Italo Calvino : Unter der Jaguar-Sonne

Unter der Jaguar-Sonne
Originaltitel: Sotto il sole giaguaro Garzanti Editore, Mailand 1986 Unter der Jaguar-Sonne Übersetzung: Burkhart Kroeber Carl Hanser Verlag, München / Wien 1987 Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1991
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ein Touristenpaar lässt sich während einer Mexiko-Reise auf die Gaumenfreuden der Landesküche ein, und während die sexuelle Erregung zwischen den beiden abnimmt, frönen sie einer Art erotisch-kannibalischer Genusssucht.
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Kritik

In der elegant geschriebenen Erzählung "Unter der Jaguar-Sonne", die auch Züge der fantastischen Literatur aufweist, geht es um den Geschmacksinn.
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Der Erzähler unternimmt mit seiner Geliebten Olivia eine Mexiko-Reise. In ihrem Hotel in Oaxaca (sprich: Uacháka), das früher ein Kloster war, fällt ihnen in einem zur Bar „Las Novicias“ führenden Salon ein Ölgemälde auf, auf dem eine der Äbtissinnen und ein alter Kaplan zu sehen sind. Dreißig Jahre lang, so erfahren die Touristen, verband eine ebenso große wie keusche Liebe die Ordensfrau und ihren Beichtvater. Als der Priester starb, erkrankte die zwanzig Jahre jüngere Äbtissin und verschied ebenfalls.

[…] das Wort [von der großen Liebe] in seiner spirituellen Bedeutung sublimierte die körperliche Erregung, ohne sie jedoch auszulöschen (Seite 34)

Salustiano Velazco, ein gebildeter mexikanischer Freund des Touristenpaars, erzählt, dass die Töchter aus Adelsfamilien, die ins Kloster gingen, Dienerinnen mitbrachten und sich von ihnen köstliche Speisen zubereiten ließen. Glücklich darüber, dass Olivia ihre Gaumenfreuden mit ihm teilt, überlegt der Erzähler, dass die Liebe zwischen der Äbtissin und ihrem Beichtvater kulinarische Formen angenommen haben könnte.

Auch konnte ich nicht umhin zu bemerken, dass gewisse Ausdrucksformen der Vitalität Olivias, gewisse für sie charakteristische Wallungen oder Hemmungen oder Hingaben oder Zuckungen, sich weiterhin vor meinen Augen entfalteten, ohne etwas von ihrer Intensität verloren zu haben, jedoch mit einem einzigen Unterschied von Belang: dass ihr Schauplatz nicht mehr das Bett unserer Umarmungen war, sondern ein gedeckter Tisch. (Seite 42)

Bei einem Ausflug nach Monte Albán erläutert der Führer Alonso, ein ungeschlachter Bursche, die Bilder der berühmten Zapoteken-Reliefs, auf denen gebärende Frauen dargestellt sind.

Alles in den Gesten unseres Führers bekam einen düsteren Sinn, als hätten die Tempel der Menschenopfer einen Schatten auf jede Handlung und jeden Gedanken geworfen. Alle Figuren in den Reliefs erschienen plötzlich aufs engste mit jenen blutigen Riten verbunden. (Seite 47f)

Als Olivia fragt, was mit dem Fleisch der Geopferten geschehen sei, antwortet der Führer, man habe es den Geiern überlassen – und wechselt rasch das Thema. Nach der Rückkehr ins Hotel möchte Olivia von Salustiano Velazco wissen, was man mit dem von den Geiern übriggelassenen Fleisch angefangen habe. Der Mexikaner bestätigt Olivias Verdacht, dass es wohl von den Priestern verzehrt wurde, und das bringt sie zu ihrer eigentlichen Frage, der nach der Zubereitung: Gab es eine heilige Küche mit geheimen Rezepten? Wurde der Geschmack von Menschenfleisch mit raffinierten Gewürzen verdeckt? Darauf erhält Olivia keine klare Antwort.

Als sie allein sind, kritisiert Olivia ihren Begleiter:

„Immer bist du ganz in dich selbst versunken, unfähig teilzunehmen an dem, was dich umgibt, dich dem Nächsten zu öffnen, ohne einen Funken von eigenem Enthusiasmus und immer bereit, den der anderen zu dämpfen, deprimierend bist du, indifferent – fade.“ (Seite 61)

Auch bei der nächsten Begegnung mit Salustiano Velazco kommt das Touristenpaar wieder auf das Thema Menschenopfer zu sprechen. Der Mexikaner erklärt:

„Ohne diese Reversibilität wäre das Menschenopfer undenkbar … Alle waren potenziell Opfer und Geopferte … Der zu Opfernde akzeptierte, geopfert zu werden, denn er hatte gekämpft, um andere als Opfer zu fangen …“ (Seite 62f)

Da begreift der Erzähler:

Mein Fehler mit Olivia war, mich als von ihr verspeist betrachtet zu haben, während in Wahrheit ich derjenige sein musste, ja derjenige war (ich war es immer gewesen), der sie verspeiste. Das Menschenfleisch mit dem attraktivsten Geschmack ist das Fleisch von Menschen, die selber Menschenfleisch essen. Nur wenn ich mich gierig an Olivia nährte, würde ich ihrem Gaumen nicht länger mehr fade vorkommen. (Seite 63)

Das Touristenpaar reist auch zu den vom Regenwald überwucherten Tempel- und Palast-Anlagen der Mayas in Palenque. Weil Olivia nicht gern Treppen steigt, setzt sie sich unter die Stroh-Pergola eines Restaurants am Flussufer, während der Erzähler allein auf den Tempel der Sonne hinaufsteigt – bis zu den Reliefs der Jaguar-Sonne. Und dann langsam von dort zurückkehrt.

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Über die fünf Sinne beabsichtigte Italo Calvino zu schreiben: je eine Geschichte über das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken und Tasten. Drei dieser Erzählungen konnte er vor seinem Tod noch vollenden. „Unter der Jaguar-Sonne“ ist eine davon. Sie weist Züge der fantastischen Literatur auf, und Italo Calvino schreibt in seiner eleganten Sprache vom Geschmackssinn: Ein Paar lässt sich während einer Mexiko-Reise auf die Gaumenfreuden der Landesküche ein, und während die sexuelle Erregung zwischen den beiden abnimmt, frönen sie einer Art erotisch-kannibalischer Genusssucht.

Die anderen zwei Erzählungen handeln vom Geruchs- („Der Name, die Nase“) und Gehörsinn („Ein König horcht“).

Italo Calvino wurde am 15. Oktober 1923 als Sohn eines italienischen Botanikerehepaars auf Kuba geboren und wuchs in San Remo auf. 1943 schloss er sich den Partisanen im Kampf gegen die Deutschen an. Nach dem Krieg studierte er in Turin Literaturwissenschaften und promovierte mit einer Dissertation über Joseph Conrad. Er gehörte 1959 bis 1966 zu den Herausgebern der Literaturzeitschrift „Il Menabò“ und lebte ab 1964 als freier Schriftsteller in Rom, Paris und Siena. Am 19. September 1985 starb er in Siena.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag
Die Seitenangaben beziehen sich auf die dtv-Ausgabe.

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.