Helene Hegemann : Axolotl Roadkill

Axolotl Roadkill
Axolotl Roadkill Originalausgabe: Ullstein Buchverlage, Berlin 2010 ISBN: 978-3-550-08792-9, 207 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

So wie das Axolotl lebenslang im Lurch-Stadium verbleibt, will die 16-jährige Mifti nicht erwachsen werden. Obwohl man "Axolotl Roadkill" dem Coming-of-Age-Genre zuordnen kann, gibt es keine Entwicklung, aber Helene Hegemann bringt Miftis Lebensangst im Großstadtmoloch Berlin mit Furor und konsequent subjektiv zum Ausdruck. Ironie und Tragikomik rücken "Axolotl Roadkill" zumindest abschnittweise in die Nähe einer Parodie ...
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Kritik

Die Plagiats-Vorwürfe sind überzogen; "Axolotl Roadkill" ist ein eigenständiger Roman von Helene Hegemann, einer eloquenten, geistreichen und belesenen Schriftstellerin in der "Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes".
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O. k., die Nacht, wieder mal so ein Ringen mit dem Tod, die Fetzen angstgequälten Schlafes, mein von schicksalsmächtigen Orchestern erbebendes Kinderzimmer und all diese Einbrecherstimmen aus dem Hinterhof, die unausgesetzt meinen Namen schreien. (Seite 9)

Mit diesem Satz beginnt Helene Hegemann ihren Roman „Axolotl Roadkill“.

Berlin 2007. Die sechzehnjährige Mifti wohnt bei ihren älteren Geschwistern Annika und Edmond in einer verwahrlosten Wohlstandswohnung, in der eine Haushälterin aufzuräumen versucht.

Frau Messerschmidt ist pensioniert und arbeitet zwölf Stunden am Tag schwarz, weil ihr Mann ein streitsüchtiges Arschloch und halt ununterbrochen zu Haue ist. (Seite 16)

Bei Miftis Schwester handelt es sich um eine „durchtriebene Marketing-Bitch“, der Bruder entwirft Motive, mit denen Textilien bedruckt werden und versucht sich auch in anderen kreativen Projekten. Der Vater, „eines dieser linken durchsetzungsfähigen Arschlöcher“, verdient sein Geld als „Kulturfuzzi“ und wohnt ein paar Straßen weiter mit seiner wesentlich jüngeren Geliebten Franziska zusammen. Die Mutter starb, als Mifti dreizehn war. Der Verlust war nicht groß, denn die alkoholkranke, selbstzerstörische Sozialhilfempfängerin hatte ihre Kinder vernachlässigt.

Das war natürlich eine ziemlich große Katastrophe, wie du da in der vollgepissten Jeans aus dem Vorderfenster zur anderen Straßenseite hinübergeguckt hast und drei Stunden später tot warst. Dein unter den inneren Blutungen zusammengebrochener Organismus hat sich verselbständigt […]
Du hast hirntot in einem diesen Vorabendserien entrissenen Krankenhausnachthemd gesteckt, und ich war dazu verpflichtet, eine Maschine auszuschalten, deretwegen dein Herz nicht zu schlagen hätte aufhören müssen […]
Hör zu, Mutter, mein Beifall wird mein Leben lang immer nur deiner hingerotzten Scheiße gelten … (Seite 39f)

Als Edmond erzählt, Annika habe sich darüber beschwert, dass Mifti nicht einmal die Spülmaschine ausräumt, schimpft die sechzehnjährige Schulverweigerin:

„Ich bin minderbemittelt und völlig am Arsch, und dann erwartet die, dass ich funktioniere, das kann ich aber nicht. Ich funktioniere nicht einfach so fröhlich vor mich hin, ich funktioniere halt einfach nicht. Besitzgier, Gewohnheiten, Eifersucht, mangelnde Privatsphäre, Begehren, Begehren, Begehren.“ (Seite 65)

Nach „Jahren der Duldungsstarre“ durchläuft Mifti gerade eine schwierige Phase.

Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich bei gutem Wetter etwas anderes gemacht habe als die Jalousien runter. (Seite 15)

Ich bin sechzehn Jahre alt und momentan zu nichts anderem mehr in der Lage, als mich trotz kolossaler Erschöpfung in Zusammenhängen etablieren zu wollen, die nichts mit der Gesellschaft zu tun haben, in der ich zur Schule gehe und depressiv bin. Ich bin in Berlin. (Seite 24)

Mein Leben, meine Disziplinlosigkeit, mein Hausschaf, meine Tendenz zur Autoaggression, meine Selbstzweifel, meine Angst davor, nicht rechtzeitig vor eine harte Prüfung gestellt zu werden oder vor eine schwierige Entscheidung und natürlich auch die Angst davor, nie wieder das Bett verlassen zu müssen, außer um gelegentlich Zigaretten zu organisieren und dann in wenigen Jahren den Antrag auf Hartz IV in den Briefkasten zu schmeißen. Meine Autoaggressionen gehen über eine Häufung von Narben am nichtdominanten Unterarm hinaus. Ich injiziere intravenös schädliche Substanzen und stehe seit neuestem in der Gefahr einer ungewollt tödlichen Verletzung.
Alles geht weiter. Es lohnt sich nicht, auf ein einschneidendes Erlebnis zu warten.
Ich bin ein misshandelter Teenager. Meine Schwester als einfühlsame Interpretin kann ohne weiteres eine zutiefst traumatisierte, hyperintelligente, vom rechten Weg abgekommene Person in mir erkennen, die den berühmten stummen Schrei nach Liebe / Hilfeschrei vom Rande des Abgrunds aussendet. Ich hingegen erfreue mich an der von mir perfekt dargestellten Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes gleich mit entlarvt. (Seite 48f)

Obwohl mich mit Dekadenz gekoppelte Fäulnis stark fasziniert und ich normalerweise standhaft bin, sehe ich mich bereits in einer Masse freizügiger Menschen untergehen, die ihre letzte Chance auf hemmungslosen Sex am Sonntagabend nicht verpassen wollen. (Seite 56)

Jürgen, einer ihrer Freunde, versucht Mifti zu beruhigen:

„In zehn Jahren hast du normalen, gleichberechtigten, legalen, auf erfüllter Liebe basierenden Sex. Und zwar mit Personen, die nicht zu deiner Familie gehören.“ (Seite 99)

Zwischen Partys und Klubbesuchen, sexuellen Abenteuern und Drogenräuschen liest Mifti und führt ein Tagebuch, in dem sie ihre überquellenden Gedanken festzuhalten versucht.

Wie bei jeder drogenabhängigen Minderjährigen mit Reflexionsvermögen äußert sich mein Hang zur Realitätsflucht in einer ausgeprägten Lesesucht. (Seite 14)

[…] weil so viele Gedanken da sind, dass man seine eigenen Gedanken gar nicht mehr von den fremden unterscheiden kann. (Seite 9f)

Ich traue mich nicht, an morgen zu denken, ich traue mich eigentlich überhaupt nicht, zu denken. (Seite 137)

[…] dass das hier alles einfach nur noch abgrundtiefe Traurigkeit bedeutet. Ich hätte an wahnsinnig viel denken können, mich hätte wahnsinnig viel ernsthaft beschäftigen können. Zum Beispiel die Frage, was man bei einem Orgasmus sieht, eine gotische Kathedrale oder Tierkinder oder, keine Ahnung, ich sehe ja immer nur unter Neonlicht geschmolzenen Cheddar-Käse und Bierzeltgarnituren, die kurz davor sind unter mir zusammenzubrechen. (Seite 143)

Ich bin wild aufgewachsen und ich will wild bleiben. Es ist drei Uhr nachts und mein kaputtgefeierter Körper sitzt zu Tode in seiner Opferrolle versunken in einem Taxi. Der Fahrer erzählt von seinem Sohn, der sich nach zehn Jahren von seiner Frau getrennt hat und von seiner eigenen Frau, die fremdgeht, und von Gott, zu dem er angeblich eine ziemlich gute Verbindung hat. Deswegen verzeiht er den Schwulen auch, dass sie schwul sind, weil die können da ja eigentlich nichts für. (Seite 23)

Ich finde meine dissoziative Identitätsstörung interessanter als alles, was diese Stadt mir ununterbrochen ins Gesicht kotzt. (Seite 24)

Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur. (Seite 9)

Als Mifti einen Dreiundvierzigjährigen namens Pörksen in Kreuzberg besucht, liegt Tina, seine „dauerbekiffte“ Freundin, vor dem Fernsehgerät und schaut sich „Germanys Next Topmodel“ mit Heidi Klum an. Mifti missfällt es, dass ihre „komplette Generation von dieser Bitch mittelalterliche Standards vermittelt kriegt“ (Seite 56) und sie fragt sich:

Ist das das Leben, das ich mit dreizehn hatte führen wollen? (Seite 56)

Hin und wieder schläft Mifti mit ihrer besten Freundin Ophelia. Angeblich ist sie achtundzwanzig, aber irgendwann einmal gibt sie zu, in Wirklichkeit acht Jahre älter zu sein. Weil sie lesbisch ist und sich ausschließlich in Frauen verliebt, wundert sie sich darüber, dass sie auch brutalen Sex mit Männern haben will.

In der Oranienstraße begegnet Mifti Ophelias früherem Heroindealer. Sie hatte einen gepflegten neunzehnjährigen Russen in Erinnerung, aber jetzt hängt er kopfüber in einem Abfallbehälter.

Er richtet sich über den Rand dieser Biotonne hängend auf, sieht gefickter aus als je zuvor und hebt die Hand zum Gruß, als würde er in mir eine potentielle Kundin mit einer zum Scheitern verurteilten Existenz erkennen. Ich kriege naheliegenderweise Panik. (Seite 53)

Heroin, hach, na ja, im Jahr 2009 ist das ja irgendwie auch ein bisschen uncool. (Seite 145)

Eines Morgens um halb fünf überrascht Mifti einen glatzköpfigen Fremden, der den Penis ihres nackt auf dem Rücken schlafenden Bruders Edmond fotografiert. Offensichtlich verbrachten die beiden Männer die Nacht zusammen. Das wundert Mifti.

„Und du vermutest also, dass dein Bruder gar nicht schwul ist?“
„Der ist stockbisexuell.“ (Seite 135)

Als Mifti bei Simon in Neukölln ein Axolotl entdeckt, meint ihr Freund:

„Es hat das freundlichste Lächeln des ganzen Planeten, nimm es mit. Sieht aus wie eine Comicfigur, hat keine großen Ansprüche an irgendetwas und bleibt sein gesamtes Leben lang im Lurchstadium, das heißt, es wird einfach nicht erwachsen. Krass, oder?“
„Kann es sich im Kreis drehen?“
„Was?“
Ich kaufe ihm das doofe Axolotl ab und trage es in einer mit Wasser gefüllten, durchsichtigen Plastiktüte lange durch die Gegend. (Seite 138)

Sechs Stunden später, als Mifti zur Hochzeitsfeier von Gloria und Thomas geht, hat sie die Tüte mit dem Axolotl noch immer bei sich. Auf der Party versumpft sie so, dass sie anschließend sechsundzwanzig Stunden durchschläft.

Edmond entdeckt ihr Tagebuch und lässt es den Vater lesen. Der will darüber mit Mifti reden:

„Mifti, guck uns an. Wir wissen, dass du extrem große Probleme hast.“
„Wie, verdammte Scheiße, kommst du dazu, dir das Recht zu nehmen, zu behaupten, auch nur das geringste bisschen über MICH zu wissen? […]
Liest du Erziehungsratgeber? Liest du aus lauter Langeweile und Sentimentalität irgendwelche hingerotzten Erziehungspatentrezepte und glaubst jetzt, nach sechzehn Jahren irgendeine Pflicht zu erfüllen, indem du mir klarmachst, dass ich todunglücklich bin? Antwortest du bitte mal?“ (Seite 189f)

Aufgebracht läuft Mifti weg und übernachtet im Hotel. Am nächsten Tag lässt sie sich absichtlich am Ausgang der Galeries Lafayette mit einem Stapel Kaschmirpullover erwischen. Bei der Polizei behauptet sie, Ophelia zu heißen, dreizehn Jahre alt zu sein und Polizistin werden zu wollen. Als die Beamtin sie nach ihren Eltern fragt, sagt sie, ihr Vater inszeniere gerade eine ReadyMadeOper in Brasilien und ihre Mutter sei in der Psychiatrie. Schließlich lässt sie sich von ihrer Freundin Alice abholen und mit in ihren „Rigipspalast im Dachgeschoss“ nehmen.

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„Roadkill“ ist das englische Wort für ein auf der Straße angefahrenes Tier. Edmond sagt im Roman:

„You write like a roadkill.“
„Like a what?“
„Ein angefahrenes Tier.“ (Seite 190)

Unter einem Axolotl versteht man einen nachtaktiven mexikanischen Schwanzlurch (Ambystoma mexicanum). Das Wort Axolotl setzt sich aus den aztektischen Begriffen Atl (Wasser) und Xolotl (Gott) zusammen. Alexander von Humboldt (1769 – 1859) brachte bei der Rückkehr von seiner Amerika-Expedition (1799 – 1804) die ersten Axolotl mit nach Europa.

So wie ein Axolotl sein gesamtes Leben lang im Lurchstadium verbleibt, mag auch die sechzehnjährige Protagonistin Mifti nicht erwachsen werden:

Ich weiß komischerweise genau, was ich will: nicht erwachsen werden. (Seite 17)

Darum geht es in „Axolotl Roadkill“. Eine Handlung im eigentlichen Sinn weist der Debütroman von Helene Hegemann nicht auf; der Text ist mehr eine Collage aus Tagebuch-Einträgen, flow of consciousness, Zitaten, Fantasien und Realitätsfragmenten. Die Grenzen zwischen Wirklichkeit, Drogenwahn und Albtraum zerfließen. Obwohl man „Axolotl Roadkill“ dem Coming-of-Age-Genre zuordnen kann, gibt es keine Entwicklung, weder eine Verbesserung noch eine Verschlechterung, weder Anfang noch Ende. Entscheidend sind der Furor und die konsequente Subjektivität, mit denen die siebzehnjährige Autorin die Lebensangst der etwa gleichaltrigen Protagonistin im Großstadtmoloch Berlin zum Ausdruck bringt. Damit ist Helene Hegemann gewissermaßen eine deutsche Nachfolgerin der lost generation.

Helene Hegemann hat mit ihrer Geschichte von der Schwelle zwischen Wahn und Wirklichkeit dieses Gefühl als Atmosphäre eingefangen. Locker die literarische Ahnenreihe aufrufend – von „Bonjour Tristesse“ über den „Fänger im Roggen“ bis zu „Faserland“ –, kühl die Weisheiten der Popkultur gespiegelt, abgemischt mit dem Sound zur Schau gestellter Introvertiertheit und eingerahmt in ironische Lässigkeit: „Axolotl Roadkill“ kann man als großen Coming-of-age-Roman der Nullerjahre lesen.
Damit hat Helene Hegemann vor allem eins geschafft: Die plattgeredeten Wörter, die angestrengt alternativen Attitüden in Kunst, Kritik, Kleidung und die dahinter versteckten, vorsichtig eingezäunten Erwartungen, all das, was schon hundertmal gedacht, gesagt, getan und getragen wurde, hat sie aufgesogen, gebündelt und in etwas ganz Neues, Unerhörtes verwandelt, in den Ansatz zu einer Literatur, die nicht trotz, sondern wegen ihrer Härte, Brutalität und Vulgarität schön ist. Helene Hegemann zielt mit ihrem Buch mitten in den Kern unserer Konsenskultur. Ob wir uns treffen lassen, hängt von uns ab. (Mara Delius, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Januar 2010)

„Axolotl Roadkill“ ist eine „schrille Sinfonie“ im „Fickundkotz-Jargon“ (Ursula März, Die Zeit, 21. Januar 2010), aber der Wortschatz erschöpft sich nicht im vulgären Slang. Trotz des düsteren Inhalts funkeln in „Axolotl Roadkill“ sprachliche Edelsteine. Helene Hegemann erweist sich als eloquente, geistreiche und belesene Schriftstellerin, die sich an der „Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes [erfreut], das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes gleich mit entlarvt“ (Seite 48f; Original).

Dieser souveräne Umgang mit Selbstbildern, Popeinflüssen, feministischen und sonstigen Theoriefragen prägt auch das Buch, das auf dem Grat zwischen Intelligenz und Emotion fast traumwandlerisch unterwegs ist. (Georg Diez, Süddeutsche Zeitung, 23. Januar 2010)

Dass sie auch auf Effekte aus ist, wird Helene Hegemann nicht bestreiten. (Im Roman vergleicht Mifti ihre Effekthascherei mit der Richard Wagners und Giuseppe Verdis.)

Sie schreckt auch nicht vor sprachlichen Kalauern zurück:

[…] Foxi fragt, ob es mir gut gehe, ich sähe so aufgebracht aus und als würde ich mich gleichzeitig dehydriert und überflüssig fühlen. (Seite 140)

Ironie und Tragikomik rücken „Axolotl Roadkill“ zumindest abschnittweise in die Nähe einer Parodie. Das beginnt schon mit dem Pro7-Zitat, das Helene Hegemann dem Roman als Motto voranstellt:

We love to entertain you. (Seite 7)

„Axolotl Roadkill“ ist mit Zitaten gespickt. Die meisten davon hat Helene Hegemann von der Erstausgabe an als solche gekennzeichnet. Aber sie versuchte auch, sich mit fremden Federn zu schmücken.

Am 5. Februar 2010 wies Deef Pirmasens in seinem Blog „Gefühlskonserve“ unter der Schlagzeile „Axolotl Roadkill: Alles nur geklaut?“ auf einige Textpassagen hin, die weitgehend mit Abschnitten in dem zunächst im Internet veröffentlichten und im August 2009 vom Berliner Independent Verlag SuKuLTuR gedruckten Roman „Strobo“ des achtundzwanzigjährigen Berliner Bloggers Airen übereinstimmen (169 Seiten, ISBN: 978-3-941592-06-3). Auch die Wortneuschöpfungen „Technoplastizität“ und „Vaselintitten“ stammen wohl von Airen. Die Enthüllung löste einen Skandal aus.

Man kann heute schon sagen, dass die Welt nach Hegemann nicht mehr die ist, die sie vorher war. Wer immer auch nur das Geringste schreibt, wird sich, wenn schon nicht vom eigenen Gewissen, so doch von der Umwelt die Frage gefallen lassen müssen, wie er es mit der Ästhetik der Intertexualität hält, mit der Absorption und Transformation anderer Texte, und er wird sich Gedanken darüber machen müssen, ob er, was die poststrukturalistische Dekonstruktion seines Autor-Subjekts betrifft, auch wirklich auf dem Quivive ist. (Streiflicht, Süddeutsche Zeitung, 26. Februar 2010)

Der Eindruck, Helene Hegemann habe „Axolotl Roadkill“ überhaupt nur per copy and paste aus Internet-Schnipseln zusammengebastelt – ganz im Geiste der „Generation Google“, die Urheberrechte für ein Relikt aus vergangenen Zeiten hält –, ist falsch. Auch wenn „Axolotl Roadkill“ einer Collage nicht unähnlich ist, handelt es sich um ein eigenständiges Werk von Helene Hegemann.

Man fragt sich nur, warum sie nicht von Anfang ihre Quellen angab. In der 2. Auflage taucht der Name Airen ohne weitere Erläuterungen in der Danksagung auf. Erst die 4. Auflage von „Axolotl Roadkill“ wurde um ein Quellenverzeichnis ergänzt.

Witzigerweise enthält „Axolotl Roadkill“ folgenden Dialog zwischen Edmond und seiner Schwester Mifti:

[Edmond:] „Berlin is here to mix everything with everything, Alter.“
[Mifti:] „Ist das von dir?“
„Berlin is here to mix everything with everything, Alter? Ich bediene mich überall, wo ich Inspiration finde und beflügelt werde, Mifti. Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Wurstlyrik, Fotos, Gespräche, Träume …“
„Straßenschilder, Wolken …“
„… Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.“
„Es ist also nicht von dir?“
„Nein. Von so ’nem Blogger.“ (Seite 15)

Den Roman „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann gibt es auch in einer gekürzten Fassung als Hörbuch, gelesen von Birgit Minichmayr (Regie: Harald Krewer, Hamburg 2010, 4 CDs, ISBN: 978-3-89903-694-7).

Der Dramaturg Tarun Kade und der Regisseur Bastian Kraft adaptierten „Axolotl Roadkill“ für die Bühne. Die Uraufführung fand am 21. November 2010 im Thalia Theater in Hamburg statt.


Es folgen einige der von Deef Pirmasens aufgelisteten Beispiele für Übereinstimmungen zwischen „Strobo“ von Airen und „Axolotl Roadkill“:

„Ich habe ein Grad Fieber sowie ein knappes Promill Alkohol im überhitzten Blut.“ („Strobo“, Seite 106)
Ich habe Fieber, Koordinationsschwierigkeiten, ein Promille im überhitzten Blut und mich zum wiederholten Mal auf eine Verabredung an einem Ort der absoluten, opportunistischen Hemmungslosigkeit eingelassen. („Axolotl Roadkill“, Seite 23)

[…] als sich das als zu kompliziert erweist, klettert Marc auf die Klobrille und macht die Lines an der Grenze zu Nachbartoilette zurecht. („Strobo“, Seite 146)
Ophelia steht auf dem Klodeckel, um drei Lines Speed auf der Trennwand zur Nachbartoilette zurechtzumachen. („Axolotl Roadkill“, Seite 36)

Ich steige aus, mache drei Schritte nach vorn und pralle rückwärts gegen die Bahn. Dann stehe ich auf, mache drei Schritte nach vorn und pralle rückwärts gegen die Bahn. Schließlich kommen zwei so grobporige Bahnbullen und verfrachten mich in ein Taxi. („Strobo“, Seite 124)
Ich mache drei Schritte nach vorn und knalle rückwärts gegen irgendeinen sich im öffentlichen Raum befindlichen Werbeträger von Langnese. Ich drehe mich um und knalle rückwärts gegen einen grobporigen Typen in grünen Klamotten. („Axolotl Roadkill“, Seite 74)

Schicht um Schicht wickle ich die Plastikfolie ab, bis in der Mitte eine gute Messerspitze bräunlichen Pulvers zum Vorschein kommt. Sieht in etwa so aus wie Instant-Tee und riecht säuerlich, wie eine Mischung aus Zigarettenkippen, Müll und Essig. Diacetylmorphin. Dann hole ich Alufolie. Aus einem Stück drehe ich mir ein Röhrchen. Auf ein anderes schütte ich ein Viertel des Pulvers. Sobald ich ein Feuerzeug unter die Alufolie halte, schmilzt das Heroin und zieht eine kleine Rauchfahne hinter sich her. Mit dem Röhrchen im Mund versuche ich sie einzufangen. Als alles verdampft ist und nur noch eine schmutzige Spur auf der Alufolie übrig bleibt, gehe ich ins Bad und begutachte meine Pupillen. („Strobo“, Seite 65f)
Anstatt mir zu antworten, wickelt sie die Plastikfolie ab. Schlussendlich liegt auf dem Mahagonitisch eine Messerspitze bräunlichen Pulvers, das wie Instanttee aussieht und nach einer Mischung aus Zigarettenkippen, Müll und Essig riecht. Aus einem Stück Silberpapier dreht sie sich ein Röhrchen, auf ein weiteres schüttet sie die Hälfte des Pulvers. Als sie ein Feuerzeug unter die Folie hält, schmilzt das Heroin und zieht eine kleine Rauchschwade hinter sich her. Dieser Dampf wird von Ophelia mit Hilfe des besagten Aluröhrchens inhaliert, bis nur noch irgendwas ganz Schmutziges, Kleines, Böses zurückbleibt und sie mich fragt: „Und, wie sehen meine Pupillen jetzt aus?“ („Axolotl Roadkill“, Seite 80)

„Wir reden gerade über Bisexualität“, moderiere ich mich zu Jan rüber […] („Strobo“, Seite 99)
„Wir unterhalten uns gerade über Bisexualität!“, moderiere ich schwerstelegant zu ihr hinüber. („Axolotl Roadkill“, Seite 136)

Inzwischen wissen wir auch, dass Helene Hegemann bei der Formulierung des abschließenden Briefes der Mutter an Mifti auf den Text des Songs „Fuck U“ der Gruppe „Archive“ zurückgriff.

Liebe Mufti,
ich sehe die Sünde in deinem Grinsen. In der Form deines Mundes. Alles, was ich will, ist, dich in schrecklichen Schmerzen aufgehen zu sehen. Obwohl wir uns nie wieder treffen werden, erinnere ich mich an deinen Namen.
Ich kann nicht glauben, dass du mal so warst wie jeder andere. Du bist inzwischen kein Kind mehr, sondern ein Abbild des Teufels […] („Axolotl Roadkill“, Seite 204)
[…] See the sin in your grin and the shape of your mouth. All I want is to see you in terrible pain. Though we won’t ever meet I remember your name. Can’t believe you were once just like anyone else. Then you grew and became like the devil himself […] („Fuck U“)

Eine Besucherin bzw. ein Besucher meines Blogs (Pseudonym „juju“) machte mich auf ein weiteres Plagiat aufmerksam:

Der Einfühlsame Interpret kann bestimmt ohne weiteres eine zutiefst traumatisierte, hyperintelligente, vom rechten Weg abgekommene Person sehen, die den berühmten Hilfeschrei-vom-Rande-des-Abgunds / stummen Schrei nach Liebe aussendet. Ich hingegen freue mich an der perfekt dargestellten Attitüde des arroganten misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes gleich mitentlarvt. (Makita, http://www.kurzgeschichten.de/vb/showthread.php?t=38141, 04.05.2008, 22:14)
Meine Schwester als einfühlsame Interpretin kann ohne weiteres eine zutiefst traumatisierte, hyperintelligente, vom rechten Weg abgekommene Person in mir erkennen, die den berühmten stummen Schrei nach Liebe / Hilfeschrei vom Rande des Abgrunds aussendet. Ich hingegen erfreue mich an der von mir perfekt dargestellten Attitüde des arroganten, misshandelten Arschkindes, das mit seiner versnobten Kaputtheit kokettiert und die Kaputtheit seines Umfeldes gleich mit entlarvt. („Axolotl Roadkill“, Seite 48f)

Übrigens stimmt der Name der Romanfigur Geschmeido mit dem Pseudonym eines Kommentators auf der genannten Seite überein.

Stefanie G., eine Besucherin von www.dieterwunderlich.de, stieß in „Axolotl Roadkill“ auf mehrere Passagen, die Helene Hegemann aus der am 8. April 2008 von „ElektraMueller“ auf der oben bereits genannten Website veröffentlichen Kurzgeschichte „A Girl Under The Influence“ übernommen hat.


Helene Hegemann wurde am 19. Februar 1992 in Freiburg im Breisgau geboren. Nach der Scheidung ihrer Eltern wuchs sie bei ihrer Mutter in Bochum auf. Später ging sie zu ihrem Vater nach Berlin.

Carl Hegemann (* 1949) war Dramaturg (Ruhrfestspiele Recklinghausen: 1988/89, Stadttheater in Freiburg im Breisgau: 1989 – 1992, Schauspielhaus Bochum: 1995 – 1996, Berliner Ensemble: 1996 – 1998, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz: 1992 – 1995 / 1998 – 2006) und lehrt als Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig.

Helene Hegemanns Theaterstück „Ariel 15“ kam am 6. Dezember 2007 im Ballhaus Ost in Berlin erstmals auf die Bühne und wurde im Jahr darauf als Hörspiel adaptiert. 2008 drehte Helene Hegemann nach einem Drehbuch, das sie im Alter von vierzehn Jahren geschrieben hatte, den Film „Torpedo“ (2009). Dafür erhielt sie den Max-Ophüls-Preis. In einer Episode des Films „Deutschland 09“ spielt Helene Hegemann eine der Hauptrollen. Im Januar 2010 erschien ihr Debütroman „Axolotl Roadkill“, der auf die Shortlist der Kandidaten für den Preis der Leipziger Buchmesse gesetzt wurde.

2013 veröffentlichte Helene Hegemann einen zweiten Roman: „Jage zwei Tiger“.

Helgene Hegemann verfilmte ihren Roman “ Axolotl Overkill“ auch selbst (Drehbuch und Regie) mit Jasna Fritzi Bauer in der Hauptrolle. Die Dreharbeiten fanden 2015 statt. Ins Kino kam der Film 2017.

Originaltitel: Axolotl Overkill – Regie: Helene Hegemann – Drehbuch: Helene Hegemann nach ihrem Roman „Axolotl Overkill“ – Kamera: Manuel Dacosse – Schnitt: Bettina Böhler – Darsteller: Jasna Fritzi Bauer, Laura Tonke, Julius Feldmeier, Mavie Hörbiger, Arly Jover, Sabine Vitua, Nikolai Kinski, Hans Löw, Sabine Vitua u.a. – 2017; 90 Minuten

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 / 2013
Textauszüge: © Ullstein

Helene Hegemann: Bungalow

Wilhelm Genazino - Wenn wir Tiere wären
Der Roman "Wenn wir Tiere wären" ist eine tragikomische Satire auf die Überforderung eines Durchschnitts-mannes in der modernen Großstadt. Dem namenlosen Protagonisten überlässt Wilhelm Genazino das Wort.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.