Eva Menasse : Quasikristalle

Quasikristalle
Quasikristalle Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013 ISBN: 978-3-462-04513-0, 430 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Im ersten Kapitel ist Xane noch eine Schülerin, im letzten wird sie zum zweiten Mal Großmutter. Wir erleben Xane in verschiedenen Rollen: als Tochter, Freundin, Schülerin, Studentin, Mieterin, Unternehmerin, Ehefrau, Stiefmutter, nach einer In-vitro-Fertilisation, in ihren Beziehungen zu anderen Männern, in ihrer Angst vor dem Alter und in ihrer Konkurrenz zu jüngeren Frauen ...
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Kritik

In ihrem Roman "Quasikristalle" beleuchtet Eva Menasse den Charakter und das Leben der Protagonistin in 13 Geschichten, in denen diese meistens nur als Nebenfigur vorkommt.
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1

Roxane („Xane“) Molin und ihre Freundin Judith Baer verachten ihre schüchterne Mitschülerin Claudia Denneberg, schleppen sie jedoch „als gutmütigen, dienstbaren Satelliten mit sich herum“. In diesen Sommerferien nehmen sich Xane und Judith vor, die Schule zu wechseln, und es gelingt ihnen, das Einverständnis ihrer Eltern dafür zu bekommen.

Kurz darauf, noch vor dem Ende der Sommerferien, freundet sich die Bäckertochter Judith mit Doris („Dodo“) an, der Stieftochter eines bekannten Theaterregisseurs, die sich für bisexuell hält und verspricht, über ihren Stiefbruder exquisites Haschisch zu besorgen. Als Dodo sich abschätzig über Xane äußert und sie als Spießerin bezeichnet, pflichtet Judith ihr zu.

Claudia, für die kein Schulwechsel geplant ist, klagt eines Nachts über starke Kopfschmerzen. Ihre Mutter Lizzie holt etwas in der Notfallapotheke, aber als sie zurückkommt, ist Claudia bereits tot. Sie starb an einem Gehirnschlag.

2

Professor Hugo Bernays springt für den erkrankten Holocaust-Überlebenden Rozmburk ein und fliegt nach Wien, um mit den Teilnehmern eines Exkursionsseminars nach Auschwitz zu fahren. Weil eine Sekretärin der Organisation voreilig Professor Rozmburks Erkrankung bekanntgab, sind von den 30 Interessenten nur sieben gekommen, sieben Leute, die offenbar weder Zeitung lesen noch Nachrichten hören. Die Gruppe reist mit dem Zug nach Auschwitz.

Hugo Bernays wurde als Sohn des ehemaligen Partisanen Jan Biernacki und einer jüdisch-österreichischen Mutter in Polen geboren, besitzt aber einen britischen Pass. Seit 15 Jahren schläft er mit Pauline, der Enkelin eines Rabbiners und Tochter eines Kantors, obwohl sie inzwischen längst mit seinem besten Freund verheiratet ist, mit Andrej Sussman. Hugo sei kein Familienvater und Andrej kein Liebhaber, erklärte Pauline einmal, aber sie benötige beides. Ihre Tochter Ophélie feiert in Kürze die Bat Mitzwa.

Unter den Teilnehmern des Exkursionsseminars befindet sich Xane Molin, von der es heißt, sie sei eine Nichte Rozmburks. Sie erklärt jedoch, sie sei nicht mit ihm verwandt, sondern eine Art Patenkind des Professors.

Hugo Bernay und Xane Molin kommen sich in Auschwitz näher und bleiben auch danach in Kontakt. Zwei Jahre später erzählt Xane ihm, dass sie heiraten werde.

3

Der Diplomingenieur Ludwig Tschoch lebt mit seiner Ehefrau Hannelore und der Tochter Suzanne in einem Wiener Mietshaus, das ihm gehört.

In Käfigen auf dem Dachboden hält der Kryptofaschist Frettchen, von denen eines Adolf heißt. Dort oben hat er eine Spiegelscherbe versteckt, mit der er die Dachrinnen und Balkone kontrollieren kann. Kurz nachdem die neue Mieterin Xane Molin eingezogen ist, sieht er sie nackt auf dem Küchenbalkon in der Sonne liegen. Und auf ihrem Namensschild entdeckt er schließlich einen zweiten Namen: Imre Bonami.

Als Xane ihn darum bittet, die Grödner Jesus-Figur in seiner Wohnung fotografieren zu dürfen, schlägt er einen Tag vor, an dem Hannelore mit dem Kirchenchor in Greifenstein sein wird. Weil es bei dem schlechten Wetter jedoch in der Wohnung zu dunkel ist, gehen sie mit der Figur auf den Dachboden.

Einige Zeit später beobachtet Ludwig Tschoch, wie Xane mitten in der Nacht den Namen Imre Bonami auf ihrem Schild mit Folie überklebt. Ein halbes Jahr später kündigt sie die Wohnung und zieht aus.

Aber er sieht sie noch einmal im Fernsehen, als ihr „Film ohne Worte“ gezeigt wird. Seine inzwischen hochschwangere Tochter macht ihre Mutter darauf aufmerksam, dass in dem Kurzfilm die Jesus-Figur zu sehen sei und schließt daraus, dass ihr Vater sie der damaligen Mieterin gezeigt habe.

Und dann sah seine Familie der früheren Mieterin zu, wie sie sich gestikulierend und schrill, im Grunde wie sein hungrig-zorniger Adolf, gegen den Vorwurf der Nestbeschmutzung verteidigte und dabei verrückte, übertriebene Dinge sagte, diesen üblichen linken Schmafu, dass sie diese Mozartkugel-Seligkeit satt habe, dieses Selbstgefällige und Geschichtslose, weil sich die meisten Österreicher immer noch weigerten, sich an die Verbrechen zu erinnern, die direkt vor ihrer Haustür, ja vor ihren Augen stattgefunden hätten, stattdessen bekreuzigten sie sich und fütterten fröhlich ihre Frettchen.

4

Xane befindet sich unter den Gästen einer Vernissage in Berlin. Im Waschraum trifft sie auf Judiths jüngere Schwester Salome („Sally“), die bei der von den Veranstaltern beauftragten Catering-Gesellschaft jobbt und von einem Engagement als Schauspielerin bei der Volksbühne träumt.

Sally wundert sich darüber, dass Xane so tut, als sei sie in der Schulzeit ihre Freundin gewesen. Die Geschäftskarte, die ihr die Betreiberin einer alternativen Marketing-Agentur in Berlin in die Hand drückt, wirft sie weg, aber Xane erkundigt sich am nächsten Vormittag nach ihr und ruft sie an.

Wenn Sally nicht zu Hause ist, vertraut sie ihre vierjährige Tochter der Nachbarin Frau Hilpert an. Manchmal träufelt sie dem Kind aber auch drei Tropfen Diazepam auf ein Zuckerstück, um mit Xane um die Häuser ziehen zu können. Xane übernimmt dann beiläufig die Rechnungen. Sie ist mit Professor Moritz („Mor“) Braun verheiratet. Seinetwegen zog sie von Wien nach Berlin. Lisa, Mors erste Ehefrau, verschwand in einem Ashram in Indien, als die kleinere der beiden Töchter noch Windeln trug.

Sallys Mutter erhängte sich vor zwei Jahren [Suizid].

Eines Abends nimmt Sally einen Mann aus einer Bar mit nach Hause und raucht mit ihm einen Joint. Als sie wieder zu sich kommt, beugen sich Frau Hilpert und Mor Braun besorgt über sie. Der Fremde, bei dem es sich offenbar um einen Junkie handelt, schlug Sally zusammen. Zur Sicherheit lässt Xane die Schlösser an Sallys Wohnung auswechseln und quartiert die Freundin samt ihrer Tochter vorübergehend bei sich und ihrer Familie ein. Außerdem setzt sie sich bei dem Musikagenten Johannes Dammaschke dafür ein, dass Sally zum Vorsingen eingeladen wird.

5

Die Gynäkologin Heike Guttmann ärgert sich über den Finanzberater Abdul Özkan. Während dessen Ehefrau, die ihren Mädchennamen Klopfer beibehalten hat und als Juristin in einem Unternehmen tätig ist, nach der Entnahme einiger Eizellen noch betäubt nebenan liegt, weigert er sich unerwartet, für die geplante künstliche Befruchtung in einen Becher zu ejakulieren: Weil er sich mit seiner Frau stritt, sind ihm Zweifel gekommen.

Im Alter von 16 Jahren war Heike Guttmann wegen eines geplatzten Kondoms schwanger. Ihre Mutter bestand auf einer Abtreibung und fuhr deshalb mit ihr nach Holland. Heikes Ehemann Manfred weiß davon nichts, und ihre Mutter ist inzwischen dement.

Die Gynäkologin steht den gesetzlichen Regelungen für die künstliche Befruchtung kritisch gegenüber:

In Deutschland […] wirkt der Holocaust fort und fort, ethisch jedenfalls, jede Entscheidung wird darauf bezogen, alles Tun muss sich vom Tun der Nazis maximal unterscheiden. Deshalb dürfen die Gynäkologen zwar künstlich befruchten, aber gewissermaßen blindlings, mit einer Augenbinde, damit auf keinen Fall ein Eindruck von Selektion entsteht. Weshalb sie, um halbwegs vergleichbare Erfolgsquoten zu haben, mehr befruchtete Eizellen zurücksetzen als in anderen Ländern. So zwingt man die Frauen zu unnötig vielen Mehrlingsschwangerschaften.

Bei ihrer nächsten Patientin handelt es sich um die Fernsehjournalistin Xane Molin. Vor zwei Jahren kam sie erstmals in die Praxis, weil sie nach einer Eileiterschwangerschaft und der entsprechenden Operation vergeblich versucht hatte, ein Kind zu bekommen. Jetzt ist sie Mitte 30 und nach einer In-vitro-Fertilisation endlich schwanger.

Nach Xane Molin holt Heike Guttmann Frau Harnik-Schwartz in den Behandlungsraum. Bei der Untersuchung stellt sie fest, dass der Embryo abgestorben ist. Nachdem sie der Patientin das Ergebnis so schonend wie möglich mitgeteilt hat, schreibt sie ihr eine Überweisung für die Klinik aus, in der der Abortus durchgeführt werden soll.

Durchs Fenster sieht Heike Guttmann anschließend, wie Frau Harnik-Schwartz auf dem Parkplatz einen Golfschläger aus ihrem Kofferraum holt und damit wahllos auf andere Autos einschlägt.

6

Nelson hat seine ganze Familie bei einem Gemetzel in einem Bürgerkrieg verloren. Jetzt ist er als Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag tätig, lebt jedoch die meiste Zeit in London. Eines seiner Augen ist braun, das andere blau.

Als er einen Freund in Berlin besuchen möchte, bleibt der Linienbus mit einem Motorschaden liegen. Eine Frau, die sich mit ihm auf Englisch verständigen kann, lässt sich die Adresse des Freundes auf einem Zettel zeigen und erkundigt sich beim Busfahrer nach dem Weg. Dann nimmt sie Nelson mit zur nächsten U-Bahn-Station und erklärt ihm, welche Linie er nehmen muss.

Einige Monate später, als Nelson erneut ein paar Tage in Berlin verbringt, sieht er die Frau wieder. Sie steht vor der Kasse eines Kaffeegeschäfts und sucht vergeblich nach ihrem Portemonnaie, um den Becher Kaffee bezahlen zu können, den sie in der Hand hält. Nelson hilft ihr aus. Sie entschuldigt sich, dass sie ihn damals nicht erkannte. Erst als sie sein Foto am nächsten Tag in der „Zeit“ sah, begriff sie, mit wem sie zur U-Bahn-Station gegangen war. Sie heißt Xane.

Von da an telefonieren Xane und Nelson immer wieder miteinander, aber seine Handynummer vertraut er ihr nicht an. Wenn sie mit ihm sprechen möchte, muss sie seine Agentin Vivian Rear anrufen.

Als Nelson erfährt, dass sein Freund schwer krank ist, eilt er nach Berlin, kommt jedoch zu spät. Der Freund ist bereits tot. Nelson verabredet sich mit Xane in seinem Hotel, und statt zu ihr in die Halle hinunter zu gehen, lässt er sie heraufkommen. Mit seinem Freund sei alles in Ordnung, lügt er.

Nelson, ich möchte dich etwas fragen.
Hm?
Hast du jemals darüber nachgedacht, abzuschließen? Ich meine, das Vergangene vergangen sein zu lassen? Wir Menschen vergessen alle, früher oder später, aber vielleicht muss man das zulassen, als einen natürlichen Prozess?
Du meinst, ich soll die Toten in Ruhe lassen und nicht dauernd den Deckel heben und nachschauen, ob sie noch tot sind?
Entschuldige. Es ist wohl die falsche Frage.
Gar nicht, Xane, es ist eine gute Frage. Und ich habe sie mir oft gestellt. Aber so, wie du es formulierst, klingt es aktiv. Es ist aber passiv. Es passiert, so oder so. Manche lassen früher los, andere nie. Ich glaube, darum kann man sich nicht bemühen.

Beim Verlassen des Hotels stolpert Xane auf der Treppe und fällt hin. Nelson, der in der Halle zurückgeblieben ist, sieht es durch die Drehtür und läuft hin. Nachdem Xane aufgestanden ist, fallen sie sich in die Arme. In diesem Augenblick hält in der Nähe ein Bus, und eine Gruppe Schüler steigt aus.

7

Xane lernte Mor bei einer Filmpremiere in Duisburg kennen. Er war damals noch mit einer neurotischen, an Bulimie leidenden Frau verheiratet, die sich in einen Ashram in Indien zurückgezogen hatte. Ihre Mutter Anke zog eigens von Recklinghausen nach Berlin und kaufte sich dort eine Wohnung, um sich mit ihrem Schwiegersohn in der Erziehung der beiden Enkelinnen Emmy und Viola abwechseln zu können. Dann nahm sie einen Anwalt und machte Mor durch Eingaben beim Jugendamt und Familiengericht das Sorgerecht streitig.

Inzwischen hat Xane außer den beiden Stieftöchtern auch einen künstlich gezeugten Sohn namens Amos.

Solange die Kinder klein sind, lebt man in einem anderen Universum, Lichtjahre entfernt von Spiel, Spaß und Egozentrik.

Ich lebe so, wie ich es immer wollte. Ich habe nicht mehr, wie in den ersten Jahren, beim Einschlafen Herzrasen, weil dieses alltägliche Pasticcio aus Unordnung, Geschrei, Fieberzäpfchen, Fischstäbchen, Brechdurchfall, Sand auf dem Sofa, Lego im Bad, nutellaverschmierten Handtüchern und der Selbstverpflichtung, die Nachmittage mit lähmend langweiligen Spießern zu verbringen, nur weil sie ebenfalls Kleinkinder haben, mich zu erschlagen drohte wie eine Grabplatte. Der einzige echte Ausweg, als Rabenmutter bei Nacht und Nebel nach Australien, im Flugzeug schluchzend an ein Päckchen Kreditkarten geklammert, war so realistisch, wie sich den Arm abzuhacken.
Um sich halbwegs menschenwürdig zu fühlen, braucht es inzwischen nur ein gewisses Organisationstalent. Gegen Bares passen die größeren Kinder abends auf die kleineren auf, und selbst ein paar erschöpfte Tage Wellness zu zweit sind drin, wenn man Wochen vorher den Schnäppchen-Flug für eine Großmutter bucht. Oder wenn die schwulen Freunde unversehens Lust auf ein Brutpflege-Wochenende haben, das sie aber erst langfristig in ihrem Businessplan unterbringen müssen.
Spontaneität wird ohnehin überschätzt.

Wir sind ehrgeizig und wollen unsere Sache gut machen, egal, ob die Sache gerade Beruf, Kindererziehung, Selbstbeherrschung oder Zubereitung eines mehrgängigen Abendessens heißt.

Wenn Xane zu etwas entschlossen war, dann machte sie es hundertprozentig.

Frauen haben ein Ablaufdatum, Männer nicht. Das lässt sich beweisen. Zum Beispiel damit, dass Männer auf Kontaktanzeigen mindestens zehn Mal so viele Zuschriften bekommen. […] dem siebzigjährigen Witwer schreiben auch fünfzigjährige Damen, umgekehrt aber leider nicht. […]
Durch ganz Europa ziehen Grüppchen von eisgrauen Frauen in freundlich bunten Stoffen, sie aquarellieren vor der Akropolis, sie diskutieren über Alice Munro, sie pflegen ihr philharmonisches Abonnement. Sie sind stark und unabhängig, klug und lebenstüchtig […]
Früher hat man mit Sicherheit den Falschen, weil den Allersten geheiratet, aber man musste zusammenbleiben. Dafür sorgte eisern die Konvention. Heute kann man wählen und sich immer wieder trennen, doch für das Alter ist nicht mehr vorgesorgt.

Xane besucht ihre Freundin Krystyna in Wien. Krystyna ist seit 13 Jahren mit Richard verheiratet, einem Mann, den Xane noch länger kennt als sie. Vor bald 25 Jahren, als sie Mitte 20 waren, reisten Xane und Richard viel, beispielsweise in Afrika. Während sie Fotos und Filme machte, schrieb er Reportagen. Aber die beiden waren immer nur befreundet und niemals ein Paar. Krystyna und Richard haben zwei Kinder. Obwohl Krystyna nicht daran denkt, ihre Familie aufzugeben, hat sie sich in einen anderen Mann verliebt und verabredet sich mit ihm in einer Woche auf einer Tagung.

Trotzdem wird jedes Paradies irgendwann zum Käfig.

Mor wird wegen Viola in die Schule bestellt. Xane begleitet ihn. Die Lehrerin macht sich Sorgen, weil die 14-jährige Schülerin Mitglied einer Clique ist, in der Haschisch konsumiert wird. Einige Mitglieder wurden auch schon bei einem U-Bahn-Run gesehen. Bei dieser Mutprobe stellt sich jemand vor der einfahrenden U-Bahn aufs Gleis, lässt ein Handy-Foto knipsen und springt im letzten Augenblick von den Schienen.

8

Ein Schüler namens Theo überredet Viola zu einem U-Bahn-Run. Sie schwänzt häufig die Schule und fälscht dann Entschuldigungsschreiben ihres Vaters. Das macht sie auch, um sich mit ihrer kürzlich aus Indien zurückgekehrten Mutter Lisa im Park treffen zu können. Anders als Viola lehnt ihre Schwester Emmy die Kontaktaufnahme mit Lisa ab.

Als Viola mit ihrer Clique unterwegs ist und aus einem Bus steigt, sieht sie ihre Mutter, von der sie annahm, dass sie in Hamburg zu tun habe, vor dem Eingang eines Hotels. Xane umarmt gerade einen deutlich älteren und kleineren Mann, den Viola nicht kennt. Zu Hause weist Viola ihren Vater darauf hin, dass ihre Stiefmutter ihn betrüge. Allerdings verschiebt sie den Zeitpunkt ein wenig, weil er nicht wissen soll, dass sie die Schule schwänzte. Zu der angegebenen Zeit war Xane bereits auf dem Weg nach Hamburg. Mor nimmt deshalb an, dass Viola sich täuschte, und Xane klärt die Zusammenhänge nicht auf, obwohl sie nun weiß, dass ihre Stieftochter die Schule schwänzt.

9

Martin Kummer wohnt mit seiner Ehefrau Sabina und der Tochter Annalena im Berliner Stadtteil Lankwitz. Vor fünf Jahren wechselte er von einer großen Marketing-Agentur zu ROX, der Agentur von Xane Molin, einer Filmemacherin, die als junge Frau an einer Dokumentation über den Widerstandskämpfer Rozmburk mitgearbeitet hatte und mit ihrem Unternehmen eine Gratwanderung zwischen Kommerz und Subversion versucht.

Ihre Waffe war ihr loses Maul. Anders als die meisten nahm sich Frau Molin das Recht, alles zu beurteilen und zu kommentieren. Darin fühlte sie sich völlig frei von Konventionen oder Höflichkeit. Ihr innerer Kompass war beneidenswert. Während andere schwankten, wie dies oder jenes zu bewerten sei, hatte sie Urteil und Begründung schon stichfest zur Hand.

Nachdem die Unternehmerin ihren Mitarbeiter zur Kündigung gedrängt hat, lässt Martin Kummer im Gespräch mit Sabina kein gutes Haar an ihr.

10

Kurt Molin, der Vater von Xane und Albert, lebt in einem Seniorenheim. Helga, die Mutter, ist schon lange tot. Albert, der als Kardiologe praktiziert und an der Universität lehrt, wohnt eine Viertelstunde von Kurt entfernt, besucht ihn aber auch nicht häufiger als Xane, die dazu aus Berlin anreisen muss. Alberts Ehe mit Christiane ist gescheitert, aber er hat wieder eine feste Freundin.

Um Kurts Geburtstag zu feiern, kommen sowohl Albert als auch Xane zu Besuch. Xane bringt ihre Familie mit. Amos ist für seinen Großvater nach wie vor eine Enttäuschung: ein schlaffer, melancholischer Junge.

11

Sally und Krystyna finden, dass Xane schon immer Wind um sich gemacht habe.

Ihr Glück wirkte immer größer als das der anderen.

Nach dem Abitur stürzte Xane sich auf die Tatsache, dass ihr jüdischer Vater von den Nationalsozialisten verfolgt worden war und fand dann auch zwei im Holocaust ermordete Großtanten. Seither verstand sie sich als jüdische Intellektuelle. Nachdem sie eine Reihe von Kunststudenten und Filmemachern mit gebrochenen Herzen zurückgelassen hatte und ihre Beziehung mit Imre Bonami gescheitert war, lernte sie Moritz Braun kennen, zog zu ihm nach Berlin und heiratete ihn nach seiner Scheidung. Ihre Stieftochter Viola war die Ursache großer Sorgen, als sie mit Drogen experimentierte und sich einer Sekte anschloss. Inzwischen promoviert Viola allerdings mit einem Stipendium für Hochbegabte.

Ein junger Komponist namens Torsten schickte Xane vor einiger Zeit demütig Filmmusiken. Krystyna verachtete Torsten, für sie war er ein Gescheiterter, aber Xane sah in ihm ein verkanntes Genie. Und ausgerechnet mit diesem erfolglosen Musiker ließ sie sich auf einen Seitensprung ein.

Als Sally und Krystyna von Mor erfahren, dass Xane im Krankenhaus liegt und es ihr schlecht geht, kümmern sie sich nicht weiter darum. Stattdessen wollen sie nach Ela sehen, deren Ehemann Henry Haburka vor fünf oder sechs Jahren starb.

12

Die Journalistin Shanti schrieb vor eineinhalb Jahren ein Buch über Pflegemissstände und Menschen, die ihre pflegebedürftigen Angehörigen möglichst unauffällig ermorden.

Nun ruft sie ein Fremder namens Kevin Glubkowski an, der sich aufgrund der durch das Buch ausgelösten Hexenjagd verfolgt fühlt, denn seine fast 90 Jahre alte Tante Mia starb zwei Wochen nachdem er sie aus dem Luxury Senior Resort Kirschblüte in Werder nach Hause geholt hatte. Kevin Glubkowski ist Prokurist eines Potsdamer Mittelstandsbetriebes und wohnt in Teltow; er hat zwei Kinder, aber seine Ehe wurde geschieden.

Als Kevin Glubkowski die Polizei anrief und meldete, er habe seine Tante tot auf dem Teppich liegend vorgefunden, lebte sie noch. Erst im Krankenhaus starb sie. Drei Monate zuvor hatte Ursina Morand, die Mitarbeiterin einer Schweizer Sterbehilfe-Organisation, noch mit Mia gesprochen, die sich präventiv in die Kartei hatte aufnehmen lassen.

Schließlich stellt sich heraus, dass die alte Frau am Splitter eines Hühnerknochens erstickte.

13

Amos, der inzwischen verheiratet ist und mit seiner Frau Nora eine Tochter namens Fanny hat, schreibt seiner Mutter Xane einen Brief. Er will verhindern, dass sie in ihrem Alter von Berlin nach Wien umzieht. Aber sie setzt ihren Willen durch und beginnt mit einem Partner ein neues Leben. Einige Zeit später erfährt sie, dass Amos und Nora ein zweites Kind erwarten.

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In ihrem Roman „Quasikristalle“ entwickelt Eva Menasse keine durchgehende Biografie der Protagonistin Roxane („Xane“), sondern erzählt 13 chronologisch angeordnete Geschichten aus ebenso vielen verschiedenen Blickwinkeln. Im ersten Kapitel ist Xane noch eine Schülerin, im letzten wird sie zum zweiten Mal Großmutter. Nur im 7. Kapitel, also genau in der Mitte des Buches, kommt Xane in der Ich-Form zu Wort; in den anderen Kapiteln taucht sie nur als Nebenfigur auf, und im 12. Kapitel gar nicht. Das letzte Kapitel von „Quasikristalle“ besteht aus Briefen und E-Mails, die Amos seiner Mutter Xane schreibt. Dadurch bleibt die Darstellung ausschnitthaft, und wir erleben Xane in verschiedenen Rollen: als Tochter, Freundin, Schülerin, Studentin, Mieterin, Unternehmerin, Ehefrau, Stiefmutter, nach einer In-vitro-Fertilisation, in ihren Beziehungen zu anderen Männern, in ihrer Angst vor dem Alter und in ihrer Konkurrenz zu jüngeren Frauen. Es geht in „Quasikristalle“ außerdem um Generationskonflikte, psychische Probleme, Drogenmissbrauch, Sekten und Sterbehilfe.

Die 13 Kapitel von „Quasikristalle“ lassen sich aber nicht nahtlos zu einem Bild zusammenfügen. Beim Lesen keimt mitunter der Verdacht auf, dass Eva Menasse eine Reihe verschiedener Kurzgeschichten so bearbeitet hat, dass immer mal wieder eine Figur mit Namen Xane auftaucht. Vermutlich täuscht dieser Eindruck.

Vielleicht kommt es Eva Menasse darauf an, mit der Struktur des Romans „Quasikristalle“ zu demonstrieren, dass es weder eine objektive Identität einer Person noch ein realitätsgetreues Abbild der Wirklichkeit gibt, sondern nur verschiedene Wahrnehmungen. Das Bruchstückhafte und Ungeordnete entspricht der Realität besser als die ganzheitliche Form.

Überzeugender wäre dieser Ansatz ausgefallen, wenn Eva Menasse den verschiedenen Figuren in „Quasikristalle“ charakteristische Sprechweisen verliehen hätte.

Ein Nachteil des eigentlich faszinierenden Konzepts besteht im Fehlen einer Identifikationsfigur.

Ijoma Mangold meint, dass es Eva Menasse in „Quasikristalle“ gelungen sei, „das Vergehen der Zeit selbst erfahrbar zu machen“.

Die Zeit ist dabei nicht ein abstrakter Begriff fern der Lebenswelt, sondern sie ist die konkrete und unentrinnbare Form, in der sich unser Leben darstellt. Alle Hoffnungen und alle Enttäuschungen, alle Unrast und alle Panik, aber auch alle Wahrheiten und alle Illusionen sind eine Funktion der Zeit. Eine unerwiderte Liebe ist deshalb eine Enttäuschung, weil es unwahrscheinlich ist, dass es eine zweite Chance geben wird. Eine Entscheidung hat deshalb Gewicht, weil sie nicht zu widerrufen ist. Unser Ehrgeiz drangsaliert uns, weil die Frist endlich ist, in der wir zeigen können, was in uns steckt. Und an unseren Freunden hängen wir, weil wir hoffen, dass sie uns die Treue halten, obwohl uns die Zeit verändert. Die Zeit ist gewissermaßen auf Schritt und Tritt im Kleinen das, was am Ende und abschließend der Tod ist. Die Zeit ist das Lebensgefühl schlechthin.
Das zu behaupten ist einfach. Es aber erzählend erfahrbar zu machen eine hohe Kunst.
(Ijoma Mangold: Alles ist eitel, „Die Zeit“, 14. Februar 2013)

Der Titel „Quasikristalle“ bezieht sich auf eine Entdeckung des israelischen Physikers Daniel Shechtman (* 1941) aus der ersten Hälfte der Achtzigerjahre, für die er 2011 den Nobelpreis erhielt. Während die Atome bzw. Moleküle in einem „normalen“ Kristall eine sich periodisch wiederholende Struktur bilden, ist dies bei Quasikristallen nicht der Fall. Ein periodisches Muster lässt sich so verschieben, dass jedes Element an die Stelle eines anderen rückt. Eine solche Parallelverschiebung ist bei Quasikristallen unmöglich. Dafür prägten Dov Levine und Paul Joseph Steinhardt die Bezeichnung Quasikristalle.

Den Roman „Quasikristalle“ von Eva Menasse gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Chris Pichler, Michael Rotschopf, Helmut Mooshammer, Sabine Waibel, Reinhard Kuhnert, Muriel Baumeister, Eva Meckbach, Peter Matic, Lena Stolze, Adam Nümm (Hörbuchfassung: Katja Wanoth, Regie: Ralf Ebel, Berlin 2013, 575 Minuten, ISBN 978-3-8398-1236-5 / 978-3-8398-5170-8).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

Eva Menasse (kurze Biografie / Bibliografie)

Eva Menasse: Vienna
Eva Menasse: Lässliche Todsünden
Eva Menasse: Dunkelblum

Ketil Bjørnstad - Die Unsterblichen
Eindrucksvoll veranschaulicht Ketil Bjørnstad in dem düsteren, grüblerischen Roman "Die Unsterblichen" die im Alter drohende Würdelosigkeit und die Überforderung der nächsten Generation.
Die Unsterblichen