Lukas Hartmann : Bis ans Ende der Meere

Bis ans Ende der Meere
Originalausgabe: Bis ans Ende der Meere Diogenes Verlag, Zürich 2009 ISBN: 978-3-257-06686-9, 487 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Lukas Hartmann erzählt von der dritten großen Expedition und dem Tod des englischen Kapitäns James Cook. Dabei thematisiert er das Spannungsverhältnis von Wahrheit, Macht und Medien. Außerdem weist er darauf hin, dass Entdeckungsreisen das Leben der indigenen Völker veränderten – häufig verschlechterten. Von der angeblichen Überlegenheit der Europäer gegenüber den Insulanern war nichts mehr zu erkennen, wenn sie nach wochenlangen Etappen auf Frauen trafen.
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Kritik

Auf der Grundlage umfangreicher Recherchen und mit viel Liebe zum Detail hat Lukas Hartmann in "Bis ans Ende der Meere" Fakten und Fiktion zu einem farbigen, mehrschichtigen Roman mit lebendigen Charakteren und anschaulich geschilderten Abenteuern verknüpft.
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Im Juni 1776 wird der vierundzwanzigjährige Maler John Webber auf einer Ausstellung der Royal Academy in London von Daniel Carl Solander angesprochen. Der schwedische Botaniker, der James Cook auf dessen erster Weltumsegelung begleitet hatte, unterrichtet Webber über die geplante dritte Expedition des berühmten Kapitäns, schlägt ihm vor, sich als Expeditionsmaler zu beteiligen und gibt ihm zwei Tage Bedenkzeit.

John Webber liebt Dorothy Sharp, die Tochter eines reichen Schlachtermeisters, dessen Salon er mit der Szene „Das Urteil des Paris“ ausgemalt hatte. Dorothys Vater will jedoch nicht, dass sie sich mit dem mittellosen Maler abgibt. Bevor Webber sich entscheidet, ob er bei der mehrjährigen Seereise mitmacht, passt er Dorothy auf dem Shepherd Market ab. Sie erklärt ihm rundheraus, dass er keine Chance habe, sie zur Frau zu bekommen.

Also unterschreibt Webber den Vertrag, den Solander und Samuel Peckover, der Sekretär des Ersten Lords der Admiralität, ihm vorlegen.

James Cook will diesmal nach einer Nordwestpassage zwischen Pazifik und Atlantik suchen. Außerdem soll der „edle Wilde“ Omai, den Tobias Furneaux, der Kapitän der „Adventure“, von Cooks zweiter Südsee-Reise aus Huahine (Tahiti) nach London mitgenommen hatte, in seine Heimat zurückgebracht werden.

Die Reise auf dem Dreimaster „Resolution“ beginnt am 12. Juli 1776 in Plymouth. Zur Besatzung gehören mehr als hundert Männer im Alter zwischen vierzehn und sechzig. Die Pferde und Kühe, Schafe, Ziegen und Geflügel, die mit an Bord sind, sollen regionalen Herrschern in der Südsee als Gastgeschenke angeboten werden.

Während eines Aufenthalts in Teneriffa erhält John Webber den ersten Auftrag von James Cook: ein möglichst genaues Ölgemälde des Hafens von Santa Cruz. Der Kapitän schärft dem Expeditionsmaler ein, dass es seine Aufgabe sei, die Reise zu dokumentieren und nicht, Raffael nachzueifern.

Kapitän Charles Clerke, der bereits an den beiden ersten Weltumsegelungen Cooks teilgenommen hatte, schließt sich der Expedition in Kapstadt an, diesmal als Kapitän des zweiten Schiffes, der „Discovery“, und das, obwohl er schwer krank ist.

Das grausame, demütigende Ritual der Äquatortaufe bleibt John Webber nicht erspart.

Er gilt als Außenseiter. Freundschaften schließt er nur mit dem ein Jahr älteren Schiffsarzt William Anderson und dem siebzehnjährigen Fähnrich James Trevenen, dem einige Matrosen wegen seines femininen Aussehens nachstellen. Wochenlang ohne Geschlechtsverkehr auszukommen, fällt den meisten Männern schwer. Umso unbeherrschter verhalten sie sich, wenn sie Frauen zu sehen bekommen, zumal wenn diese ihre Brüste nicht verhüllen.

6. Mai 1777. Auf Nomuka, genannt Rotterdam, eine der vielen Freundschaftsinseln. Seit einer Woche hier vor Anker, in 18 Faden tiefem Wasser. Captain Cook kannte die Lücke im Korallenriff, durch die wir in die Bucht gelangten. Was für eine Explosion von Farben und Gerüchen nach so langer Zeit auf hoher See! […] Der Anblick übertraf meine paradiesischste Vision! Die Männer wie von Sinnen, grenzenloser Jubel beim Ankern, noch nie wurde das Gangspill so schnell gedreht! Die Insulaner fuhren gleich zu uns heraus, die Kanus beladen mit Kokosnüssen, Yamswurzeln, Zuckerrohr, grünen Bananen, Ferkeln, Geflügel, die gegen das Übliche – Nägel, Eisenstücke, Stoff – eingetauscht wurden. Junge Frauen waren dabei, die den Matrosen zuwinkten. So wohlgestaltet – bis zum Gürtel nackt und honigfarben – sind sie, dass es einem den Atem verschlägt. Einige Männer bekennen offen, nur der Südseefrauen wegen hätten sie sich anheuern lassen. Aber hier wurde nun in der Tat ein jeder, bevor er ins Beiboot stieg, von Anderson an intimster Stelle untersucht […], und ein halbes Dutzend, bei denen er eine Erkrankung feststellte, mussten, zu ihrem allergrößten Unwillen, an Bord bleiben. (Seite 124f)

James Cook legt großen Wert darauf, die Insulaner zwar mit Errungenschaften der europäischen Zivilisation bekannt zu machen, sie jedoch nicht mit Krankheiten anzustecken.

Nichts, so scheint mir, nichts […] kränkt ihn tiefer als die Niederlage, die er in der Verbreitung der Syphilis sieht; nichts bedrückt ihn so sehr wie die Vergeblichkeit seines Kampfs gegen den Geschlechtstrieb der Mannschaft. Etwas anderes, das er kürzlich äußerte, klingt mir zudem in den Ohren nach. „Wir sind, meine Herren“, sagte er, mit der Gabel in einem Rest Sauerkraut stochernd, „Boten der Zivilisation, wir meinen, das Gute auf die Inseln zu bringen, Wissenschaft und Fortschritt, doch im selben Maß fährt das Schlechte mit uns, nicht nur die Krankheit, auch unser Drang, das Erforschte, tot oder lebendig, besitzen zu wollen.“ (Seite 375)

Am liebsten würde James Cook seinen Männern verbieten, sich mit den einheimischen Frauen einzulassen, aber das übersteigt selbst seine Macht. Deshalb tut er so, als bemerke er das Treiben nicht. Bei Diebstählen und anderen Vergehen greift er jedoch mit drakonischen Strafen erbarmungslos durch.

Acht Wochen ohne Landgang waren lang. Unter der Mannschaft verbreitete sich eine mürrische Stimmung. Die Tiere begannen zu hungern, die Wasservorräte gingen zur Neige. Was ausgeschenkt wurde, schmeckte immer schlechter; sogar mit Rum vermischt, erregte das Brackwasser Ekel. An mehreren aufeinanderfolgenden Tagen stahl jemand gepökeltes Fleisch aus dem Fass. Cook verlangte kategorisch, dass der Dieb oder die Diebe sich meldeten oder denunziert würden. Aber die Männer schwiegen. Wie immer, wenn es um Diebstahl ging, wurde Cook rasch zornig […]
Auf welchem Weg Cook den Namen des Diebs erfuhr, wusste niemand. Es war John Allen, ein Marinesoldat, der schon wegen häufiger Trunkenheit aufgefallen war. Cook ließ ihn am nächsten Tag mit sechsunddreißig Peitschenhieben bestrafen, das war ungewöhnlich streng für dieses Vergehen. Der Kapitän, den Hut korrekt aufgesetzt, stand mit verschränkten Armen dabei, mit jedem Zoll, so dachte Webber, eine imposante Erscheinung, gleichsam die Verkörperung des Gesetzes […] Allen blutete stark, als man ihn losband, am stärksten aus dem Mund. Er hatte verlangt, dass man ihm ein Lederstück zwischen die Zähne schob. Nun hatte er es durchgebissen und die halbe Zunge dazu. (Seite 120f)

Von Neuseeland nimmt Omai sich zwei junge Maori – Tiarua und Loa – als Diener mit. Bei der Ankunft in der Matavai-Bucht von Tahiti führt er sich auf, als sei er ein Nebenkönig. Er lässt sein Pferd an Land schaffen, um damit den Insulanern seine in England erworbenen Reitkünste vorzuführen. Nachdem er den Harnisch angelegt hat, den er geschenkt bekam, fordert er ein paar Männer auf, ihn mit ihren Speeren anzugreifen und gibt vor, er sei unverwundbar. Bevor der junge Polynesier im Oktober 1777 auf der Insel Huahine abgesetzt wird, lässt James Cook ein zweistöckiges Haus für ihn errichten.

Nachdem Cook, Webber und ein paar andere Besatzungsmitglieder bei einem Menschenopfer zuschauten, diskutieren sie in der Messe auf der „Resolution“ darüber, ob fremde Bräuche wie Menschenopfer bekämpft oder toleriert bzw. respektiert werden sollen. Leutnant James King weist auf die biblische Geschichte von Abraham und Isaak hin, Leutnant John Gore erinnert an die Hexenverbrennungen, aber James Cook meint, die Europäer hätten den Zustand der Barbarei längst überwunden und sollten jetzt anderen Völkern als Vorbild dienen. Es gelte, das Licht der Erkenntnis zu verbreiten. Der Navigator William Bligh plädiert dafür, den „Wilden“ alles auszutreiben, was gegen christliche Gebote und britische Gesetze verstößt:

„Warum denn sind wir hier?“, fragte Bligh. „Was hat uns befähigt, das Meer zu überqueren? Warum sind andere Völker nicht zu uns nach England gekommen? Worauf deutet dies hin, Mr King? Nicht doch auf beweisbare Überlegenheit?“ […]
„Vielleicht auf Macht- und Besitzdrang“, sagte Anderson so leise, dass man ihn beinahe nicht verstand.
Cook schob sein Glas von sich weg und erhob sich abrupt; er war auf mir unbegreifliche Weise aufgewühlt. „Mr Anderson, Sie neigen zu Übertreibungen, das schadet Ihrem Verstand. Das Verständnis für andere Kulturen muss dort an Grenzen stoßen, wo wir in unseren christlichen Werten beleidigt werden. Das dürfen Sie sich gerne merken. Wobei diese Grenzziehung – auch das merken Sie sich, Mr Anderson – unsere wissenschaftliche Neugier keineswegs tangieren sollte.“ (Seite 154)

Bei einer anderen Gelegenheit entbrennt eine Diskussion über den Eigentumsbegriff der „Wilden“ im Vergleich zu dem der Europäer.

Weil Anderson an Schwindsucht leidet, rät Webber ihm, auf einer warmen Südseeinsel zu bleiben, statt mit der Expedition in die Arktis weiterzufahren, aber der Schiffsarzt glaubt nicht, dass der Kapitän ihn gehen lassen werde. Tatsächlich lehnt James Cook bald darauf ein entsprechendes Gesuch von Charles Clerke und William Anderson ab. Die beiden Kranken fügen sich.

Während die Expeditionsschiffe im Dezember 1777 vor Raiatea ankern, einer der Gesellschaftsinseln, desertieren der sechzehnjährige Fähnrich Alexandre Mouat und der drei Jahre ältere Matrose Thomas Shaw. Um König Orio zu zwingen, die Deserteure auszuliefern, lässt Captain Cook Sohn, Tochter und Schwiegersohn des Herrschers als Geiseln nehmen. John Webber nutzt die Gelegenheit, die auf der „Discovery“ eingesperrte barbusige Poetua zu malen und verliebt sich dabei in die schöne junge Frau. Als Mouat und Shaw nach fünf Tagen zurückgebracht werden, lässt Cook die Geiseln frei, aber Poetua geht Webber nicht mehr aus dem Sinn.

Im Januar 1778 entdeckt James Cook Hawaii. Von der Insel Kauai segeln die „Resolution“ und die „Discovery“ nach Nordosten; Cook erforscht die Küste Nordamerikas und Alaskas, stößt in die Beringstraße vor und erreicht schließlich Kap Deschnjow, den nordöstlichsten Punkt Sibiriens bzw. Asiens. Nach der Nordwestpassage, also einer schiffbaren Verbindung von Pazifik und Atlantik nördlich des amerikanischen Kontinents, sucht er vergeblich.

Als William Anderson am 3. August 1778 stirbt, konfisziert der Kapitän das Journal des Schiffsarztes, obwohl Webber es bekommen sollte, und er nimmt dem Maler auch die einzige Zeichnung weg, die dieser von seinem Freund angefertigt hatte.

Vor dem Wintereinbruch wendet Cook sich wieder nach Süden und legt am 16. Januar 1779 in der Kealakekua-Bucht im Westen der Insel Hawaii an, wo sie von den Einheimischen freudig begrüßt werden.

So fuhren wir in die Bucht von Kealakekua hinein und trauten unseren Augen nicht ob des Gewimmels der Kanus, die beinahe die ganze Wasseroberfläche bedeckten. Es wurden immer noch mehr, Hunderte waren es, die uns umgaben, Hunderte mit jubelnden Männern und Frauen. Ein verwirrendes, betäubendes Spektakel, ein Wirbel an Farben und Düften, die zu uns hertrieben. Blumengirlanden an Frauenhälsen und über Brüsten liegend, die Ruderbewegungen nackter Oberarme, Schweißglanz auf brauner Haut, das Aufblitzen von Rot und Gelb der Federhelme, geblähte rote Segel im Sonnenlicht. Wir kamen, als wir die Kanus zählten, auf über 1000 […] und gewiss waren es gegen 10 000 Menschen, die in ihnen saßen und standen, ganz zu schweigen von den vielen, die zwischen ihnen schwammen. (Seite 353)

Koa, ein hoher Priester, heißt die Seefahrer willkommen und lädt den Kapitän ein, an Land zu gehen, wo er ihn zum Kultplatz, dem Heiau, führt. Die Insulaner werfen sich vor James Cook auf den Boden, halten ihn wohl für einen Gott. Erst nach Tagen erscheint auch König Kaleiopuu und begrüßt die Fremden.

Als der siebenundvierzigjährige Matrose William Watman einem Schlaganfall erliegt, erlaubt Koa seine Beisetzung auf dem Kultplatz. Aber von da verehren die Hawaiianer James Cook nicht mehr, und Diebstähle häufen sich. Die Europäer beeilen sich, Hawaii am 4. Februar zu verlassen. Doch sie kommen nicht weit: Bei einem Sturm wird einer der Masten beschädigt, und sie müssen umkehren. Am 11. Februar werfen sie in der Kealakekua-Bucht erneut Anker. Diesmal sind keine Kanus zu sehen, und der Strand bleibt leer.

Während der Reparaturarbeiten werden die Männer mit Steinen beworfen. Ein Anführer namens Palea stellt die Ordnung wieder her, aber die Spannung bleibt bestehen, und Kaleiopuu fordert Charles Clerke auf, die Insel so rasch wie möglich wieder zu verlassen.

Nachdem das beste Beiboot der „Discovery“ gestohlen wurde, lässt Captain Cook sich am 14. Februar 1779 persönlich an Land rudern, um König Kaleiopuu als Geisel zu nehmen. Leutnant Moesworth Phillips begleitet ihn mit neun Marineinfanteristen. Während sie den Strand überqueren, erhalten sie Feuerschutz von Leutnant John Williamson und weiteren Männern, die an Bord der Barkasse bleiben. Kaleiopuu kommt aus dem Haus und folgt Cook ohne Widerstand, doch auf halbem Weg stellen sich seine Frau und zwei Häuptlinge der Gruppe in den Weg. Die Insulaner rotten sich bedrohlich zusammen. John Webber, der die Ereignisse vom Schiff aus beobachtet, kann am Ende nicht sagen, ob Cook schoss und einen Hawaiianer tötete oder seine Leute vom Schießen abhalten wollte, ob er erstochen oder mit einer Keule erschlagen wurde. Die Aussagen widersprechen sich. Jedenfalls blieben die Leichen von James Cook und vier Marinesoldaten am Strand liegen, als Williamson, Phillips und die anderen auf der Barkasse zur „Resolution“ zurückkehrten.

Anstelle des toten Kapitäns übernimmt Charles Clerke das Kommando und lässt sich von Leutnant John Gore als Kapitän der „Discovery“ ablösen.

Vergeblich bittet Leutnant James King am nächsten Tag um die Übergabe der Toten.

Die Männer, die den Trinkwasservorrat der Schiffe auffüllen sollen, werden angegriffen. Das Geplänkel eskaliert zu einem Massaker: Mit Schiffsgeschützen werden Häuser in Brand geschossen und ein Dorf völlig zerstört. Schätzungsweise zwei- bis dreihundert Insulaner kommen dabei ums Leben.

Von James Cook bekommen die Seefahrer am 20. Februar nur sauber abgeschabte Knochen zurück. Die Leiche wurde offenbar zerstückelt und zum Teil verspeist. Nur an den Händen hängt noch Fleisch. Die sterblichen Überreste des Kapitäns werden am nächsten Tag im Meer versenkt. Am 22. Februar segeln die „Resolution“ und die „Discovery“ weiter.

Kapitän Charles Clerke stirbt am 22. August 1779 vor der Halbinsel Kamtschatka.

John Gore bringt die „Resolution“ und die „Discovery“ nach London zurück, wo sie am 6. Oktober 1780 eintreffen.

John Webber eilt zu seinem Elternhaus. Dort trifft er seine unverheiratete Schwester Sarah mit ihrem kleinen Sohn Will und dem Säugling Miriam an. Von ihr erfährt er, dass der Vater im Sommer 1779 starb. (Die Mutter war bereits vor sechs Jahren gestorben.)

Der Expeditionsmaler, der bei seinem drei Jahre jüngeren Bruder Henry unterkommt, muss nun anhand seiner Skizzen und Zeichnungen die von der Admiralität gewünschten Gemälde anfertigen. Das Porträt von Poetua kopiert er zweimal. Um die Polynesierin zu vergessen, geht er zum Haus des Schlachters Sharp, aber Dorothy lässt ihn nicht durch die Tür. Sie ist inzwischen mit einem Mann namens Edward Byrne verheiratet und hat zwei Kinder: Carol und Emily. Selbstverständlich hat sie von der Expedition gehört, aber es interessiert sie nicht. Sie weiß auch, dass sie ein besseres Leben führen könnte, wenn sie auf John Webber gewartet hätte. Verbittert schickt sie ihn fort. Der Maler sieht sie noch zweimal zufällig wieder, einmal in einer Taverne, wo sie betrunken unter Männern sitzt und ihm kokett zuprostet. Die Blutergüsse in ihrem Gesicht deuten darauf hin, dass ihr Ehemann sie schlägt. Schließlich verkauft Webber alle drei Poetua-Bilder, um endlich von seinen Erinnerungen loszukommen.

Im Auftrag der Admiralität überreicht er im Februar 1781 das Porträt, das er von James Cook gemalt hat, dessen Witwe, die vor zwei Monaten erfuhr, dass Nathaniel, ihr zweitältester Sohn, bei einem Schiffbruch vor Jamaika ums Leben kam. Sie erkennt ihren Mann darauf nicht wieder und behält das Gemälde nur aus Höflichkeit. Aufhängen wird sie es allerdings nicht.

Besonders wichtig ist der Admiralität die Situation, in der James Cook ums Leben kam. Samuel Peckover, der Sekretär des Ersten Lords der Admiralität, begutachtet Webbers kolorierte Zeichnung, die als Vorlage für ein Ölgemälde und einen Kupferstich dienen soll.

Seit einem halben Jahr plagte sich Webber damit herum, kehrte immer wieder, wenn er ein weiteres Blatt aus der Hand gegeben hatte, zu diesem einen zurück, veränderte die Komposition, die Anzahl der Figuren, den Hintergrund. Aber vor allem beschäftigte er sich mit Cook, der Zentralgestalt, auf die der Blick des Betrachters unbedingt gelenkt werden musste; bei jedem Arbeitsgang versuchte Webber, ihm eine würdigere und bestimmendere Haltung zu geben. Sie hing von Kleinigkeiten ab, vom Abstand der Füße, der Neigung des Oberkörpers, der Straffheit des ausgestreckten Arms. Er hatte Cook zuerst so gezeigt, wie Leutnant Phillips ihn gesehen haben wollte: mit dem Rücken zum Meer und dem wartenden Boot, die Muskete auf die angreifenden Wilden gerichtet, gegen deren Übermacht er – das ließ die Zahl der Speere erahnen – keine Chance haben würde. Aber diese heldenhafte Pose hatte Peckover – und offenbar Lord Sandwich – nicht gefallen. Der große Entdecker als rabiater Angreifer, ließ er ausrichten, das passe keinesfalls zusammen. Leutnant Phillips, halb am Boden liegend, dürfe in Notwehr schießen, nicht aber Cook. Der müsse dem Tumult der Wilden, den ja Webber eindrücklich darstelle, den Rücken zuwenden und den Schützen im Boot mit einer Gebärde bedeuten, das Feuer einzustellen. Gleichzeitig aber – das sei auch die Ansicht von Lord Sandwich – zücke von hinten ein kräftiger Mann eine Stichwaffe […] Es möge sein, hatte er auf Webbers lahme Einwände entgegnet, dass die realen Ereignisse sich in Einzelheiten anders abgespielt hätten […], aber es gelte, einer höheren Wahrheit zu dienen […]
„Ich habe geglaubt, wir wären uns einig, dass platter Realismus bei dieser eminent wichtigen Darstellung unsere Ziele nicht behindern dürfe.“ (Seite 282ff)

Als die Admiralität endlich nichts mehr an Webbers Darstellung auszusetzen hat, wird die Vorlage von Francesco Bartolozzi in einen Kupferstich umgesetzt, der den Höhepunkt eines Prachtbands mit sechzig Bildern über „A Voyage to the Pacific Ocean Untertaken by the Command of Her Majesty“ bilden soll.

Im Juni 1784 lässt John Webber sich erneut bei Elizabeth Cook melden, um ihr ein Exemplar des in Leder gebundenen Folianten zu überbringen. Sie und ihr inzwischen acht Jahre alter Sohn Hugh lassen sich die Bilder zeigen. Hugh will jedoch nicht glauben, dass sein Vater kampflos starb, und seine Mutter weiß, dass ihr Mann niemals eine weiße Uniform wie auf dem Bild trug:

Sie drehte sich auf dem Stuhl ruckartig zu Webber um, sodass ihr Rock heftig raschelte. „Man hat Ihnen befohlen, ihn so zu zeigen, ja?“ (Seite 450)

Aufgebracht reißt sie die Seite aus dem wertvollen Buch und zerfetzt sie. Vergeblich fordert sie Webber auf, ihr wahrheitsgemäß zu berichten, wie James Cook starb.

Nach Webbers Tod am 29. April 1793 unterrichtet der Bühnenmaler Philippe Jacques de Loutherbourg den Berner Uhrmacher Daniel Funk, einen Cousin des Verstorbenen, in einem Brief über dessen letzte Jahre. Er schildert, wie John Webber für die musikalische Pantomime „Omai or a Trip Round the World“ Kulissen, Requisiten und Kostüme entwarf, dann aber dagegen protestierte, dass James Cook zum makellosen Helden stilisiert wurde.

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In dem historischen Roman „Bis ans Ende der Meere“ – einer Mischung aus Abenteuer- und Entwicklungsroman – erzählt Lukas Hartmann von der dritten großen Expedition und dem Tod des englischen Kapitäns James Cook. Auf der vier Jahre dauernden Reise kamen die Teilnehmer in die Südsee, aber auch ins arktische Packeis, sie trafen auf Polynesier, Indianer, Eskimos und sibirische Jäger.

Lukas Hartmann thematisiert vor allem das Spannungsverhältnis von Wahrheit, Macht und Medien. Er betont, dass es den Expeditionsteilnehmern verboten war, Berichte über die Reise zu veröffentlichen und die britische Admiralität die Bilder des Expeditionsmalers zensierte: Obwohl es John Webbers Aufgabe war, die Expedition zu dokumentieren, durfte er nicht darstellen, was er für wahr hielt, sondern musste einzelne Szenen so abändern, dass sie der gewünschten Legendenbildung Vorschub leisteten. Außerdem weist Lukas Hartmann in „Bis ans Ende der Meere“ darauf hin, dass Entdeckungsreisen wie die von James Cook nicht nur unsere geografischen und ethnologischen Kenntnisse erweiterten, sondern auch das Leben der indigenen Völker veränderten – häufig verschlechterten, etwa durch die Infizierung mit Krankheiten. Wenn die britischen Seeleute nach wochenlangen Etappen in der Südsee auf halbnackte Frauen trafen, war von der Überlegenheit, die sie im Vergleich zu den autochthonen Insulanern beanspruchten, nichts mehr zu erkennen. Gegen den Sexualtrieb seiner Männer war selbst Captain Cook machtlos.

In Cooks Handeln erkenne ich das Doppelgesicht der Globalisierung, die das „Gute“, den zivilisatorischen Fortschritt, verbreiten will, aber zugleich die Ausbeutung der Unterlegenen ermöglicht […]
Webber übernimmt die Rolle des Reporters, und er gleicht in manchen Zügen den „embedded journalists“, die auf Panzern mitfahren dürfen. Aber sie zahlen dafür den Preis, dass sie ausblenden und verschweigen müssen, was der Großmacht USA nicht ins Konzept passt. So werden sie zu deren Propagandisten. (Lukas Hartmann in einem Interview, buchjournal 2/2009)

Auf der Grundlage umfangreicher Recherchen und mit viel Liebe zum Detail hat Lukas Hartmann in „Bis ans Ende der Meere“ Fakten und Fiktion zu einem farbigen, mehrschichtigen Roman mit lebendigen Charakteren und anschaulich geschilderten Abenteuern verknüpft.

Abgesehen von einem Epilog beginnt und endet der Roman „Bis ans Ende der Meere“ mit (fiktiven) Besuchen John Webbers bei Elizabeth Cook, der Witwe des legendären englischen Entdeckers, in den Jahren 1781 und 1784. In diesen Rahmen spannt Lukas Hartmann die Expedition von 1776 bis 1780, die er mehrmals mit Szenen aus der Zeit danach unterbricht. Die Seereise entspricht dabei gewissermaßen einer inneren Reise des Protagonisten John Webber, aus dessen Perspektive das Geschehen vorwiegend geschildert wird. In den (fiktiven) Reisebericht des Expeditionsmalers, der in Ich-Form steht, sind (fiktive) Briefe eingefügt, und zwischendurch kommt auch ein anonymer Autor zu Wort, der in der dritten Person über John Webber schreibt. Trotz der vielen Abenteuer schlägt Lukas Hartmann auch nachdenkliche Töne an, etwa in Diskussionen an Bord der „Resolution“, bei denen kontroverse Ansichten zu bestimmten Themen geäußert werden.

Personen- und Ortsverzeichnisse im Anhang erleichtern die Orientierung.

Übrigens handelte es sich bei William Bligh (1754 – 1817), dem Navigator auf der in „Bis ans Ende der Meere“ beschriebenen Expedition, um den späteren Kapitän der „Bounty“, der 1789 bei einer Meuterei in einer Barkasse vor der Tonga-Insel Tofua ausgesetzt wurde [Meuterei auf der Bounty].

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Inhaltsangabe und Buchkritik: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Diogenes Verlag

John Webber (Kurzbiografie)
James Cook (Kurzbiografie)

Lukas Hartmann: Die Wölfe sind satt

Patrick Modiano - Unbekannte Frauen
Das Buch "Unbekannte Frauen" besteht aus drei eigenständigen Er­zählungen. Während sich die ande­ren Romane von Patrick Modiano durch eine elegante Sprache aus­zeich­nen, reiht er hier kurze, schmucklose Sätze aneinander.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.