Sprich mit ihr

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Sprich mit ihr

Sprich mit ihr - Originaltitel: Hable con ella - Regie: Pedro Almodóvar - Drehbuch: Pedro Almodóvar - Kamera: Javier Aguirresarobe - Schnitt: José Salcedo - Musik: Alberto Iglesias - Darsteller: Javier Cámara, Darío Grandinetti, Leonor Watling, Rosario Flores, Geraldine Chaplin, Pina Bausch, Paz Vega u.a. - 2002; 115 Minuten

Inhaltsangabe

In einem Krankenhaus kümmern sich zwei unterschiedliche Männer um zwei Patientinnen im Wachkoma: Der naive Krankenpfleger Benigno widmet sich der Ballettschülerin Alicia, die Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist, und spricht mit ihr. Der skeptische Journalist Marco sitzt Tag und Nacht trauernd und schweigsam am Bett der von einem Stier verletzten Matadorin Lydia. ...
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Kritik

Die Wirkung, die von dem einfühlsamen, psychologisch differenzierten und emotional ausbalancierten Film "Sprich mit ihr" ausgeht, lässt sich mit Worten nicht beschreiben.
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Zwei Frauen hetzen quer über die Bühne. Ein Mann versucht, ihnen die herumstehenden Stühle aus dem Weg zu räumen. Aber die beiden Balletttänzerinnen rennen gegen die Wand und sinken erschöpft nieder.

Unter den Zuschauern dieser Szene aus Pina Bauschs Tanzspiel „Café Müller“ sitzen Marco (Darío Grandinetti) und Benigno (Javier Cámara).

Marco, ein Journalist und Reisebuchautor aus Argentinien, ist über das Bühnengeschehen so gerührt, dass ihm eine Träne über die Wange rinnt. Er erinnert sich an seine seit zehn Jahren kaputte Liebesbeziehung mit der jungen drogensüchtigen Angela, die einmal in panischer Angst nackt aus dem Zelt floh, weil sie eine Schlange entdeckt hatte.

* Benigno und Alicia (Zwischentitel):

Benigno wich fünfzehn Jahre lang nicht von der Seite seiner psychisch kranken Mutter. (Der Vater hatte die Familie längst verlassen.) In Fernkursen bildete sich Benigno zum Krankenpfleger, Kosmetiker und Friseur aus, um die Frau fachgerecht betreuen zu können. Als sie vor vier Jahren starb, wollte er sich zunächst das Leben nehmen, doch er verliebte sich in die Tanzschülerin Alicia (Leonor Watling), die er durchs Fenster sehen konnte, wenn sie in der gegenüberliegenden Ballettschule von Katerina Bilova (Geraldine Chaplin) übte. Einmal beobachtete er, wie ihr auf der Straße das Portemonnaie aus der Tasche fiel. Er rannte hinunter, brachte es ihr nach und begleitete sie zu ihrer Wohnung. So fand er heraus, dass es sich um die Tochter eines Psychiaters handelte. Nachdem sie dem Ballettunterricht einige Zeit ferngeblieben war, meldete er sich zu einer Sitzung bei dem Psychiater an. Danach drang er in die Privaträume vor und erschreckte ungewollt Alicia, die gerade in ihr Zimmer wollte und nackt war, weil sie vom Duschen kam. Bevor er sie wieder sehen konnte, wurde sie bei einem Verkehrsunfall schwer verletzt, fiel ins Wachkoma und liegt seither im Krankenhaus, fast rund um die Uhr betreut von dem Krankenpfleger Benigno, der ihr sein Leben widmet. Er besucht Ballettaufführungen und sieht sich Stummfilme an, weil er weiß, dass sie sich dafür interessierte. Anschließend erzählt er der Bewusstlosen davon. Benigno spricht mit ihr, wäscht sie, massiert sie, cremt sie ein und wechselt ihr die Monatsbinden. Häufig sagt er „wir“, wenn er von sich und Alicia spricht, als führten sie ein gemeinsames Leben. Und einmal behauptet er: „Wir verstehen uns besser als viele andere Paare.“

* Marco und Lydia (Zwischentitel):

Marco soll die umstrittene Stierkämpferin Lydia Gonzales (Rosario Flores) interviewen. In einer Bar spricht er sie an, und sie lässt sich von ihm nach Hause fahren. Doch als sie merkt, dass er sie wie die anderen Journalisten über ihre gescheiterte Liaison mit Niño ausfragen will, bricht sie das Gespräch ab und grüßt kaum, bevor sie ins Haus geht. Gerade als Marco wieder losfährt, hört er einen gellenden Schrei, und Lydia kommt aus dem Haus gerannt. In ihrer Küche ist eine Schlange! Marco geht hinein und tötet das Tier, aber Lydia wagt sich nicht mehr zurück und möchte in ein Hotel gebracht werden.

Am nächsten Tag ruft Marco wegen des Interviews an. Die beiden einsamen Menschen verlieben sich in einander.

Einige Monate später begleitet Marco Lydia zu einer Corrida. Er redet unablässig von sich, aber Lydia kündigt an, sie müsse nach dem Kampf mit ihm sprechen. Dazu kommt es nicht mehr: Lydia wird von einem Stier schwer verletzt. Man bringt sie in das Krankenhaus, in dem auch Alicia liegt. Wie die junge Tänzerin liegt Lydia im Wachkoma, und der behandelnde Arzt erklärt Marco, der Tag und Nacht schweigsam an ihrem Bett sitzt, dass sie nie wieder in der Lage sein wird, zu fühlen und zu denken, weil ihr Großhirn zerstört ist.

Marco und Benigno lernen sich kennen und befreunden sich. Der illusionslose Journalist weiß, dass weder Lydia noch Alicia etwas wahrnehmen, aber er ist tolerant genug, den Krankenpfleger gewähren zu lassen, wenn er mit den beiden Patientinnen spricht.

Eines Abends erzählt Benigno Alicia von einem Stummfilm, der ihn sehr irritiert hat („Amante Menguante“): Um seiner Angebeteten Amparo (Paz Vega), einer Chemikerin, seine Liebe zu beweisen, trinkt Alfredo (Fele Martínez) ein Elixier, das sie soeben versuchsweise hergestellt hat – und schrumpft dadurch auf die Größe eines Fingers. Als sich die junge Frau schlafen legt, turnt er über ihre Brüste und verschwindet für immer in ihrem Schoß.

Niño taucht im Krankenhaus auf. Marco erfährt, dass Lydia sich vor ihrem letzten Stierkampf mit ihrem früheren Geliebten ausgesöhnt hatte und weiß nun, worüber sie mit ihm sprechen wollte. Verzweifelt reist er nach Jordanien und arbeitet an einem neuen Reiseführer.

Da liest er in einer Zeitung, dass Lydia Gonzales gestorben ist. Er ruft im Krankenhaus an, aber Benigno ist nicht mehr da. Schwester Rosa (Mariola Fuentes) berichtet ihm kurz, was geschehen ist: Als bei Alicia die Regelblutung ausblieb, untersuchte man sie. Sie war schwanger! Benigno sitzt wegen Vergewaltigung im Gefängnis.

Sofort kehrt Marco nach Spanien zurück, kümmert sich um seinen Freund und übernimmt dessen Mietwohnung. Benigno möchte vor allem wissen, wie es Alicia geht. Die Patientin wurde in ein anderes Krankenhaus verlegt, und es dauert eine Weile, bis Marco herausfindet, dass Alicia nach einer Totgeburt aus dem Koma erwachte. Sie geht zwar am Stock, aber Katerina Bilova macht mit ihr Bewegungsübungen.

Ein Rechtsanwalt, den Marco als Verteidiger für Benigno gewinnt, hält es für besser, seinen Mandanten nur über die Totgeburt, jedoch nicht über Alicias Erwachen zu informieren. Schweren Herzens folgt Marco dem Rat. Doch als er auf seiner Mailbox eine Nachricht Benignos abhört, in der dieser seinen Suizid ankündigt, rast er mit einem Taxi zum Gefängnis, um ihm die Wahrheit zu sagen. Es ist zu spät: Benigno hat sich mit gehorteten Tabletten vergiftet und ist tot. In seiner verqueren Naivität glaubte er, Alicia auf diese Weise näher sein zu können.

* Marco und Alicia (Zwischentitel):

Einige Zeit später besucht Marco eine Aufführung von Pina Bauschs „Masurca Fogo“ und begegnet in der Pause zufällig Alicia in Begleitung von Katerina Bilova.

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In dem Spielfilm „Sprich mit ihr“ geht es um Trauer und Einsamkeit, Kommunikation und die Unfähigkeit zum Gespräch, unverheilte psychische Verletzungen, Freundschaft und die Sehnsucht nach Liebe. Ein anderer Regisseur hätte die skurrile Geschichte vielleicht pathetisch und kitschig erzählt, aber bei Pedro Almodóvar wirkt alles wie selbstverständlich. Einfühlsam, psychologisch differenziert und emotional ausbalanciert macht er uns in dem bewegenden Melodram mit seinen Figuren vertraut.

Auf geschickte Weise bricht er an einigen Stellen die Kontinuität durch Rückblenden. Die Vergewaltigung der im Wachkoma liegenden Patientin zeigt er überhaupt nicht, sondern symbolisiert sie durch eine neu gedrehte Szene aus Jack Arnolds Stummfilm „The Incredible Shrinking Man“.

Stier, Schlange, eine Stierkämpferin, die sich vor Schlangen fürchtet, das Sühneopfer eines Liebenden, das Erwachen einer Koma-Patientin nach Vergewaltigung und Totgeburt – „Sprich mit ihr“ ist auf stimmige Weise voller Symbole.

Wenn die Kamera über einer Hügellandschaft mit Olivenbäumen schwebt, glaubt man zunächst, es handele sich um ein Tapetenmuster. Das ist nur ein Beispiel für Javier Aguirresarobes exzellente Kameraführung.

Bis in die Nebenrollen hat Pedro Almodóvar seinen Film „Sprich mit ihr“ ideal besetzt; das gilt vor allem für die beiden Hauptdarsteller Javier Camara und Darío Grandinetti sowie Geraldine Chaplin.

Die Wirkung, die von diesem Meisterwerk ausgeht, lässt sich mit Worten nicht beschreiben.

Das Lied „Cucurrucucú Paloma“ habe ich übrigens noch nie so schön singen gehört wie von Caetano Veloso in „Sprich mit ihr“.

Niemand wirft sich dem Leben so hemmungslos entgegen wie der Spanier Pedro Almodóvar, ein Alltagsphantast und bizarrer Schnulzenerzähler, dessen Filme einen seit zwei Jahrzehnten immer wieder überraschen. Und er hat schon mehr als ein Wunder gebraucht, um seine ganz unglaublichen, tragikomischen, ergreifenden Geschichten über Begierden, heiligen Wahnsinn, blühende Geheimnisse und Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs durch Labyrinthe der Leidenschaften zu tragen. […] ihm mit „Sprich mit ihr“ nun an Komplexität und Reife sein schönstes Werk gelungen ist. Einer Wundertüte der Zärtlichkeit, psychologischen Sensibilität und narrativen Kunst gleicht sein Melodram, in dem aus erstickendem Herzschmerz und bodenloser Obsession ein Trost erwächst, der nicht nur Marco (Darío Grandinetti) zum Weinen bringt. […] In elliptischen Rückblenden, in denen leichthändig immer wieder mehrere Zeitebenen verknüpft werden, blättert Almodóvar […] die unmittelbare Vergangenheit und tiefen Traumata seiner Figuren auf. […] Das einst Groteske, Burleske und Makabre in Almodóvars früheren Filmen ist in „Sprich mit ihr“ […] endgültig einem sanften, indes nicht weniger kauzigem Humor gewichen […] (Oliver Hüttmann, Spiegel Online, 8. August 2002)

Für das Drehbuch erhielt Pedro Almodóvar am 23. März 2003 einen „Oscar“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002

Wachkoma, Apallisches Syndrom
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