Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody
Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody
Inhaltsangabe
Kritik
Im Jahr 2092 können die Menschen aufgrund des medizinischen Fortschritts praktisch unbegrenzt leben, denn sie altern nicht. Ein 118-jähriger Mann, der seinen Namen nicht mehr weiß und der deshalb Nemo (lateinisch: niemand) bzw. Mr Nobody (englisch: Herr Niemand) genannt wird, ist der letzte sterbliche Greis (Jared Leto). Er liegt im Krankenhaus, und die Ärzte rechnen mit seinem baldigen Ableben.
Dr. Feldheim (Allan Corduner) versetzt Mr Nobody in Hypnose, damit dieser sich an seine Biografie erinnert. Der alte Mann erzählt seine Geschichte auch einem jungen Reporter (Daniel Mays), der sich mit Hilfe einer befreundeten Krankenschwester eingeschlichen hat. Zugleich werden Aufnahmen von Mr Nobody live auf riesige Bildschirme überall in der Stadt übertragen.
Er glaubt, dass er in die Zukunft sehen konnte, weil es die Engel des Vergessens (Alice van Dormael, Juliette Van Dormael) im Himmel versäumt hatten, ihm wie allen anderen Kindern vor der Geburt das Wissen um die Zukunft zu nehmen.
Seine Erinnerungen beginnen mit einem Ereignis, das er nur vom Erzählen kennt: Seine Eltern (Rhys Ifans, Natasha Little) lernten sich durch Zufall auf der Straße kennen. Der Mann, der sein Vater werden sollte, war auf dem Blatt eines Baumes ausgerutscht, und heiratete später die Frau, die ihm besorgt beim Aufstehen geholfen hatte. Als Nemo neun Jahre alt war (Thomas Byrne), trennten sich seine Eltern. Zu dritt warteten sie auf den Zug, mit dem seine Mutter wegfahren wollte. Das Kind musste sich entscheiden, ob es mitkommen oder beim Vater bleiben wollte. Erst als der Zug anfuhr, begann Nemo zu rennen.
Der Greis weiß nicht mehr, ob er damals noch aufspringen konnte oder nicht. Einmal sieht er sich in der Erinnerung, wie er seinen kranken Vater pflegt. Ein anderes Mal ist er bei seiner Mutter. Sie beginnt sechs Jahre nach der Trennung von Nemos Vater eine Liebesbeziehung mit einem Mann namens Harry (Michael Riley), der eine Tochter in Nemos Alter hat. Anna (Juno Temple) ist zufällig das Mädchen, in das der Fünfzehnjährige (Toby Regbo) sich verliebt hat und das seine Gefühle erwidert. Annas Vater und Nemos Mutter trennen sich jedoch nach einiger Zeit und reißen auch die Kinder auseinander. Anna schreibt Nemo zwar nach ihrem Umzug einen Brief aus New York, aber den erhält Nemo nicht, weil ihn seine Mutter ungeöffnet zerreißt.
Im Alter von fünfzehn Jahren gefielen Nemo neben der brünetten Anna auch die blonde Elise (Clare Stone) und die schwarzhaarige Asiatin Jean (Audrey Giacomini). In seiner Erinnerung sieht er sich einmal frisch vermählt mit Anna (ab jetzt: Diane Kruger) aus der Kirche kommen, dann mit Elise (Sarah Polley) und schließlich mit Jean (Linh Dan Pham). Welche der drei Frauen er tatsächlich heiratete, weiß er nicht mehr.
Am deutlichsten erinnert er sich an die Ehe mit Elise. Sie hatte sich von ihm dazu überreden lassen, obwohl sie einen Mann namens Stefano mehr als ihn liebte. Im Lauf der Zeit bekamen sie drei Kinder. Elise litt unter einer schweren Depression, denn trotz der Liebe ihres Mannes trauerte sie um die mögliche Beziehung mit Stefano, die sie für die Ehe mit Nemo geopfert hatte. Als Nemo einmal das Auto wusch und sie sich ungerechterweise darüber beschwerte, dass er sich mehr um den Wagen als um sie kümmern würde, übergoss er ihn mit Benzin und fackelte ihn ab. Elise befürchtete, dass Nemo sie wegen ihrer Depression verlassen könnte, und um ihm zuvorzukommen, lief sie eines Nachts auf und davon.
In einem anderen Erinnerungsbruchstück sitzt Nemo mit Elise im Auto. Der Verkehr staut sich. Sie kommen hinter einem Tanklastzug zum Stehen. Der explodiert. Dabei wird Elise getötet.
Andere Bilder tauchen auf: Nemo wird in der Badewanne von zwei Gangstern erschossen, die ihn mit jemand anderem verwechselt haben. Er stürzt mit seinem Auto ins Wasser, kann sich nicht aus dem Wrack befreien und droht zu ertrinken. Nemo liegt im Krankenhaus. Die Ärzte halten seinen Zustand für ein Wachkoma, aber er hört sie sprechen und spürt die Berührungen der Krankenschwestern, ohne sich in irgendeiner Weise äußern oder auch nur einen winzigen Muskel bewegen zu können [Locked-In-Syndrom].
Durch Zufall begegnen sich Nemo und Anna am Grand Central Terminal in New York. Anna beschloss mit fünfzehn, nie einen anderen Mann als Nemo zu lieben und realisierte deshalb verschiedene Lebensentwürfe nicht, die sich ihr anboten. Aber das Wiedersehen ist nun so überraschend und plötzlich für sie, dass sie Nemo um Bedenkzeit bittet und ihm ihre Telefonnummer auf ein Blatt Papier schreibt. In zwei Tagen soll er sie anrufen. Bis dahin will sie sich für oder gegen ein gemeinsames Leben mit ihm entscheiden.
Aber ein brasilianischer Schneider, der arbeitslos geworden ist, weil billige Jeans den Markt überschwemmt haben, kocht sich ein Ei, und so wie es in der Chaostheorie beschrieben ist, löst der aufsteigende Wasserdampf in New York einen Regenguss aus, der die mit Tinte geschriebene Telefonnummer auf Nemos Blatt Papier bis zur Unleserlichkeit verwischt.
Bald darauf glaubt der Achtundvierzigjährige eine Telefonnummer wie den berühmten Schriftzug in Hollywood auf einem Hügel zu sehen. In der Hoffnung, dass es sich um Annas Anschluss handelt, lässt er sich von der Auskunft die dazugehörige Adresse durchgeben und fährt hin. In einer baufälligen Hütte findet er eine dick mit Staub überzogene DVD. Als er sie in einen Player schiebt, erscheint auf dem Bildschirm er selbst als 118 Jahre alter Greis. Der spricht zu ihm aus dem Jahr 2092 und meint, es könne doch sein, dass die Eltern sich überhaupt nie kennenlernten.
Dem jungen Reporter erklärt Mr Nobody, möglicherweise seien sie beide nicht real, sondern existierten nur in der Vorstellung eines Neunjährigen, der glaubt, in die Zukunft schauen zu können.
Anna berechnete, dass die Zeit am 12. Februar 2092 enden wird. An diesem Tag träumt Mr Nobody von ihr und stirbt. Aber dann beginnt die Zeit, rückwärts zu laufen, und er erhebt sich vom Totenbett.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In „Mr Nobody“ (Kino, DVD) bzw. „Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody“ (TV) zeigt Jaco Van Dormael einen Greis, der in seinen Erinnerungen verschiedene Alternativen durchspielt. Er sieht sich als Kind, Jugendlicher, Ehemann, Wissenschaftler, Obdachloser, Mars-Bewohner, Greis. Was wäre geschehen, wenn er sich in einer bestimmten Lebenssituation für die eine oder die andere Möglichkeit entschieden hätte? – Es könnte aber auch sein, dass der alte Mann und seine Erinnerungen nur in der Vorstellung eines neunjährigen Jungen existieren, der glaubt, in die Zukunft sehen zu können.
Jaco Van Dormael spielt in „Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody“ mit der Perspektive, der Zeit (die mitunter rückwärts läuft und Ereignisse ungeschehen macht) und verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten. Auch eine auf den ersten Blick noch so unbedeutend erscheinende Weichenstellung kann weitreichende Folgen haben, so wie es der Meteorologe Edward N. Lorenz in der Chaostheorie mit dem Schmetterlingseffekt erläuterte: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien löst unter Umständen einen Tornado in Texas aus. Warum wir uns in einer bestimmten Situation so oder so entscheiden, wissen wir oft gar nicht. Manches Verhalten basiert auf Aberglauben, so wie die in „Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody“ anfangs gezeigte Taube, die im Testlabor zufällig mit den Flügeln schlägt, als sie Futter bekommt und dadurch darauf konditioniert wird, zu flattern.
Philosophische, erkenntnistheoretische, psychologische, ethologische und kosmologische Themen werden berührt. Jaco Van Dormael beschäftigt sich mit Zufall, Selbstbestimmung und einer Folge von Erinnerungen, die ein Ich für die eigene Biografie hält.
In „Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody“ wird keine lineare Geschichte erzählt. Stattdessen befinden wir uns staunend in einem komplexen, verschachtelten, labyrinthartigen Panoptikum, in dem mindestens drei verschiedene Entwicklungen gleichzeitig ablaufen. Dabei bleiben Lücken und offene Fragen.
Überzeugender als die „Handlung“ ist die Form des unkonventionellen Films. Optisch ist „Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody“ großes Kino. Jaco Van Dormael, der Kameramann Christophe Beaucarne und die Cutter Susan Shipton und Matyas Veress setzen eine Fülle von stilistischen Möglichkeiten kreativ ein. Einige technische Effekte sind so unauffällig, dass sie vielleicht erst beim zweiten Anschauen auffallen. Man hat Jaco Van Dormael „seelenlose Virtuosität“ (Rainer Gansera) und „Clip-Bombastik“ vorgeworfen, aber ich finde die ungewöhnliche Ästhetik des Films poetisch und faszinierend.
Offenbar ließen sich Jaco Van Dormael und seine Kollegen stilistisch und inhaltlich von anderen Filmen inspirieren, etwa von „2001. Odyssee im Weltraum“, „Harold und Maude“, „Lola rennt“, „Die Truman Show“, „Matrix“ und „Die fabelhafte Welt der Amélie“.
Es heißt, der Belgier Jaco Van Dormael (* 1957) habe dreizehn Jahre lang am Drehbuch seines nach „Toto, der Held“ (1991) und „Am achten Tag“ (1996) dritten Kinofilms gearbeitet. Die Dreharbeiten für „Ein Mann, drei Leben. Mr Nobody“ begannen am 4. Juni 2007 und dauerten ein halbes Jahr. Sie fanden statt in Belgien (Brüssel, Watermael-Boisfort, ACB Factory in Anderlecht), Deutschland (Berlin, Hauptbahnhof Leipzig, Flughafen in Schkeuditz, Filmstudio Babelsberg in Potsdam), USA (Grand Central Terminal in New York) und Kanada (Montreal, Beaconsfield, Kirkland, Sainte-Anne de Bellevue, Ottawa).
Das Budget soll mehr als 30 Millionen Euro betragen haben.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Jaco Van Dormael: Am achten Tag
Jaco Van Dormael: Das brandneue Testament