Julieta

Julieta

Julieta

Julieta – Originaltitel: Julieta – Regie: Pedro Almodóvar – Drehbuch: Pedro Almodóvar, nach Kurzgeschichten aus "Tricks" von Alice Munro – Kamera: Jean-Claude Larrieu – Schnitt: José Salcedo – Musik: Alberto Iglesias – Darsteller: Emma Suárez, Adriana Ugarte, Rossy de Palma, Daniel Grao, Inma Cuesta, Darío Grandinetti, Susi Sánchez, Michelle Jenner, Pilar Castro, Blanca Parés, Priscilla Delgado, Sara Jiménez u.a. – 2016; 95 Minuten

Inhaltsangabe

Während Anna, die Ehefrau des Fischers Xoan, nach einem Unfall im Koma liegt, zeugt er mit der 25-jährigen Lehrerin Julieta eine Tochter, die kurz nach Annas Tod geboren wird. Antía ist neun Jahre alt, als Julieta erfährt, dass Xoan sie betrügt. Im Streit gehen sie auseinander. Xoan, der verärgert aufs Meer hinaus gefahren ist, kommt noch am selben Tag bei einem Sturm ums Leben. Sobald Antía volljährig ist, trennt sie sich von ihrer Mutter und hinterlässt auch keine Adresse ...
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Kritik

Mit einer hinzugefügten Rahmen­handlung verband Pedro Almodóvar drei Kurzgeschichten von Alice Munro zu einem bewegenden, viel­schich­ti­gen Melodram über Schuld und Reue, Verlust und Schmerz, Einsamkeit und Depression.
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Julieta (Emma Suárez) ist Mitte 50, als sie mit ihrem Lebensgefährten Lorenzo Gentile (Darío Grandinetti) von Madrid nach Portugal übersiedeln will. Ein Kuvert, auf das sie beim Packen der Umzugskartons stößt, wirft sie in den Papierkorb. Kurz darauf läuft sie auf der Straße Beatriz (Michelle Jenner) über den Weg, der engsten Jugendfreundin ihrer Tochter Antía. Bea ist in Eile, erzählt aber kurz, dass sie Antía nach vielen Jahren kürzlich in Como beim Einkaufen wieder­gesehen habe. Es gehe ihr gut und sie habe drei Kinder. Zu Hause sucht Julieta nach dem weggeworfenen Umschlag, holt die Schnipsel eines zerrissenen Fotos heraus und setzt sie wie ein Puzzle zusammen. Das Bild zeigt sie und Antía.

Lorenzo ruft an, aber sie hebt nicht ab, und am nächsten Tag teilt sie ihm schlicht mit, sie werde in Madrid bleiben, auch wenn dies das Ende ihrer Beziehung bedeute. Sie bittet ihn, keine Erklärung zu verlangen. Er ahnt schon lange, dass sie ihm die ganze Zeit etwas Wichtiges aus ihrem Leben verheimlicht.

In dem Haus in Madrid, in dem Julieta bis vor 12 Jahren mit Antía wohnte, mietet sie ein gerade verfügbares Apartment und zieht dort ein, obwohl die Renovierung noch nicht abgeschlossen ist. Sie öffnet eine Kladde und beginnt, ihre an die Tochter gerichtete Lebensbeichte zu schreiben.

Julieta (jetzt: Adriana Ugarte) war 25 und arbeitete als Aushilfslehrerin, als sich ein älterer, schwarz gekleideter Herr (Tomás del Estal) zu ihr ins Zugabteil setzte und ein Gespräch anfangen wollte, obwohl sie in einem Buch las. Um ihm zu entkommen, ging sie in den Speisewagen und lernte dort den zehn Jahre älteren Fischer Xoan (Daniel Grao) kennen. Dessen Ehefrau Anna war seit einem Autounfall pflegebedürftig. Nach einem längeren Aufenthalt in einem Provinz­bahnhof fuhr der Zug wieder an, aber gleich darauf löste der Lokführer eine Notbremsung aus: Der Herr, der von Julieta abgewiesen worden war, hatte sich vor den Zug geworfen.

Einige Monate später fuhr Julieta mit dem Bus in das Fischerdorf, in dem Xoan lebte, traf aber nur die Haushälterin Marian (Rossy de Palma) an, die zunächst vermutete, sie sei verspätet zu Annas Beerdigung gekommen. Xoan war bei seiner Geliebten, der Künstlerin Ava (Inma Cuesta). Als er nach Hause kam, freute er sich über Julietas Besuch, aber erst nach einer Weile ließ sie ihn wissen, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Nach dem Suizid des älteren Herrn hatte Julieta sich Vorwürfe gemacht und im Zugabteil ebenso wenig schlafen können wie Xoan. Da war es passiert.

Julieta blieb bei Xoan, freundete sich mit Ava an und brachte Antía zur Welt. Um ihren Eltern die Enkelin zu zeigen, besuchte Julieta sie. Ihr Vater Samuel (Joaquín Notario) hatte seine Anstellung als Lehrer aufgegeben und sich aufs Land zurück­gezogen. Sanáa (Mariam Bachir), eine schüchterne junge Ausländerin, half ihm bei der Pflege seiner kränklichen Ehefrau Sara (Susi Sánchez), und Julieta blieb nicht verborgen, dass die beiden eine intime Beziehung hatten.

Während sich die neunjährige Antía (Priscilla Delgado) in einem Ferienlager aufhielt, fand Julieta heraus, dass Xoan nach ihrem Eintreffen in dem Fischerdorf seine Liebesbeziehung mit Ava nicht, wie angenommen, beendet hatte. Sie stellte ihn zur Rede, und er gab es zu. Im Streit verließ Julieta das Haus, und Xoan fuhr verärgert zum Fischen hinaus. Ein Sturm zog auf, und Xoan konnte nach einem Schiffbruch nur noch tot geborgen werden.

Julieta und Ava verstreuten gemeinsam Xoans Asche.

Antía wusste zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Tod ihres geliebten Vaters. Sie hatte sich im Camp mit einem Mädchen namens Beatriz (jetzt: Sara Jiménez) angefreundet und war glücklich. Nach dem Ferienlager wollte sie noch zwei Wochen mit Bea in Madrid verbringen. Deren Eltern hatten sie eingeladen. Erst bei einem Besuch in Madrid ließ Julieta ihre Tochter wissen, dass Xoan tödlich verunglückt war. Weil Beas Mutter Claudia (Pilar Castro) ohnehin mit ihrem Mann nach Patagonien reisen wollte, schlug sie Julieta vor, mit den Mädchen in Madrid zu bleiben.

Während Julieta in eine Depression verfiel und Bea sich um sie kümmerte, wuchs Antía über sich hinaus: Sie fuhr in das Fischerdorf und löste dort den Haushalt auf. Dann mietete sie mit ihrer Mutter zusammen eine Wohnung in Madrid.

Schließlich begann Julieta zu Hause als Lektorin zu arbeiten.

Bea und Antía waren unzertrennlich, aber zum Studium zog Bea in die USA. Antía (jetzt: Blanca Parés) fuhr nach dem Schulabschluss zu einem spirituellen Retreatment in den Pyrenäen. Als Julieta sie nach drei Monaten, wie vereinbart, abholen wollte, erfuhr sie, dass Antía bereits abgereist war. Juana (Nathalie Poza), die Leiterin der Einrichtung, wusste zwar, wo Antía sich aufhielt, verweigerte Julieta aber die Auskunft und berief sich auf Antías ausdrücklichen Wunsch, die Adresse nicht weiterzugeben. Weil Antía 18 Jahre alt war, unternahm die Polizei kaum etwas, und auch ein von Julieta beauftragter Privatdetektiv fand nichts heraus.

An Antías 19. Geburtstag bekam Julieta eine Pop-up-Geburtstagskarte von ihrer Tochter, aber ohne Gruß, Adresse oder Nachricht.

Samuel rief an. Seit Saras Tod lebte er mit Sanáa zusammen. Ohne etwas vom Verschwinden seiner Enkelin zu ahnen, mahnte er einen Besuch an, und Julieta tat so, als werde sie darüber mit Antía reden. Sie verübelte es ihrem Vater, dass er ihre Mutter mit Sanáa betrogen hatte.

Ava litt inzwischen an Multipler Sklerose und lag in einem Krankenhaus in Madrid, wo Julieta sie regelmäßig besuchte. Kurz vor ihrem Tod verriet Ava ihrer Freundin, was geschehen war, als Antía ins Fischerdorf gekommen war, um den Haushalt aufzulösen. Marian hatte ihr vom letzten Streit der Eltern erzählt und den Eindruck erweckt, Julieta sei schuld gewesen, dass Xoan trotz schlechten Wetters aufs Meer hinausgefahren war.

Am Ende der Trauerfeier für Ava wurde Julieta von einem Herrn angesprochen, dem sie im Krankenhaus aufgefallen war, als er Ava besucht hatte: Lorenzo Gentile.

Nachdem Julieta ihre Lebensbeichte beendet hat, sitzt sie niedergeschlagen auf einer Bank an einem Spielplatz. Bea, die mit zwei kleinen Nichten da ist, kommt zu ihr. Sie sieht, dass es Julieta sehr viel schlechter als beim letzten Wiedersehen geht und erzählt diesmal ausführlicher von der zufälligen Begegnung mit Antía in Como. Bea vertraut Julieta an, dass ihre Beziehung mit Antía zuletzt zur Hölle geworden sei. Deshalb floh sie nach New York und studierte dort Design. Während Antía in der Klausur in den Pyrenäen war, telefonierten sie ein letztes Mal miteinander. Antía hatte sich völlig verändert und schämte sich wegen der lesbischen Beziehung mit Bea. Das sei Sünde gewesen, meinte sie.

Auf dem Nachhauseweg sieht Julieta Lorenzo. Er blickt von der anderen Straßen­seite herüber. Als Julieta ihn erkennt, tritt sie spontan auf die Straße, um sie zu überqueren – und wird von einem Auto angefahren.

Im Krankenhaus sagt er ihr, dass er vor vier Tagen aus Portugal zurückgekommen sei.

Zu Hause gibt sie ihm die vollgeschriebenen Kladden und stellt es ihm frei, ihre Lebensbeichte zu lesen oder die Kladden ungeöffnet wegzuwerfen.

Auf einem Brief, den der Postbote bringt, erkennt Julieta sofort die Handschrift ihrer Tochter. Aufgeregt reißt sie das Kuvert auf und liest, dass Antías neunjähriger Sohn Xoan ertrunken ist. Durch den Verlust des Kindes, schreibt Antía, habe sie begriffen, wie ihre Mutter leidet.

Lorenzo fährt mit Julieta nach Sonogno im Tessin, zu der im Brief angegebenen Adresse.

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Die drei Kurzgeschichten „Entscheidung“, „Bald“ und „Schweigen“ der Nobel­preis­trägerin Alice Munro hat Pedro Almodóvar in seinem Melodram „Julieta“ mit einer hinzugefügten Rahmenhandlung zu einer mehr als 30 Jahre überspannenden Geschichte verbunden. Der Vater-Tochter-Konflikt („Bald“) interessiert Pedro Almodóvar allerdings deutlich weniger als Alice Munro; im Film wird er nur kurz dargestellt. Ansonsten hält er sich eng an die literarische Vorlage, auch wenn er die Handlung von Kanada nach Spanien verlegt und die Personennamen entsprechend geändert hat.

„Julieta“ ist eine ernsthafte, ebenso sensible wie vielschichtige Studie über Schuld und Reue, Verlust und Schmerz, Einsamkeit und Depression. Es geht nicht um Außenseiter, wie in den meisten Filmen von Pedro Almodóvar, sondern um Menschen mitten in der Gesellschaft.

Im Hauptteil des bewegenden Films ist Julieta die Erzählerin; wir hören sie voice-over und sehen ihre Erinnerungen in Rückblenden.

Obwohl ein Großteil der Geschichte düster und tragisch ist, inszeniert Pedro Almodóvar sie in leuchtenden Farben. Die sorgfältige Farbregie passt zu den stilvollen Bildkompositionen des ebenso anspruchsvollen wie unterhaltsamen Films.

Bei dem im Schlussbild zu sehenden Bergmassiv handelt es sich übrigens um die Grigna, eine Gebirgsgruppe in den Bergamasker Alpen in der Provinz Lecco östlich des Comer Sees.

Es heißt, Pedro Almodóvar habe den Film ursprünglich mit Meryl Streep in Nordamerika drehen und „Silence“ nennen wollen.

Bei den Filmfestspielen von Cannes war „Julieta“ für die „Goldene Palme“ nominiert. Außerdem hat Spanien „Julieta“ für einen „Oscar“ in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film eingereicht.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016

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