Stewart O'Nan : Das Glück der anderen

Das Glück der anderen
Originaltitel: A Prayer for the Dying Henry Holt, New York 1999 Das Glück der anderen Übersetzung: Thomas Gunkel Rowohlt Verlag, Reinbek 2001
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Über eine amerikanische Provinzstadt bricht einige Jahre nach dem Bürgerkrieg eine Katastrophe biblischen Ausmaßes herein. In dieser Extremsituation versucht Jacob Hansen in seiner dreifachen Funktion als Sheriff, Prediger und Leichenbestatter, die richtigen Entscheidungen zu treffen – und lädt doch schwere Schuld auf sich.
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Kritik

Stewart O'Nan schildert das apokalyptische Szenario in einer kargen Sprache ohne jede Sentimentalität. Dabei verwendet er für seine Erzählerfigur in "Das Glück der anderen" die unübliche zweite Person Singular und lässt uns gewissermaßen an den Selbstgesprächen des Protagonisten teilhaben.
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Nach dem amerikanischen Bürgerkrieg hat es Jacob Hansen in die „sterbende alte Bergarbeiterstadt“ Friendship in Wisconsin verschlagen. Die Erinnerung an entsetzliche Kriegserlebnisse wird er nie mehr los. Statt zu reiten, fährt er lieber mit dem Fahrrad oder mit der Draisine, denn beim Geruch eines Pferdes muss er daran denken, wie er sich im aufgerissenen Leib eines gerade getöteten Pferdes wärmte. In Friendship fungiert Hansen als Sheriff, Prediger und Leichenbestatter zugleich.

Eines Tages lässt ihn der alte Witwer Meyer zu seiner abgelegenen Farm rufen, weil er einen Toten entdeckte. Hansen fährt mit dem Fahrrad hin und stößt bei der angegebenen Stelle am Waldrand neben den Resten eines Lagerfeuers auf einen Leichnam. Die Uniform lässt darauf schließen, dass es sich um einen vagabundierenden ehemaligen Soldaten handelte. Vermutlich wurde er ermordet, und Hansen verdächtigt Meyer, die Taschen des Toten geplündert zu haben, sagt aber nichts, sondern ersucht ihn nur darum, seinen Sohn Thaddeus mit der Leiche auf dem Fuhrwerk zum einzigen Arzt von Friendship zu schicken.

Auf dem Rückweg entdeckt Hansen eine mit dem Gesicht nach unten im Feld liegende Fremde. Hat er es mit einem Serienmörder zu tun? Als er die augenscheinlich aus der Großstadt stammende und vermutlich zu der Sektenkolonie im alten Bergwerk von Nokes gehörende Unbekannte anfasst, zuckt sie zusammen wie bei einem Anfall. Sie ist verwirrt, lässt sich aber von Thaddeus, der gerade erst mit dem Fuhrwerk vorbeikommt, mit zum Arzt nehmen.

Von Dr. Guterson erfährt Hansen, dass der Mann nicht ermordet wurde, sondern an Diphtherie starb und Lydia Flynn – so heißt die Fremde – ebenfalls an dieser ansteckenden Krankheit leidet. Aus Angst vor einer panikartigen Massenflucht, die zu Ansteckungen auch in anderen Städten führen könnte, wollen der Arzt und der Sheriff die Bevölkerung vorerst nicht über die Vorfälle unterrichten.

Lydia Flynn ist nicht zu retten. Hansen ignoriert die Ermahnung des Arztes, die Leiche möglichst wenig zu berühren und versieht seine Tätigkeit als Leichenbestatter so wie immer: Er wäscht die Tote, lässt sie ausbluten, balsamiert sie ein, schminkt sie und zieht ihr ein frisches Kleid an, bevor er sie in einen von ihm selbst gezimmerten Sarg legt.

Als er seiner Frau Marta von den beiden Diphtheriefällen berichtet, schlägt sie vor, vorübergehend mit dem Säugling Amelie zu ihrer Tante Bette zu fahren, aber Hansen – der in Friendship seine dreifache Pflicht erfüllen muss – überredet sie, bei ihm zu bleiben.

Ein Stück Zaun auf dem von Elsa und Millie Sullivan – zwei Schwestern Mitte siebzig – bewohnten Anwesen wurde mutwillig eingerissen. Vielleicht waren es die ungestümen vier Söhne von Sarah Ramsay. Jedenfalls lief die Milchkuh Clytie davon. Hansen folgt ihrer Spur in den Wald. Blutiger Schaum tropft der Kuh vom Maul, und sie rennt mehrmals mit dem Schädel gegen einen Baumstamm. Der Sheriff zieht seinen Revolver und erschießt die kranke Kuh. Später holt er Petroleum und verbrennt den Kadaver.

Cyril Lemke meldet ihm, dass er vom Glockenturm aus Rauch an der Straße nach Shawano bemerkt habe. Auf Meyers Gelände ist Feuer ausgebrochen. Während der Löscharbeiten fragt Hansen, wieso Thaddeus nicht mitmache und erfährt, dass der Junge mit Fieber im Bett liegt. Seine jüngere Schwester Bitsi ist ebenfalls erkrankt.

Zu Hause stellt Hansen fest, dass auch Amelia Fieber hat. Dr. Guterson ist sicher, dass es sich um Diphtherie handelt und sieht keine Chance, das Leben des Säuglings zu retten. Er kann Marta nur etwas Baldrian mitgeben, damit Amelia möglichst viel schläft. Hansen macht sich Vorwürfe: Er hätte Marta mit Amelia zu ihrer Tante fahren lassen sollen. Nicht nur das Kind stirbt, sondern auch Marta erliegt der Infektion. Hansen verheimlicht jedoch den Tod der beiden und versichert dem Arzt, wenn dieser nach dem Befinden der kleinen Patientin fragt, es gehe ihr schon besser. Er balsamiert die Leichen ein und lebt neben ihnen weiter, als sei nichts geschehen.

Elsa und Millie Sullivan vergiften sich aus Angst vor der Ansteckung durch die Kuh.

Hansen schaut bei Meyer und dessen Kindern vorbei. Holzkreuze hinter den Bienenstöcken zeigen die Stellen, an denen Thaddeus und Bitsi begraben wurden. Meyer hat sich mit einer Schrotflinte den Kopf halb weggeschossen. Thaddeus‘ Zwillingsbruder Marcus liegt erschossen in der Scheune, wo er sich wohl vor seinem Vater versteckt hatte.

Als zwanzig Menschen gestorben sind, verständigen der Arzt und der Sheriff sich endlich darauf, über Friendship eine Quarantäne zu verhängen und an den Ausfallstraßen Sperren zu errichten.

Fast jeder Bewohner will eine Ausnahmegenehmigung, um die Stadt in einer dringenden Angelegenheit verlassen zu dürfen oder um Besucher hereinzulassen. Hansen bleibt hart und macht keine Ausnahme. Auch einen Zirkus, der auf seinem Weg Friendship durchqueren möchte, zwingt er dazu, die Stadt im Süden zu umfahren. Im Norden geht es nicht, denn dort wälzt sich ein Großfeuer auf Friendship zu.

Die Kranken dürfen ihre Häuser nicht verlassen. Nachdem Sarah Ramsays vier Söhne gestorben sind, vernagelt Hansen ihre Fenster und Türen mit Brettern.

Bei Heilemann öffnet niemand. Die Haustür ist abgeschlossen. Offenbar hat sich die Familie heimlich aus Friendship abgesetzt. Als Hansen den Ladenbesitzer Fenton aufhalten will, der sich auf einem Treidelpfad davonstiehlt, wird er von ihm umgeritten. Gillett Condon schlägt den Hilfssheriff Millard mit der Peitsche und durchbricht die Straßensperre. Durch die Verletzung droht Millard auf einem Auge zu erblinden. Das wäre nicht passiert, wenn Hansen dem jugendlichen Hilfssheriff nicht verboten hätte, auf Flüchtende zu schießen.

Um die Ansteckungsgefahr einzudämmen, werden die Häuser der Toten niedergebrannt. Nachdem Hansen das Haus von Roland Winslet in Brand gesteckt hat, taucht am Speicherfenster dessen begriffsstutzige Tante auf, deren Anwesenheit Hansen vergessen hatte. Jetzt ist es zu spät. Vergeblich schreit sie um Hilfe bis das Dach einstürzt.

Als Hansen an Fentons Laden vorbeikommt, sieht er, dass er ausgeplündert worden ist.

Er sieht nach Sarah Ramsay. Sie liegt tot in ihrem Haus. Offensichtlich hat sie sich mit Streichholzköpfen umgebracht, denn die findet Hansen in ihrem Erbrochenen.

Harlow, der den Telegrafieapparat bedient, meldet, dass Montello bereits von dem Großfeuer zerstört wurde. Es hat die eigens angelegte Schneise übersprungen und ist wohl nicht mehr aufzuhalten.

Auch der Arzt erkrankt an der Seuche und vergiftet sich kurz vor seinem Ende.

Die Kranken muss Hansen ihrem Schicksal überlassen, aber die letzten dreißig Überlebenden will er vor dem Feuer retten. Er hält einen Güterzug auf, indem er sich mit ihnen auf die Schienen stellt und auf den Lokomotivführer schießt, bis dieser die Bremsen anzieht. Mit vorgehaltenem Gewehr zwingt Hansen ihn, die Leute in einen der Waggons klettern zu lassen. An der Grenze der nächsten Stadt müssen sie wegen einiger in Brand gesteckter Eisenbahnschwellen anhalten. Ein Doppelposten will die Menschen aus Friendship zurückhalten. Hansen redet mit den Männern, doch als sie sich weigern, die dreißig Menschen aus Friendschip passieren zu lassen, erschießt er sie.

Während der Zug weiterfährt, kehrt Hansen in die brennende Stadt zurück, um Marta und Amelia endlich zu begraben. Die Feuerwand naht. Verzweifelt rast Hansen mit dem Rad zu einem Waldsee, springt ins Wasser und taucht unter, als der Feuersturm an den beiden Seeufern entlangrast.

Danach geht Hansen zu Fuß in Richtung Shawano. Unterwegs kommt er an dem ausgebrannten Güterzug mit den verkohlten Leichen vorbei.

[…] Weil du noch immer glaubst, stimmt’s? Weil du diese Welt liebst.
Du bist dir nicht mehr sicher, oder? Es ist leichter, allein zu sein.
Nein.
Ja. Allein, ohne einen anderen Menschen. Lüg nicht, das gefällt dir doch.
„Nein“, sagst du, aber es hat auch nichts damit zu tun, dass du dich gedemütigt fühlst. Die ganze Vorstellung von Buße ist selbstsüchtig, irregeleitet. Gott lässt nicht mit sich handeln, lässt sich nicht durch fromme Handlungen bestechen. Das hast du erkannt – dass du auch mit den besten Absichten, auch mit all deinen gedankenschweren Predigten, tiefen Gefühlen und guten Taten niemanden retten kannst, am allerwenigsten dich selbst.
Und doch ist es keine Niederlage. Trotz alledem kannst du gerettet werden. Deine Mutter hatte Unrecht; es hängt nicht von dir ab. Es ist stets Gottes Entscheidung gewesen. (Seite 220)

Schließlich kehrt er als einziger Überlebender in den verwüsteten Ort zurück.

Ein Mensch, der verloren ist, will bloß noch nach Hause. Ein Ausgestoßener, wenn auch nur ein kleiner Teil von ihm, will dazugehören, hofft, am Ende Vergebung zu erlangen. Haben die Seelen in der Hölle ihre Gesichter nicht zum Himmel erhoben? Du denkst, dass du heute Nacht bei den Menschen sein musst, die du liebst. (Seite 221)

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Über eine amerikanische Provinzstadt bricht eine Katastrophe biblischen Ausmaßes herein. In dieser Extremsituation versucht Jacob Hansen in seiner dreifachen Funktion als Sheriff, Prediger und Leichenbestatter, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Um die letzten dreißig Überlebenden einer Epidemie vor einem nicht aufzuhaltenden Großfeuer zu retten, durchbricht Hansen die Quarantäne der Stadt, auf deren strikter Einhaltung er bis dahin bestanden hatte und erschießt zwei Posten, die sich ihm in den Weg stellen. Am Ende kommen auch die dreißig zunächst geretteten Menschen in dem Inferno um. Hansen übersteht die Apokalypse als Einziger, aber der bis dahin rechtschaffene Mann muss fortan damit leben, nicht nur zwei Menschen erschossen, sondern ungewollt auch zur Verbreitung der Seuche beigetragen und seine eigene Frau ebenso wie seine Tochter angesteckt zu haben.

„Mich beschäftigt immer, wie sich Menschen an bestimmte Hoffnungen klammern, welche Art von Glauben sie sich zurechtlegen, um weiterzumachen. Dieser Mann betrachtet sich als göttliches Werkzeug, möchte die Menschen erlösen, retten und führen.“ (Stewart O’Nan)

In seinem Roman „Das Glück der anderen“ schildert Stewart O’Nan in einer kargen Sprache ohne jede Sentimentalität ein Horrorszenario. Dabei verwendet er für seine Erzählerfigur die unübliche zweite Person Singular und lässt uns gewissermaßen an den Selbstgesprächen des Protagonisten teilhaben.

Angeregt zu diesem Buch wurde Stewart O’Nan durch einen Tatsachenbericht über eine Epidemie in Wisconsin (Michael Lesy: Wisconsin Death Trip, 1973).

Stewart O’Nan wurde 1961 in Pittsburgh geboren und wuchs in Boston auf. Er arbeitete als Flugzeugingenieur und studierte Literatur. Für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ wurde er 1993 mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Rowohlt

Stewart O’Nan: Der Zirkusbrand
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