Italo Calvino : Wenn ein Reisender in einer Winternacht

Wenn ein Reisender in einer Winternacht
Originalausgabe: Se una notte d'inverno un viaggiatore Giulio Einaudi editore, Turin 1979 Wenn ein Reisender in einer Winternacht Übersetzung: Burkhart Gröber Carl Hanser Verlag, München / Wien 1983 Süddeutsche Zeitung / Bibliothek, Band 50, München 2005 ISBN 3-937793-42-9, 279 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Du kaufst einen Roman des Autors Italo Calvino mit dem Titel "Wenn ein Reisender in einer Winternacht". Als du feststellst, dass sich der Text nach Seite 32 wiederholt, gehst du in die Buchhandlung, um das falsch gebundene Buch umzutauschen. Dort lernst du Ludmilla kennen, eine Leserin, der es wie dir ergangen ist. Auch in dem neuen Buch kommst du nicht über den Anfang hinaus. Da telefonierst du mit Ludmilla ...
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Kritik

In seinem originellen Roman über das Lesen entwickelt Italo Calvino ein geistreiches Leselabyrinth. Ein durchgehender Spannungsbogen ist dabei zwar nicht möglich, aber "Wenn ein Reisender in einer Winternacht" bietet ein intelligentes Lesevergnügen.
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Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Lass deine Umwelt im Ungewissen verschwimmen. Mach lieber die Tür zu, drüben läuft immer das Fernsehen […] (Seite 7)

Du beginnst du lesen, aber der Text kommt dir anders vor als das, was du bisher von Italo Calvino gelesen hast.

Der Ich-Erzähler, ein Reisender, der seinen Anschlusszug verpasst zu haben scheint, befindet sich im Bahnhofsrestaurant, als Kommissar Gorin eintritt, auf ihn zugeht und ihn warnt: „Sie haben Jan umgelegt. Hau ab!“ Arbeitet Gorin für die Geheimorganisation?

Da stößt du beim Lesen auf eine Wiederholung. Ein Leitmotiv? Eine Manieriertheit des Autors? Eine ganze Passage wiederholt sich, und da merkst du erst, dass auf die Seite 32 wieder die Seite 17 folgt: Bei dem Buch handelt es sich um einen Fehldruck. Verärgert, weil du die Lektüre nicht fortsetzen kannst, legst du es zur Seite.

Am nächsten Morgen suchst du die Buchhandlung auf, um es umzutauschen. Der Buchhändler hat bereits ein Entschuldigungsschreiben des Verlags erhalten: Beim Binden waren die Druckbogen durcheinander geraten und vertauscht worden. Der Text stammt gar nicht von Italo Calvino, sondern aus dem Roman Vor dem Weichbild von Malbork des polnischen Autors Tazio Bazakbal. Als der Buchhändler nach einem richtig gebundenen Exemplar des Romans Wenn ein Reisender in einer Winternacht sucht, erklärst du ihm, du würdest jetzt lieber den angefangenen Roman weiterlesen, und da gibt er dir ein Buch, dessen Seiten noch nicht aufgeschnitten sind.

Erst jetzt bemerkst du die junge Dame, die bei den Regalen steht. Vom Buchhändler erfährst du, dass sie ebenfalls einen Fehldruck des Romans Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zurückbrachte und das Buch genau wie du in ein Exemplar des Romans Vor dem Weichbild von Malbork von Tazio Bazakbal umtauschen ließ. Ihr sprecht kurz miteinander und tauscht eure Telefonnummern aus, damit ihr über die Erfahrungen mit dem neuen Buch sprechen könnt.

Auf der ersten Seite des Romans riecht es nach Gebratenem. Die Szene spielt in einer Küche in Kudgiwa. Brigd und Ponko, Zwida und Gritzvi sind da. Ständig entdeckst du neue Personen in der Küche. Der Ich-Erzähler greift nach einer gerahmten Fotografie mit der Widmung „Zum Gedenken an Zwida Ozkhart“ und fragt, wer das abgebildete Mädchen sei. „Lass das Bild!“, schreit Ponko, und es kommt zu einer wüsten Schlägerei.

An dieser Stelle folgen in dem Buch zwei leere Seiten. Der Rest besteht aus je zwei leeren und zwei bedruckten Seiten im Wechsel. Offenbar wurden die Bogen versehentlich nur einseitig bedruckt. Du rufst Ludmilla an. Deren Schwester Lotaria hebt ab. Schließlich kommt Ludmilla an den Apparat. Ihr Exemplar sieht genauso aus wie deines. Du hast anhand der Orts- und Personennamen bereits herausgefunden, dass es sich auch gar nicht um den Text eines polnischen Schriftstellers handelt, sondern um einen kimmerischen Roman, und ihr verabredet euch deshalb im Institut für botnisch-ugrische Sprachen und Literatur, um Professor Uzzi-Tuzii zu befragen.

Ludmilla verspätet sich, aber du nennst dem Professor schon einmal die Hauptpersonen der Geschichte – Gritzvi, Zwida, Ponko, Brigd –, und er meint sofort, da handele es sich um den einzigen erhaltenen Roman des kimmerischen Dichters Ukko Ahti: Über den Steilhang gebeugt. Er holt einen Band aus dem Bücherregal und beginnt zu übersetzen, aber du merkst sofort, dass es sich um einen ganz anderen Text handelt, und zwar um eine Art Tagebuch.

Der Verfasser ist in eine Künstlerin namens Zwida verliebt und wagt lange nicht, sie anzusprechen. Der Meteorologe Kauderer bittet ihn, während seiner Abwesenheit die Wetterstation zu betreuen und bestellt ihn eines Nachts zum Friedhof. Dort wundert der Tagebuch-Schreiber sich, dass Herr Kauderer ohne Licht mit dem Fahrrad zwischen den Grabsteinen herumfährt.

Unvermittelt klappt Uzzi-Tuzii das Buch zu. (Inzwischen ist auch Ludmilla eingetroffen.) Du fragst: „Und weiter?“ Es gibt keine Fortsetzung, erklärt der Professor, denn an dieser Stelle des Manuskripts verfiel Ukko Ahti in eine tiefe Depression und unternahm vier Selbstmordversuche, von denen der vierte glückte. Der Roman Über den Steilhang gebeugt blieb fragmentarisch.

Da taucht Lotaria auf und behauptet, der Roman sei gar nicht unvollendet. Unterstützt wird sie von Professor Galligani, dem Ordinarius für kimbrische Literatur. Tatsächlich handele es sich um einen Roman mit dem Titel Ohne Furcht vor Schwindel und Wind, den ein Schriftsteller unter dem Pseudonym Vorts Viljandi in kimbrischer Sprache verfasst habe. Davon gebe es allerdings eine kimmerische Urfassung unter dem Titel Über den Steilhang gebeugt. Ukko Ahti sei nur ein anderes Pseudonym desselben Schriftstellers.

Professor Galligani hat eines der seltenen Exemplare von Ohne Furcht vor Schwindel und Wind dabei, und Lotaria liest in einem Seminar daraus vor.

Nach einer Revolution ist Leutnant Alex Zinnober, der Ich-Erzähler, mit seinem Freund Valerian und seiner Freundin Irina Piperin zusammen. Plötzlich ergreift Irina einen Revolver und bedroht die beiden Männer.

Du möchtest wissen, wie es weitergeht, aber Lotaria hat nur einen Teil des Buches dabei, weil der andere gerade in einer zweiten Arbeitsgruppe benötigt wird.

Du begibst dich zum Verlag. Dort wirst du an Dr. Cavedagna verwiesen. Der hält dich zunächst irrtümlich für einen Autor, dessen unverlangt eingesandtes Manuskript verloren ging, aber schließlich kannst du ihn fragen, ob der Roman Ohne Furcht vor Schwindel und Wind übersetzt und von ihm verlegt wurde. Die Antwort ist etwas kompliziert. Dr. Cavedagna erzählt dir, wie Dr. Ermes Marana den Roman in mehreren Paketen übersetzte, die sogleich gesetzt wurden, um Zeit zu sparen – bis sich herausstellte, dass er kein Wort Kimbrisch kann. Statt Ohne Furcht vor Schwindel und Wind übersetzte er einen anderen Roman, angeblich Vor dem Weichbild von Malbork von Tazio Bazakbal. Aber das stimmte auch nicht. Tatsächlich handelte es sich um Regardez en bas dans l’épaisseur des ombres (Schaut in die Tiefe, wo sich das Dunkel verdichtet) von dem Franzosen Bertrand Vandervelde. Dr. Cavedagna wird fortgerufen, überlässt dir jedoch Fotokopien des Romans Schaut in die Tiefe, wo sich das Dunkel verdichtet, und du setzt dich und beginnst zu lesen:

Vergeblich zog ich den Plastiksack hoch, er reichte gerade bis an den Hals von Jojo, der Kopf blieb draußen. Die andere Möglichkeit war, ihn Kopf voran in den Sack zu stecken, aber das löste mein Problem nicht, weil dann die Beine rausragten […] (Seite 109)

Der Ich-Erzähler und eine Frau mit dem Namen Bernadette haben einen gewissen Jojo ermordet.

Kaum dass ich erfahren hatte, dass Jojo nach Paris zurückgekehrt war und meine Spur aufgenommen hatte, war ich gleich losgezogen, um meinerseits seine Spur aufzunehmen […] (Seite 113)

Bernadette lockte Jojo in eine Falle und ging mit ihm ins Bett, damit der Ich-Erzähler ihn während des Aktes unbemerkt von hinten erschlagen konnte. Dann zogen sie den Toten wieder an, zerrten ihn wie einen Betrunkenen über die Treppe hinunter und setzten ihn neben sich ins Kabrio. Als sie die Leiche von einer Brücke in den Fluss kippen wollten und der leblose Körper mit Kopf und Armen über der Brüstung hing, näherten sich zwei Flics auf Fahrrädern. Da rief der Ich-Erzähler: „Kotz dich aus, mon vieux! Kotz dir ruhig die Seele aus dem Leib, dass du den Kopf wieder klarkriegst!“ Arglos fuhren die Polizisten vorbei. Als Nächstes steckten die Mörder Jojo in den erwähnten Plastiksack und fuhren damit zu einer einsamen Stelle, wo sie die Leiche verbrennen wollten. Unterwegs ging ihnen jedoch der Treibstoff aus, und weil die Tankstellen bereits geschlossen waren, blieb ihnen nichts anderes übrig, als das Benzin aus dem Resevekanister einzufüllen, mit dem sie eigentlich die Kleidung Jojos übergießen wollten. Schließlich warfen sie die Leiche von einer Dachterrasse in einen Hinterhof. Als sie mit dem leeren Plastiksack nach unten fuhren, standen im Erdgeschoss drei Männer vor dem Lift, die Bernadette kannten und sich nach dem Inhalt des Sacks erkundigten. Der sei leer, antwortete Bernadette, aber einer der Männer fasste hinein und zog einen schwarzen Lackschuh mit weißer Kappe heraus.

Hier endet der Text auf den Fotokopien. Auf deinen dringenden Wunsch hin holt Dr. Cavedagna die Akte „Dr. Manna, Ermes“ aus dem Archiv und lässt dich die Korrespondenz lesen.

In einem seiner Briefe berichtete Manna von einem Flug, bei dem er das Manuskript In einem Netz von Linien, die sich verknoten von Silas Flannery lesen wollte.

Plötzlich berührt der kalte Lauf einer abgesägten MP meinen Brillenbügel … Ein Kommando bewaffneter Halbwüchsiger hat sich des Flugzeugs bemächtigt; der Schweißgeruch ist unangenehm; ich begreife sofort: das Hauptziel ihrer Aktion ist der Raub meines Manuskripts […] (Seite 126)

Ein anderes Mal erzählt Manna von einem Erlebnis in einem Sultanat. Die Frau des Sultans, eine polyglotte Landsmännin, litt unter der Isolation und gierte deshalb nach Lektüre, aber als der Verdacht aufkam, dass in den fremdsprachigen Texten Geheimcodes versteckt waren, durfte sie nur noch Texte in der Landessprache lesen bzw. hören. Manna bekam die Aufgabe, für sie zu übersetzen. Dann fand der Geheimdienst heraus, dass ein Umsturz geplant war und die Verschwörer nur noch auf einen Wink der Frau des Sultans warteten, um loszuschlagen. Sie hatte allerdings angeordnet, dass man sie beim Lesen nicht stören dürfe. Deshalb schlug Marana dem Sultan eine Verzögerungstaktik vor, mit der die Palastrevolte in der Schwebe gehalten werden konnte:

Er wird seine Übersetzung an der spannendsten Stelle abbrechen und einen neuen Roman zu übersetzen beginnen, den er mit Hilfe einfacher Kunstgriffe in den ersten einfügt, zum Beispiel indem er eine Person des ersten Romans ein Buch aufschlagen und lesen lässt … Auch der zweite Roman bricht ab, um Platz zu machen für einen dritten, der alsbald in einen vierten übergeht und so weiter … (Seite 133)

Während du in einem Café auf Ludmilla wartest, liest du in einem Buch, das Dr. Cavedagna dir geliehen hat: In einem Netz von Linien, die sich verknoten von Silas Flannery.

Darin geht es um einen Dozenten, der nervös wird, wenn er das Telefon klingeln hört. Er wird entführt und in einen Raum gebracht, in dem seine Studentin Marjorie Stubbs gefesselt und geknebelt auf einem Sofa liegt.

Wie bist du, Leserin? Es ist an der Zeit, dass sich dieses Buch in der zweiten Person nicht mehr nur an ein unbestimmtes männliches Du wendet, ein Du als Bruder und Doppelgänger womöglich eines scheinheiligen Ich, sondern nun auch direkt an dich, die du seit dem zweiten Kapitel als notwendige Dritte Person auftrittst, damit der Roman ein Roman werden kann, damit zwischen jener männlichen Zweiten Person und der weiblichen Dritten etwas geschehen, in Gang kommen, sich entwickeln oder auch scheitern kann entsprechend den Wechselfällen des menschlichen Lebens. Noch genauer: entsprechend den Denkmustern, nach denen wir den Wechselfällen des menschlichen Lebens die Bedeutungen geben, die sie für uns erlebbar machen. (Seite 150)

Ihr seid miteinander im Bett, Leser und Leserin. Folglich ist nun der Moment gekommen, euch in der zweiten Person Plural abzureden […] (Seite 163)

In Ludmillas Wohnung stößt du auf ein Buch mit einer Widmung „Für Ludmilla … von Silas Flannery“, das auf den ersten Blick genauso aussieht, wie das, dessen Anfang du gerade gelesen hast. Aber der Titel unterscheidet sich in einem Wort; er lautet: In einem Netz von Linien, die sich überschneiden.

Der Protagonist dieses Romans ist ein Industrieller, der Kaleidoskope sammelt, weil er sie oder auch Spiegel zum Denken benötigt. Wegen seiner Macht und seines enormen Reichtums befürchtet er eine Entführung, und um sich dagegen abzusichern, kauft er fünf gleich aussehende gepanzerte Limousinen und stellt Doubles ein. Das hilft ihm auch, seine Affäre mit Lorna vor seiner Ehefrau Elfrida geheim zu halten. Als er erfährt, dass eine Entführung durch drei Motorradfahrer geplant ist, die sich zwischen seine Eskorte und seine gepanzerte Limousine drängen sollen, ordnet er selbst eine fingierte Entführung mit drei Motorradfahrern unmittelbar vor der geplanten Entführung an, doch als sich noch etwas früher drei Motorradfahrer zwischen seine Eskorte und seine Limousine drängen, begreift er, dass sein Gegenplan von einem Gegen-Gegenplan durchkreuzt wurde.

Der Schriftsteller Silas Flannery schreibt in seinem Tagebuch von einer Frau, die auf der Terrasse eines Chalets unterhalb seines Anwesens jeden Tag in einem Liegestuhl liest. Er stellt sich vor, wie er und ein konkurrierender Schriftsteller der Frau ihre gerade abgeschlossenen Manuskripte geben. Nachdem ein Windstoß die Blätter durcheinander gewirbelt hat, versucht die Leserin, sie wieder zu ordnen. Das Ergebnis ist ein von den Kritikern über die Maßen gelobter Roman, von dem man nicht weiß, welchem der beiden Schriftsteller man ihn zuordnen soll.

Ein Leser kommt bei Silas Flannery vorbei, der zwei äußerlich fast gleiche Exemplare des Romans In einem Netz von Linien, die sich verknoten bzw. überschneiden gefunden hat, bei denen es sich jedoch um zwei völlig verschiedene Romane handelt. Flannery weiß Bescheid: Es handelt sich um Fälschungen, made in Japan. Betrüger verkaufen Romane unbedeutender Romane unter dem Namen des berühmten Schriftstellers, um von dessen Welterfolg zu profitieren. Als der Leser zugibt, die Fälschung habe ihm durchaus gefallen und er würde sie gern zu Ende lesen, schenkt Silas Flannery ihm eine englische Übersetzung des entsprechenden Romans von Takakumi Ikoka: Auf dem mondbeschienenen Blätterteppich.

Nach dem Besuch des Lesers hat Silas Flannery eine Idee und notiert in seinem Tagebuch:

Bin auf den Gedanken gekommen, einen Roman zu schreiben, der nur aus lauter Romananfängen besteht. Der Held könnte ein Leser sein, der ständig beim Lesen unterbrochen wird. Er kauft sich den Roman A des Autors Z. Doch er hat ein defektes Exemplar erhalten und kommt nicht über die ersten Seiten hinaus … Er geht in die Buchhandlung, um den Band umzutauschen …
Ich könnte das Ganze in der zweiten Person schreiben: du, Leser … Ich könnte auch eine Leserin einführen, einen fälschenden Übersetzer und einen alten Schriftsteller, der ein Tagebuch führt wie dieses hier. (Seite 208f)

Auf dem mondbeschienenen Blätterteppich ist ein erotischer japanischer Roman. Hauptfiguren sind der Ich-Erzähler, Herr Okeda, dessen Ehefrau Miyagi und ihre Tochter Makiko. Der Ich-Erzähler hat es auf die Tochter abgesehen, aber als er ihr durch die Räume folgt, stößt er auf Frau Miyagi, und ehe er sich versieht, zieht sie ihn auf den Boden.

Schon verschränkten sich ihre kleinen, mit weißen Baumwollsocken bekleideten Füße fest über meinem Kreuz und pressten mich wie ein Schraubstock. (Seite 220)

Er ruft nach Makiko. Das Mädchen kniet im leicht geöffnetem Kimono in der Schiebetür. Von weiter hinten beobachtet auch Herr Okeda die Szene.

Du hast während eines Fluges in Auf dem mondbeschienenen Blätterteppich gelesen, bist jedoch nicht bis zum Ende gekommen. Nach der Landung nehmen dir Grenzbeamte das Buch ab.

„Beschlagnahmt, Señor! Dieses Buch darf nicht nach Araguitanien eingeführt werden. Es ist ein verbotenes Buch.“ (Seite 224)

Eine unbekannte Frau flüstert dir zu, sie habe noch ein Exemplar des Romans. Im Taxi gibt sie dir ein Buch, aber auf dem Umschlag steht: Rings um eine leere Grube von Calixto Bandera. Sie behauptet zwar, das sei nur wegen der Tarnung, aber auch der Inhalt ist ein völlig anderer. Euer Taxi wird von einem anderen Taxi verfolgt, dem wiederum ein Taxi folgt. Von den Männern in einem der Taxis wirst du festgenommen, die aus dem anderen Taxi befreien dich und bringen dich in ein fingiertes Gefängnis.

In dem Roman Rings um eine leere Grube verrät Don Anastasio Zamora seinem sechzehnjährigen Sohn Nacho auf dem Sterbebett, wo dieser seine Mutter finden könne, die er nie kennen gelernt hat. Nacho reitet nach Oquedal. Ist Anacleta Higueras, die ihn wie ein Sohn aufnimmt, seine Mutter? Bevor Nacho die Antwort herausfindet, wird er von ihr mit ihrer Tochter Amaranta ertappt, und da gerät sie außer sich und schickt ihn weiter zu Doña Jazmina. Als die ihn mit ihrer Tochter Jacinta erwischt, kommt es zu einer fürchterlichen Szene, und sie behauptet, Anacleta Higueras sei seine Mutter. Anacleta erzählt ihm schließlich von seinem Vater. Der sei wegen ihr mit ihrem Bruder Faustino Higueras in Streit geraten, habe Faustino in einem Kampf auf Leben und Tod besiegt und sei danach aus Oquedal fortgezogen. Im nächsten Augenblick taucht Amarantas Bruder auf, und um die von Nacho durch den Kuss verletzte Ehre der Familie wiederherzustellen, fordert er ihn zu einem Kampf auf Leben und Tod heraus.

Du trinkst Tee mit Arkadian Porphyritsch, einem der feinsinnigsten Gelehrten Irkaniens, dem Generaldirektor der Staatspolizeiarchive. Du forscht nach dem Roman Rings um eine leere Grube von Calixto Bandera, den du nicht zu Ende lesen konntest. Porphyritsch blättert in einer Kartei und wird fündig: Ein Informant hat ausgesagt, dass der Untergrundschriftsteller Anatoly Anatolin an einer Übersetzung des Buches ins irkanische Milieu arbeitet, einem Roman mit dem Titel Welche Geschichte erwartet dort unten ihr Ende?. Die Beschlagnahme ist bereits geplant. Du hast vor, den Behörden von Irkanien zuvorzukommen und vor ihnen in den Besitz des Manuskripts zu gelangen. Unmittelbar nach der konspirativen Übergabe auf einer Anlagenbank wird Anatoly Anatolin verhaftet.

In Welche Geschichte erwartet dort unten ihr Ende? hat Anatoly Anatolin ein kafkaeskes Szenario entworfen: Der Ich-Erzähler löscht in Gedanken alles aus: Kasernen, Uniformierte usw.

Ich kontrolliere, ob keine Kliniken, Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten stehen geblieben sind: Ärzte, Pflegepersonal und Patienten abzuschaffen, scheint mir die einzig mögliche Gesundheitspflege zu sein. Dann kommen die Gerichte dran, mit allen Richtern, Anwälten, Angeklagten und Klägern, die ganze Rechtspflege, auch die Gefängnisse mit den Gefangenen und ihren Wärtern […] (Seite 262)

Am Horizont sieht er seine Freundin Franziska auf sich zukommen. Über Risse im Boden, Abgründe und Fragmente der Welt springt er, um zu ihr zu gelangen.

Leser und Leserin, nun seid ihr Mann und Frau. Ein großes Ehebett empfängt eure parallelen Lektüren.
Ludmilla klappt ihr Buch zu, macht ihr Licht aus, legt ihren Kopf auf das Kissen, sagt: „Mach du auch aus. Bist du nicht lesemüde?“
Und du: „Einen Moment noch. Ich beende grad Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino.“ (Seite 277)

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„Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ ist ein origineller, geistreicher Roman über das Lesen. Italo Calvino entwickelt in dem Buch ein ideenreiches, raffiniertes Leselabyrinth, einen „Komplex von Verzahnungen, Täuschungen, Fallen“ (Seite 200).

Ich krame zu viele Geschichten auf einmal aus, aber ich möchte, dass man rings um die Geschichte, die ich erzähle, eine Überfülle von anderen Geschichten spürt, die ich auch erzählen könnte und vielleicht noch erzählen werde […] (Seite 115)

Der Leser und mitunter auch die Leserin werden von Italo Calvino in der zweiten Person Singular angesprochen und gewissermaßen zu Protagonisten des Romans gemacht, der wie ein Kaleidoskop oder eine mehrfache Spiegelung wirkt. Selten entspricht die Form eines Romans so perfekt dem Inhalt. Ein durchgehender Spannungsbogen ist dabei zwar nicht möglich, aber „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ bietet ein intelligentes Lesevergnügen.

Italo Calvino wurde am 15. Oktober 1923 als Sohn eines italienischen Botanikerehepaars auf Kuba geboren und wuchs in San Remo auf. 1943 schloss er sich den Partisanen im Kampf gegen die Deutschen an. Nach dem Krieg studierte er in Turin Literaturwissenschaften und promovierte mit einer Dissertation über Joseph Conrad. Er gehörte 1959 bis 1966 zu den Herausgebern der Literaturzeitschrift „Il Menabò“ und lebte ab 1964 als freier Schriftsteller in Rom, Paris und Siena. Am 19. September 1985 starb er in Siena.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.