Fernando Aramburu : Patria
Inhaltsangabe
Kritik
Txato
Der baskische Fuhrunternehmer Txato lebt mit seiner Frau Bittori und den beiden Kindern in einem Dorf der Provinz Guipúzcoa nahe San Sebastián. Als die Euskadi Ta Askatasuna (ETA) finanzielle Unterstützung von ihm erwartet, zahlt er die zunächst gewünschte Summe.
„ETA, bewaffnetes Organ der baskischen Revolution, wendet sich an Sie mit der Forderung zur Zahlung von fünfundzwanzig Millionen Peseten als Beitrag zum Erhalt der für den revolutionären Prozess des Baskenlandes zur Erreichung von Unabhängigkeit und Sozialismus nötigen bewaffneten Strukturen.“
Die Forderungen werden rasch höher. Weil deren Erfüllung das Unternehmen gefährden würde, versucht Txato, über eine Stundung zu verhandeln. Das gelingt ihm jedoch nicht. Stattdessen erhält er Erpresserbriefe, und der Wirt Patxi initiiert im Dorf eine Kampagne mit Graffiti, in denen Txato als angeblich ausbeuterischer Unternehmer beschimpft wird. Die anderen Bewohner fangen vorsichtshalber an, Txato und seine Familie zu meiden. Bittori wird nicht mehr gegrüßt und im Laden nicht mehr bedient. Don Serapio, der Pfarrer, sympathisiert ohnehin mit der ETA und rechtfertigt deren Anschläge.
Aus Sorge um seine Tochter Nerea schickt Txato sie zum Jura-Studium nach Saragossa. Xabier, der Sohn, der nach seinem Medizinstudium in Pamplona als Arzt in einem Krankenhaus in San Sebastián praktiziert, drängt den Vater, eine Wohnung in der Stadt zu kaufen und zumindest seinen Wohnsitz, wenn nicht auch seinen Betrieb zu verlegen.
Schließlich erschießt jemand Txato auf offener Straße.
Als der Unternehmer liquidiert war, war das Unternehmen am Ende. Vierzehn Entlassungen. Wie oft mussten Bittori und Nerea sich anhören, dass Xabier sagte, so also treten die Terroristen für die Interessen der Arbeiterklasse ein.
Bittori
20 Jahre später – nachdem die ETA den Unabhängigkeitskrieg im November 2011 für beendet erklärt hat – sitzt die Witwe Bittori am Grab ihres Mannes in San Sebastián. Auf dem Dorffriedhof wurde Txato nicht beerdigt, weil dort mit Schändungen zu rechnen gewesen wäre. Seit dem Terroranschlag wohnt Bittori in San Sebastián in dem noch von Txato gekauften Apartment. Xabier machte nach einer Blutuntersuchung einen Termin bei dem befreundeten Onkologen Arruabarrena für sie, aber Bittori ahnt auch so, dass sie nicht mehr lange zu leben hat. (Sie leidet an Gebärmutterhalskrebs im fortgeschrittenen Stadium.) Bevor sie stirbt, möchte sie noch herausfinden, wer ihren Mann erschoss. Sie erklärt dem Toten:
„Ich muss nur unbedingt erfahren, was gewesen ist. Die ganze Zeit wollte ich das wissen. Und ich lasse mich nicht davon abhalten. Niemand kann mich davon abhalten. Auch die Kinder nicht. Wenn sie überhaupt was merken. Ich werde es ihnen nicht sagen. Du bist der Einzige, der es weiß. Unterbrich mich nicht. Der Einzige, der weiß, dass ich wieder zurückgehe. Nein, ins Gefängnis kann ich nicht. Ich weiß ja nicht einmal, in welchem der Schuft sitzt. Aber die anderen sind bestimmt noch alle im Dorf. Außerdem will ich wissen, in welchem Zustand sich unser Haus befindet. Ganz ruhig, Txato, Txatito; Nerea ist im Ausland, und Xabier lebt – wie immer – nur für seine Arbeit. Die merken davon nichts.“
Die beiden Familien
Fast jeden Tag fährt Bittori nun mit dem Bus in ihr Dorf und hält sich ein paar Stunden in ihrem Haus auf. Das sorgt für Unruhe, vor allem bei den Nachbarn Miren und Joxian.
Bevor Bittori und ihre Familie im Dorf ausgegrenzt wurden, waren sie und Miren, Txato und der Gießereiarbeiter Joxian eng befreundet. Beide Paare hatten 1963 kurz nacheinander geheiratet. Die Kinder Xabier und Nerea, Arantxa, Joxe Mari und Gorka wuchsen zusammen auf. Während Gorka als Büchernarr und Stubenhocker galt, schloss Joxe Mari sich in der Jugend der ETA an. Nach Anschlägen mit Molotow-Cocktails versteckte er sich eine Weile in Frankreich. Dann gehörte er zu einer kleinen Gruppe, die auf eine Reihe von Unternehmern angesetzt wurde, die der ETA zu wenig zahlten – darunter Txato. Dass Txato die Kinder seines Freundes Joxian immer großzügig beschenkt hatte, spielte für Joxe Mari keine Rolle, denn es ging nicht um Persönliches, sondern um den Kampf für die Befreiung des baskischen Volkes. Als er Txato im Regen auflauerte, um ihn zu erschießen, ging dieser arglos auf ihn zu und begrüßte ihn freundlich. Das lähmte Joxe Mari. Unfähig die Waffe zu ziehen oder auch nur ein Wort zu sagen, überließ er den Anschlag seinem im Auto wartenden Komplizen.
Die Guardia Civil fasste Joxe Mari einige Zeit später, und der Staatsgerichtshof verurteilte ihn zu 126 Jahren Haft. Inzwischen ist er 43 Jahre alt und verbrachte bereits 17 Jahre im Gefängnis.
Während sein schwacher Vater ihn nur selten besucht und kaum darüber spricht, dass er nichts von Gewalt hält, hat sich die resolute Mutter zu einer glühenden Anhängerin der ETA entwickelt, und in ihrem älteren Sohn sieht sie einen Helden.
Gorka las schon in der Jugend lieber, als an Demonstrationen teilzunehmen. Vergeblich versuchte sein Bruder, ihn für die ETA zu gewinnen. Inzwischen schreibt er Bücher in Euskera, hat eine eigene Sendung in einem baskischen Radiosender und lebt mit einem elf Jahre älteren Mann namens Ramón („Ramuntxo“) in Bilbao zusammen, dessen geschiedene Frau sich mit der gemeinsamen Tochter Amaia in die USA abgesetzt hat.
Ebenso wie Gorkas Verhalten missfiel Miren und Joxe Mari, dass Arantxa einen vier Jahre älteren Spanier heiratete, der zwar in der zur autonomen Provinz Gipuzkoa gehörenden Stadt Rentería (Errenteria) lebte, aber kein Baske war und auch kein Euskera sprach: Guillermo („Guille“) Hernández Carrizo. Das Paar bekam zwei Kinder – Endika und Ainhoa –, aber die Ehe scheiterte, und Guillermo trennte sich endgültig von seiner Frau, nachdem diese vor zwei Jahren, im Sommer 2009, zwei Schlaganfälle erlitten hatte. Seither ist Arantxa fast vollständig gelähmt. Die aus Ecuador stammende Pflegerin Celeste schiebt sie im Rollstuhl durchs Dorf. Arantxa versteht zwar, was andere zu ihr sagen, aber sie kann nicht sprechen, nur mit einem Finger auf einem iPad Texte tippen.
Während Miren und Bittori sich aus dem Weg gehen und Joxian nur heimlich im Gartenhaus kurze Gespräche mit der Nachbarin führt, zeigt Arantxa sich jeden Tag auf der Straße mit Bittori. Vergeblich versucht Miren das zu unterbinden; Celeste erfüllt auch weiterhin Arantxas Wunsch, sich mit Bittori zu treffen.
Bittoris Anliegen
Zunächst bat Bittori den ehemaligen Freund ihres Mannes, seinen Sohn im Gefängnis zu fragen, wer damals schoss. Joxian übermittelt Joxe Mari zwar die Frage, erhält jedoch keine Auskunft. Nachdem Bittori von Arantxa erfahren hat, wo der Terrorist inhaftiert ist, schreibt sie ihm, doch obwohl auch seine Schwester ihn bittet, der Witwe zu antworten, verweigert Joxe Mari zunächst eine Stellungnahme. Erst nach geraumer Zeit sagt er sich innerlich von der ETA los und bittet Bittori schriftlich um Verzeihung.
Kurz nachdem Bittori seinen Brief erhalten hat, begegnet sie Miren auf der Straße. Die beiden Frauen gehen aufeinander zu und umarmen sich kurz vor den Augen der erstaunten Kirchgänger.
Im Zentrum des Romans „Patria“ von Fernando Aramburu – einer Mischung von Familien- und Gesellschaftsroman – steht die Schlussphase des Terrors der ETA.
Die baskische Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA) wurde 1959 als Widerstandsbewegung gegen die Franco-Diktatur gegründet. Nach deren Ende setzte die ETA den Kampf für die Autonomie des Baskenlandes („Euskal Herria“) fort und proklamierte zugleich kommunistische Ziele. Innerhalb eines halben Jahrhunderts (1960 bis 2011) tötete die ETA bei schätzungsweise 4000 Anschlägen 864 Menschen. Im November 2011 beendete die ETA die terroristischen Operationen, und im Frühjahr 2017 begann sie mit der Übergabe von Waffen an die französische Polizei.
Fernando Aramburu veranschaulicht in „Patria“ am konkreten Beispiel von zwei baskischen Familien, was der Terror der ETA für die Betroffenen bedeutete. Während der Unternehmer Txato in seinem Dorf ausgegrenzt, bedroht und schließlich ermordet wird, hält die Nachbarin Miren zu ihrem Sohn Joxe Mari, der sich der ETA aus Überzeugung angeschlossen hat und auch von den übrigen Dorfbewohnern als Held gefeiert wird. Fernando Aramburu verteufelt die Terroristen nicht, sondern stellt sie in ihrer ideologischen Verblendung dar, die sie glauben lässt, für eine gute Sache auch Menschen töten zu müssen. Er prangert die Grausamkeit der ETA an, verschweigt aber auch nicht die repressive Gewalt des Staats, schildert demütigende Hausdurchsuchungen und brutale Folterungen. Fernando Aramburu beschäftigt sich in „Patria“ vor allem mit der Frage, wie die Angehörigen von Tätern und Opfern mit den schrecklichen Ereignissen umgehen. „Patria“ ist ein Plädoyer gegen Hass und Gewalt, für Vergebung und Versöhnung.
In zahlreichen kurzen Kapiteln entwickelt Fernando Aramburu die Handlung. Dabei springt er nicht nur zeitlich immer wieder vor und zurück, sondern wechselt auch fortwährend die Perspektive. Wir erleben das Geschehen aus den Blickwinkeln von Opfern und Angehörigen, Tätern und Mitläufern. Weil Fernando Aramburu viele Kapitel mit Personalpronomen statt Namen beginnt, dauert es zumeist eine Weile, bis man versteht, von wem gerade die Rede ist. Zwischendurch lässt Fernando Aramburu einige der Romanfiguren kurz als Ich-Erzähler im Präsens auftreten. Zu den sprachlichen Besonderheiten gehören rhetorische Fragen, die der Autor dann gleich selbst beantwortet. Das klingt so:
Txato war, wie er nun mal war; nach innen gerichtet, arbeitsam wie kein Zweiter, dickköpfig. Und diese Dickköpfigkeit, die das Leben mit ihm, uff, schwierig ist geschmeichelt, machte (ihm widersprechen?, Jesus, Maria und Josef!), diese Dickköpfigkeit versetzte ihn in die Lage, die Firma mit mehr Illusionen als Kapital da unten am Fluss aufzubauen, auf einem mit Brombeersträuchern überwucherten Grundstück, das man ihm zur Verfügung stellte und das er später kaufte, und den Laden voranzubringen und am Laufen zu halten, verflucht noch eins. Aber diese Dickköpfigkeit war – wie Bittori immer sagte – auch sein Verderben.
Sie hatte nicht so sehr das Gefühl, ein Ziel erreicht, als sich einer schweren Last entledigt zu haben. Bist du sicher? Ganz sicher. An dem Tag, an dem sie ihr letztes Ergebnis erfuhr, wählte sie am Ausgang der Fakultät eine der Treppenstufen nah an den Wolken, welche?, die da, ganz am Ende.
„Patria“ ist mit Themen und Nebenhandlungen überladen. Vor allem gegen Ende zu hätte Fernando Aramburu den Roman straffen können. Insgesamt handelt es sich bei „Patria“ jedoch um eine kraftvoll erzählte, erschütternde und aufschlussreiche Geschichte, deren Autor Werte wie Gewaltfreiheit und Humanität hochhält.
Der baskische Schriftsteller, Dichter und Übersetzer Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastián geboren. Er studierte spanische Philologie in Saragossa und lebt seit 1984 in Hannover. Sein 1996 veröffentlichter Roman „Fuegos con limón“ wurde 2000 von Ulrich Kunzmann ins Deutsche übersetzt: „Limonenfeuer“. 2016 erschien sein Roman „Patria“, der mit Preisen wie dem „Premio Nacional de Narritiva“ und dem „Premio de la Crítica“ ausgezeichnet wurde. Die deutsche Übertragung ins Deutsche durch Willi Zurbrüggen erschien 2018 im Rowohlt Verlag.
Den Roman „Patria“ von Fernando Aramburu gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Eva Mattes (ISBN 978-3-8398-1626-4).
Veranschaulichung der Beziehungen
Zur Verfügung gestellt von © Gerhard Günther
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
Fernando Aramburu: Langsame Jahre