Marcel Beyer : Flughunde

Flughunde
Flughunde Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1995
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Roman "Flughunde" beginnt mit einer gespenstischen Szene: Eine Großkundgebung wird in Berlin vorbereitet und geprobt. Techniker installieren und prüfen die Mikrofone und Lautsprecher. Amputierte in Rollstühlen, Blinde und Gehörlose werden an ihre Plätze im Publikum gebracht ...
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Kritik

"Flughunde" ist eine Collage, montiert aus zahlreichen zumeist kurzen inneren Monologen. Marcel Beyer schildert teils fiktive, teils historische Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und bringt den Niedergang der Humanität zum Ausdruck.
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Der Roman beginnt mit einer gespenstischen Szene: Eine Großkundgebung wird in Berlin vorbereitet und geprobt. Techniker installieren und prüfen die Mikrofone und Lautsprecher. Amputierte in Rollstühlen, Blinde und Gehörlose werden an ihre Plätze im Publikum gebracht. Da die Blinden beim „deutschen Gruß“ die Arme in unterschiedlichen Winkeln hochreißen, müssen sie von Hitlerjungen ausgerichtet werden. Die Tauben können zwar nichts hören, aber die gigantische Beschallungsanlage versetzt ihre Körper in Erschütterungen.

Wir steuern die Anlage aus: Die hohen Frequenzen für die Schädelknochen, die niedrigen für den Unterleib.

Bei einem Kindergeburtstag hörte Hermann Karnau zum ersten Mal eine Aufnahme seiner Stimme – und empfand das als erschreckend und faszinierend zugleich. Trotz oder wegen des Erlebnisses wurde er Tontechniker und beschäftigt sich nun intensiv mit der Aufzeichnung und Erforschung menschlicher Stimmen. Um die Zunge und die Entstehung verschiedener Laute untersuchen zu können, kauft der 30-Jährige beim Metzger Pferde- und Schweineschädel und seziert sie. Karnau ist davon besessen, die Stimme zu erforschen. Den Menschen betrachtet er als Umhüllung des einzig Wahren, der Stimme.

Kein Wunder, dass man jenes ungreifbare Etwas, das Seele genannt wird, in der menschlichen Stimme zu orten meint. Geformter Atem, Hauch: Das, was den Menschen ausmacht. So bilden die Narben auf den Stimmbändern ein Verzeichnis einschneidender Erlebnisse, akustischer Ausbrüche, aber auch des Schweigens.

In den extremsten Äußerungen, im Schreien, Krächzen, Wimmern kann man mitunter die Eigenheiten einer Stimme viel besser erkennen als im gesprochenen Wort …

Bei Großkundgebungen hat Hermann Karnau dafür zu sorgen, dass der Redner auf allen Plätzen gut zu hören ist. Joseph Goebbels ist mit seiner Arbeit sehr zufrieden, und als seine Frau Magda mit Heide niederkommt, vertraut er die fünf anderen Kinder – Helga, Hilde, Hellmuth, Holde, Hedda – vorübergehend Hermann Karnau an. Weil der ledige Forscher – der mit seiner Haushälterin und dem Hund Coco allein in seinem Haus lebt – keine Erfahrung im Umgang mit Kindern hat, übernimmt die achtjährige Helga, das älteste Kind, spontan die Mutterrolle für ihre jüngeren Geschwister.

Helga ist ein aufgewecktes Mädchen, und manche Frage, die sie an mich richtet, manches Wort, das sie benutzt, manche Bemerkung aus ihrem Munde klingt gar nicht so, als wenn sie von einem achtjährigen Mädchen stammte. Als wäre Helga schon viel älter, als stünde sie schon auf der Schwelle zum Erwachsenendasein, da man die Sprache und die Themen des Kindes bewusst abzustreifen sucht.

„Herr Karnau? Haben Sie auch so viele Geschwister wie wir?“, fragt Helga. „Nein. Ich gabe gar keine Geschwister.“ Sie bedauert ihn: „Dann waren Sie immer allein?“

Als die Kinder wieder nach Hause geholt werden, ist ihm die plötzliche Stille unangenehm.

Goebbels beauftragt Hermann Karnau, an der Front den feindlichen Funkverkehr aufzunehmen. Karnau nützt die Gelegenheit, um in einem Feldlazarett Tonbandaufzeichnungen von sterbenden Soldaten zu machen. Er wird zum „Stimmstehler“. Einer der nicht todkranken Patienten im Lazarett ist im Krieg erblindet (wie Hitler im Ersten Weltkrieg). Möglicherweise handele es sich nur um eine hysterische Erkrankung, meint Oberarzt Dr. Hellbrandt. Dessen Erfindung ist ein Gehörlosen-Bataillon, und er weist seinen Besucher darauf hin, dass Taube selbst bei extremer Geräuschbelastung eingesetzt werden können.

Die meisten sind zudem Geheimnisträger, da auch bei Anwendung verschärfter Verhörmethoden nie die Gefahr besteht, dass sie im Affekt Informationen und geheime Ziele preisgeben, die dem Feind dienlich sein könnten.

Einmal schickt Magda Goebbels die Kinder zu einem Überraschungsbesuch ins Büro des Vaters. Da bemerkt Helga durch die angelehnte Tür im Nebenraum eine Frau. Später ist Helga sich nicht mehr sicher, ob sie Brüste und Schamhaare wirklich gesehen oder es sich nur eingebildet hat. Auf jeden Fall handelt es sich um eine bekannte Opernsängerin. Helga denkt darüber nach, ob ihr Vater eine Geliebte hat und ob ihre Mutter davon weiß.

Im Rahmen einer von Professor Sievers geleiteten Veranstaltung im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden hält Hermann Karnau einen Vortrag über Sprachhygiene. Danach spricht ihn Dr. Stumpfecker an, der Begleitarzt des Reichsführers-SS, und eröffnet ihm, dass er zum Leiter einer Sonderforschungsgruppe ernannt werden soll.

In brutalen Menschenversuchen unterzieht Hermann Karnau seine Opfer Verhören, bis sie zusammenbrechen oder reizt ihren Kehlkopf mit elektrischen Stromstößen. Verlieren die Probanden das Bewusstsein, werden sie „wach geschlagen“. Zwischen den Versuchen vegetieren sie in ihrem Gefängnis dahin und sind zu schwach, beim Verrichten ihrer Notdurft aufzustehen.

Genau jenen letzten, ganz schwachen Laut galt es hervorzukitzeln, um ihn aufzeichnen zu können.

Helga und Hilde begleiten ihre Mutter am 18. Februar 1943 zu einer Massenkundgebung ihres Vaters im Berliner Sportpalast.

Ein anderes Mal dürfen die Goebbels-Kinder die Flughunde sehen, die Herr Moreau, ein Jugendfreund Hermann Karnaus, vor vier Jahren aus Madagaskar mitgebracht hat.

Bei einer Rundfunkübertragung hört Helga, wie ihr Vater sagt, im Fall einer Niederlage des Deutschen Reiches habe die Welt keine Daseinsberechtigung mehr, „ja, das Leben in ihr wäre schlimmer als die Hölle“; zu leben lohne sich dann nicht mehr, weder für ihn noch für seine Kinder. „Mama, wie ernst meint Papa das?“, fragt Helga. „Würde er sich dann töten wollen? Und seine Kinder? Das sind doch wir.“ Aber Magda Goebbels antwortet nicht.

Verzweifelt versucht Herr Moreau, seine Flughunde mit Blutwurststückchen am Leben zu halten, aber sie wollen nicht mehr fressen und verenden. Am 14. Februar 1945 kommt er selbst durch einen Bombentreffer auf sein Haus ums Leben.

Eine Sondereinheit beendet schließlich die Arbeit der Sonderforschungsgruppe, indem sie die Versuchspersonen in einer Ecke zu einem Haufen auftürmt, mit medizinischem Alkohol überschüttet und mitsamt der Baracke niederbrennt.

Im April 1945 holt der als neuer Leibarzt des „Führers“ berufene Dr. Stumpfecker Hermann Karnau in den Bunker unter der zerstörten Neuen Reichskanzlei in Berlin. Dort soll der Tontechniker Stimmaufnahmen von Hitler anfertigen, dessen körperlicher Verfall rasch fortschreitet. Ab 24. April verweigert der Patient jede andere Nahrung als feine Schokolade, „die sich im Mund sehr langsam auflöst, ohne dass man sie kauen, ohne dass die Zunge sie lutschen oder zermahlen müsste“.

Die Entlüftungsanlage des Bunkers funktioniert mangelhaft. Die Luft wird immer schlechter.

Am 29. April testet Stumpfecker die tödliche Wirkung der zur Verfügung stehenden Zyankali-Ampullen an Hitlers Schäferhündin Blondi. –

Im Juli 1992 stößt man im städtischen Waisenhaus in Dresden auf ein bis dahin unbekanntes Schallarchiv. In einer Kartei über das Personal des Archivs wird der Name des Wachmannes Hermann Karnau gefunden.

Karnau erweist sich nicht nur als recht gesprächig, er verfügt auch über ein Fachwissen, das seinem Status als Wachmann gar nicht entspricht.

Bei der Überprüfung der Räumlichkeiten entdeckt man auch einen gekachelten, neonbeleuchteten Raum mit einer Mikrofonanlage über einem Operationstisch. Die Gurte sind blutverklebt, und es sieht so aus, als ob die letzten Blutspuren erst wenige Wochen alt seien. Doch bevor Hermann Karnau dazu befragt werden kann, hat er die Stadt mit unbekanntem Ziel verlassen.

Hermann Karnau hört sich alte Aufnahmen aus dem Schallarchiv an. Darunter sind auch welche von den Goebbels-Kindern im „Führerbunker“. Er hört, wie Hedda fragt: „Dürfen wir denn wieder aus dem Bunker raus, wenn die Erdbeeren reif sind? Dann können wir sie selber pflücken.“ Da läuft Magda Goebbels in den angrenzenden Raum, aber ihr Schluchzen ist durch die Eisentür zu hören. –

Magda und Joseph Goebbels nahmen sich am 1. Mai 1945 das Leben. Unmittelbar zuvor wurden ihre sechs Kinder vergiftet, und Hermann Karnau wundert sich, wieso er nichts von den Vorbereitungen merkte.

Wenn schon die Kinder nichts von der bevorstehenden Tötung wissen konnten, warum ist dann nicht wenigstens mir als Erwachsenem, als jemandem, der mit den restlichen Bewohnern in ständigem Kontakt stand und der manches offene Gespräch führen oder zumindest mithören konnte, nichts von den Vorbereitungen der Ermordung zu Ohren gekommen?

Anhand der Aufnahmen und seiner Kenntnis von Zeugenaussagen versucht Hermann Karnau sich ein Bild davon zu machen, wie die Kinder getötet wurden. Offenbar wurde ihnen von einem Arzt Morphium injiziert, nachdem Magda Goebbels sie beruhigt hatte: „Kinder, habt keine Angst, der Doktor gibt euch jetzt eine Spritze, die nun alle Kinder und Soldaten bekommen.“ Danach bat sie Dr. Stumpfecker, ihr bei der tödlichen Vergiftung der Kinder zu helfen.

Auf einer der Wachsmatrizen mit den Aufzeichnungen hört Hermann Karnau das letzte Röcheln der Kinder.

War da ein Schrei? Ein kurzes Weinen? Dann bleibt nur das Atmen. Das Atmen von sechs Kinderlungen in versetztem Rhythmus. Es lässt an Intensität und Lautstärke nach. Schließlich ist gar nichts mehr zu hören. Es herrscht absolute Stille, obwohl die Nadel noch immer in der Rille liegt.

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Flughunde kommen nicht nur im Titel des Romans, sondern auch als Leitmotiv mehrmals vor. Flughunde, zur Gruppe der Fledermäuse gehörende Nachttiere, hören Ultraschallfrequenzen, die nicht einmal für Hunde wahrnehmbar sind, geschweige denn für Menschen.

„Flughunde“ ist eine Collage, montiert aus zahlreichen zumeist kurzen inneren Monologen, abwechselnd von Hermann Karnau und Helga Goebbels. Zum Teil laufen die Passagen parallel; häufig bilden die verschiedenen Perspektiven aber auch Gegensätze. Die Sprache wechselt zwischen Helgas kindlichen Gedankengängen und Karnaus gefühllosen Überlegungen. Im 7. Kapitel schaltet sich vorübergehend ein auktorialer Berichterstatter ein.

Marcel Beyer schildert teils fiktive, teils reale Ereignisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und bringt den Niedergang der Humanität auf eindrucksvolle Weise zum Ausdruck. Zahlreiche Parallelen wie etwa die unmenschlichen Experimente verweisen auf historische Tatsachen. Vor allem im letzten – beklemmend authentisch wirkenden – Kapitel werden wir Zeugen einer Entwicklung, die mit der Hoffnungslosigkeit von Magda Goebbels und der Vergiftung ihrer sechs Kinder endet.

„Flughunde“ wäre schon allein als Parabel auf die Verirrungen einer zum Selbstzweck gewordenen Wissenschaft ein beeindruckender Roman. Doch hat Beyer die Geschichte dieser monströsen Klangforschung verknüpft mit dem Schicksal der sechs Goebbels-Kinder, die in den letzten Kriegstagen von ihrer eigenen Mutter im Führerbunker ermordet wurden.
Marcel Beyers „Flughunde“ […] ist der definitive Roman über die Verblendung des Intellektuellen im Nationalsozialismus und über die Frage nach der Schuld und Mitschuld. Nach vielen, vielen Versuchen ist das der schulbuchreife Roman über die Geisteshaltung, die Hitler so lange triumphieren ließ: die von jeder Moral befreite Moderne. (Richard Kämmerlings: Das kurze Glück der Gegenwart. Deutschsprachige Literatur seit ’89)

Einige der Figuren sind mit historischen Personen assoziiert. So gab es die Kinder von Magda und Joseph Goebbels: die 1932 geborene Helga, Hilde (1934), Hellmuth (1935), Holde (1937), Hedda (1938) und Heide, mit deren Geburt im Oktober 1940 das 2. Kapitel beginnt. Ein Mann namens Hermann Karnau war Wachmann im „Führerbunker“ unter der Neuen Reichskanzlei in Berlin und soll den Alliierten gegenüber Hitlers Tod bezeugt haben. Aber die historischen Personen dienen nur als Projektionsflächen für Marcel Beyers Ideen. Die Namen von Adolf Hitler und Joseph Goebbels werden übrigens an keiner Stelle explizit genannt.

Marcel Beyer (*1965) studierte Germanistik, Anglistik und Literaturwissenschaften. 1991 erschien sein Debütroman „Das Menschenfleisch“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002 / 2011
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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