war, prophezeite, das Osmanische Reich werde innerhalb eines Menschenalters bis zum Schwarzen Meer zurückweichen.

Etwa zur gleichen Zeit wurde der Weiler Nesuke bei Wischegrad von Mustajbeg Hamsitsch beherrscht, einem reichen Mann, der außer vier Töchtern einen Sohn hatte: Nail. Dieser wollte Fata zur Frau, die einzige Tochter von Awdaga Osmanagitsch in dem auf der anderen Seite der Drina gelegenen Weiler Welji Lug. Während die ebenso stolze wie kluge und schöne Fata schwor, Nesuke nicht zu betreten, einigten sich Awdaga Osmanagitsch und Mustajbeg Hamsitsch darauf, die beiden jungen Leute zu vermählen. Um ihrem Vater keine Schande zu machen, ließ Fata sich mit Nail trauen, doch als die Hochzeitsgäste nach Nesuke aufbrachen und über die Brücke ritten, stürzte sie sich in die Drina und ertrank. Auf diese Weise bewahrte sie auch ihre eigene Ehre.

1867 zog die letzte türkische Besatzung aus Belgrad ab. Die Moslems in Wischegrad waren besorgt über den Verfall des Osmanischen Reiches. Die Christen dagegen erhofften sich von den politischen Veränderungen eine Befreiung von der Unterdrückung durch die Osmanen.

1875 bis 1878 erhoben sich Serbien, Bosnien und die Herzegowina gegen das Osmanische Reich (Orientkrise). Auf dem Berliner Kongress bestätigten die Großmächte die Souveränität Serbiens, während die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina von der k. u. k. Monarchie besetzt wurden. Um den Widerstand gegen die Österreicher zu organisieren, kam im Juli 1878 der Mufti aus Plewlje nach Wischegrad. Osman Effendi Karamanli hielt davon nichts:

„Meine Vorfahren haben sich nie taufen lassen, also werde auch ich es nicht tun. Ich, Effendi, werde mich weder mit dem Schwaben [damit sind die Christen im Allgemeinen gemeint] taufen lassen noch mit einem Narren in den Krieg ziehen.“ (Seite 149)

Als die Österreicher anrückten, verließen die meisten Moslems die Stadt. Hussein Effendi hinderten sie jedoch daran, indem sie ihn fesselten und mit dem rechten Ohr an einen Eichenbalken auf der Brücke über die Drina nagelten. So wurde Hussein Effendi am Tag darauf von den Österreichern vorgefunden. Sanitäter befreiten ihn.

Die Österreicher richteten eine Verwaltung ein und brachten nicht nur neue Maße und Zahlungsmittel, sondern auch andere Neuerungen mit. Das machte vor allem den älteren Bewohnern zu schaffen. Schemsibeg Brankowitsch aus Crntscha beispielsweise erlaubte keinem seiner sechs Söhne eine Zusammenarbeit mit den Besatzern und ließ seine Enkel nicht mehr zur Schule gehen. Nachdem er bei seinen Besuchen in Wischegrad eingesehen hatte, dass die Umwälzungen nicht aufzuhalten waren, vermied er es, Crntscha zu verlassen.

Der dreiundzwanzigjährige Gregor Fedun aus Ostgalizien gehörte zur Brückenwache, als drei Tage lang ein nur leicht verschleiertes Mädchen nach Wischegrad und wieder zurück ging und ihm den Kopf verdrehte. Sie hieß Jelenka und war aus Tositschi. Am vierten Tag führte sie eine alte Frau, die eine Burka trug, in die Stadt. Als sich herausstellte, dass Jelenka auf diese Weise den gesuchten Hajduk Jakob Tschekrlija an der Brückenwache vorbeigeschmuggelt hatte, um ihm die Flucht über die Grenze nach Serbien zu ermöglichen, erschoss Gregor Fedun sich vor Scham.

Um die Jahrhundertwende wurden Ausbesserungsarbeiten an der Brücke über die Drina notwendig. Außerdem legte man eine Wasserleitung an, durch die Quellwasser aus den Bergen oberhalb von Kabernik über die Brücke in die Stadt floss. Dann begann der Bau einer Eisenbahnlinie. Dadurch wurden die Fuhrleute arbeitslos, die bis dahin nach Sarajewo gefahren waren. Weil die Schmalspurbahn am linken Ufer der Drina entlangfuhr und die Verbindungen von Wischegrad nach Osten und Westen durch die politischen Ereignisse abgeschnitten wurden, verlor die Brücke ihre Bedeutung als Verbindung von Orient und Okzident, Islam und Christentum.

[…] jetzt verband die Brücke in der Tat nichts anderes denn zwei Teile der Stadt und jenes Dutzend Dörfer zu beiden Seiten der Drina. (Seite 303)

1903 kam es in Serbien zu einem gewaltsamen Umsturz. Fünf Jahre später annektierte Kaiser Franz Joseph Bosnien und die Herzegowina. Weil die Balkanstaaten sich nicht über die Aufteilung ihrer Eroberungen einigen konnten, kam es 1913 zum Krieg zwischen den bisherigen Bündnispartnern. [mehr über die Entwicklung auf dem Balkan von 1903 bis 1914]

Noch ehe sich die Schreibkundigen in den widersprechenden Zeitungsnachrichten zurechtfanden, war der Krieg zwischen der Türkei und den vier Balkanstaaten schon ausgebrochen und zog seinen uralten Weg über den Balkan. Noch ehe aber das Volk Sinn und Umfang des Krieges recht erfasst hatte, war er bereits durch den Sieg der serbischen und christlichen Waffen beendet. Alles dies geschah fern von hier […] Wie beim Geld und im Handel, verlief auch bei diesen größten Dingen alles in der Ferne und unfassbar schnell. (Seite 301f)

Das Hotel der jüdischen Familie Zahler gehörte zu den größten Gebäuden in Wischegrad. Es lag unmittelbar in der Nähe der Brücke über die Drina. Inoffiziell nannte man es „Lottikas Hotel“, weil nicht der phlegmatische Zahler, sondern dessen verwitwete Schwägerin Lottika den Ton angab. 1885 hatte es seinen Höhepunkt erlebt. Nach der Abholzung des Waldes von Wischegrad waren die Holzfäller weitergezogen. Inzwischen stand „Lottikas Hotel“ zumeist leer, zumal ein neues Konkurrenzunternehmen mehr Zuspruch fand, weil man sich dort Prostituierte aufs Zimmer bestellen konnte. Dazu kamen familiäre Sorgen. Eine davon betraf Lottikas Neffen Albert. Trotz eines hervorragenden Schul- und Universitätsabschlusses erhielt er wegen seiner jüdischen Herkunft nicht den kaiserlichen Ring. Seine Tante hoffte, er werde sich wenigstens als angesehener Rechtsanwalt in Wien oder Lemberg etablieren, aber er wurde Journalist und trat der Sozialistischen Partei bei. Schließlich wurde Dr. Albert Apfelmaier in Wien als Aufwiegler zu zwanzig Tagen Haft verurteilt und aus Wien ausgewiesen. Er emigrierte nach Buenos Aires.

Nikola Glasintschanin schlug 1914 der mit ihm befreundeten Lehrerin Zorka vor, ihn zu heiraten und mit ihm in die USA auszuwandern. Doch bevor er seinen Plan verwirklichen konnte, beschwor das Attentat von Sarajewo einen neuen Krieg herauf und Nikola ging mit Wlado Maritsch und noch zwei Gleichgesinnten nach Serbien, um gegen Österreich zu kämpfen.

Die richtige Hetze gegen die Serben und alle, die mit ihnen in Verbindung standen, begann erst jetzt. Die Menschen zerfielen in Verfolgte und Verfolger. Jenes hungrige Tier, das im Menschen lebt und sich nicht zeigen darf, solange nicht die Dämme der guten Sitten und der Gesetze entfernt werden, war jetzt befreit. Nun war das Zeichen gegeben, die Dämme weggeräumt. Wie oft in der menschlichen Geschichte waren Gewalt und Raub, ja auch der Mord, stillschweigend zugelassen, unter der Bedingung, dass sie im Namen höherer Interessen, unter festgelegten Losungen und gegen eine begrenzte Zahl von Menschen eines bestimmten Namens und einer bestimmten Überzeugung verübt wurden. (Seite 378)

Als die Österreicher Männer in Wischegrad ausheben wollten, meinte Alihodscha im Gespräch mit anderen Moslems:

„Schon lange kümmert sich niemand um uns und unsere Meinung. Der Schwabe ist nach Bosnien gekommen, und weder Sultan noch Kaiser haben uns gefragt: ‚Ist es gestattet, ihr Begs und türkischen Herren?‘ Dann haben sich Serbien und Montenegro, bis gestern noch Raja, erhoben und das halbe Türkische Reich fortgenommen, und uns hat niemand auch nur eines Blickes gewürdigt. Und jetzt bekriegt der Kaiser von Österreich Serbien, und wiederum fragt uns niemand. Man will uns einfach ein paar Gewehre und schwäbische Uniformen geben, damit wir für die Schwaben Zutreiber spielen. Sie wollen uns die Ehre erweisen, dass wir für sie die Serben verfolgen, damit sie sich nicht selbst in den Bergen herumschlagen müssen.“ (Seite 381f)

Die Brücke über die Drina wurde zehn Tage lang mit Haubitzen beschossen. Sie hielt stand. Doch bevor die Österreicher vor den Serben wichen, sprengten sie den siebten Pfeiler, und die Brücke über die Drina brach zwischen dem sechsten und achten Pfeiler zusammen.

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Ivo Andric (1892 – 1975), ein serbischer Schriftsteller bosnischer Herkunft, der 1961 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, stellt in diesem Roman nicht eine Figur, sondern „die Brücke über die Drina“ ins Zentrum und schildert in vierundzwanzig Kapiteln Legenden und Episoden, die auf der Brücke oder in der unmittelbaren Umgebung spielen. Dabei wechselt Ivo Andric zwischen ernsten und humoristischen Begebenheiten und lässt etwa eine Groteske mit skurrilen Figuren auf eine grausame realistische Szene wie die Pfählung eines Bauern folgen. Der Roman „Die Brücke über die Drina“ ist eine Chronik vom Bau der Brücke im 16. Jahrhundert bis zu ihrer Sprengung im Ersten Weltkrieg. In den konkreten Ereignissen spiegelt sich die Geschichte des Balkans. Wir erleben sie aus der Sicht der Bewohner Wischegrads und der umliegenden Dörfer. „Die Brücke über die Drina“ verband das Morgen- mit dem Abendland; lange Zeit lebten hier Moslems, Christen und Juden friedlich zusammen. Die Zerstörung der Brücke war deshalb auch ein Menetekel.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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