Hermann Hesse : Unterm Rad
Inhaltsangabe
Kritik
Joseph Giebenrath verdient den Lebensunterhalt für sich und seinen einzigen Sohn als Zwischenhändler. Seine Frau ist schon lange tot. Er lebt mit Hans und der alten Magd Anna in einer Kleinstadt im Schwarzwald.
Er schimpfte ärmere Leute Hungerleider, reichere Leute Protzen. (Seite 6)
Alle im Ort halten Hans Giebenrath für einen besonders begabten Schüler. Drei Jahre lang bemühen sich die Lehrer, der Rektor und der Stadtpfarrer, ihn auf das Württembergisches Landesexamen vorzubereiten. Dabei handelt es sich um eine staatliche Prüfung, bei der jedes Jahr die besten Schüler ausgewählt werden, die kostenlos das protestantisch-theologische Seminar im Kloster Maulbronn besuchen dürfen, dessen Abschluss sie für das Tübinger Stift qualifiziert. In diesem Jahr wird Hans der einzige Kandidat des Städtchens beim Landesexamen sein.
Die Ehre war groß, doch hatte er sie keineswegs umsonst. An die Schulstunden, die täglich bis vier Uhr dauerten, schloss sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der Woche fand nach dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim Mathematiklehrer statt […]
Damit jedoch keine geistige Überlastung eintrete und damit nicht etwa über den Verstandesübungen das Gemüt vergessen werde und verdorre, durfte Hans jeden Morgen, eine Stunde vor Schulbeginn, den Konfirmandenunterricht besuchen, wo aus dem Brenzischen Katechismus und aus dem anregenden Auswendiglernen und Aufsagen der Fragen und Antworten ein erfrischender Hauch religiösen Lebens in die jugendlichen Seelen drang. Leider verkümmerte er sich diese erquickenden Stunden selbst und beraubte sich ihres Segens. Er legte nämlich heimlicherweise beschriebene Zettel in seinen Katechismus, griechische und lateinische Vokabeln oder Übungssstücke, und beschäftigte sich fast die ganze Stunde mit diesen weltlichen Wissenschaften […]
Die Aufgaben, […] die sich tagsüber von Lektion zu Lektion ansammelten, konnten dann am späten Abend bei traulichem Lampenlicht zu Hause erledigt werden. Dieses stille, vom häuslichen Frieden segensreich umhegte Arbeiten […] dauerte dienstags und samstags gewöhnlich nur etwa bis zehn Uhr, sonst aber bis elf, bis zwölf und gelegentlich noch darüber. Der Vater grollte ein wenig über den maßlosen Ölverbrauch, sah dieses Studieren aber doch mit wohlgefälligem Stolze an. (Seite 8f)
Vor drei Jahren hatte Hans einen Kaninchenstall gebaut, aber im vorigen Herbst nahm der Vater ihm die Tiere weg, damit er nicht vom Studieren abgelenkt wurde. Aus dem gleichen Grund durfte er auch nicht mehr zum Angeln gehen.
Der Vater fährt mit Hans nach Stuttgart, wo das Württembergische Landesexamen stattfinden wird. Sie logieren bei einer Verwandten und erfahren, dass von den 118 Kandidaten höchstens 65 genommen werden. Zwei Tage dauern die Prüfungen in Latein, Griechisch und Deutsch. Hans Giebenrath besteht nicht nur das Landesexamen, sondern er schneidet auch noch als Zweitbester ab.
Nach diesem Erfolg darf er erst einmal Sommerferien machen. Aber nach ein paar Tagen bietet ihm der Stadtpfarrer an, zur Vorbereitung auf das Seminar in Maulbronn jeden Tag eine Stunde Griechisch mit ihm zu machen. Dann schlägt der Rektor täglich zwei Stunden Homer vor und drängt Hans, viermal in der Woche Mathematikstunden zu nehmen. Für die Erholung bleibt da nicht viel Zeit. Häufig wird Hans von Kopfschmerzen geplagt.
Im Herbst bringt ihn der Vater nach Maulbronn und Hans bezieht zusammen mit neun Mitschülern die Stube „Hellas“.
Zur Verwunderung der Lehrer und der anderen Schüler befreunden sich ausgerechnet Hans Giebenrath und Hermann Heilner, ein Schwarzwälder aus gutem Haus, der wenig arbeitet, trotzdem viel weiß und diese Kenntnisse zugleich verachtet.
[…] Hermann Heilner und Hans Giebenrath, der Leichtsinnige und der Gewissenhafte, der Dichter und der Streber. Man zählte zwar beide zu den Gescheiten und Begabtesten, aber Heilner genoss den halb spöttisch gemeinten Ruf eines Genies, während der andere im Geruch des Musterknaben stand. (Seite 70)
Als Heilner wegen einer Prügelei eine Karzerstrafe bekommt, ziehen sich alle von ihm zurück und er wird wie ein Aussätziger behandelt. Den Mut, zu seinem Freund zu stehen, bringt Hans nicht auf; er unterliegt „im Kampf zwischen Freundespflicht und Ehrgeiz“ (Seite 76). Heilner beschimpft ihn deshalb als Feigling und meidet ihn nach der Verbüßung seiner Strafe.
Zu Beginn des nächsten Jahres, als Hermann Heilner krank ist und Hans Giebenrath ihn besucht, erneuern die beiden ihre Freundschaft. Damit sorgen sie für Getuschel und Aufregung. Der Ephorus (Leiter des Seminars) lässt Hans kommen und redet auf ihn ein, aber der Schüler steht jetzt zu seiner Freundschaft.
Einige Zeit später flieht Heilner aus Maulbronn. Nach zwei Nächten, die er im Freien verbracht hat, wird er von einem Landjäger festgenommen und zurückgebracht, aber nur, um aus dem Seminar verstoßen zu werden und mit seinem inzwischen eingetroffenen Vater abzureisen.
Obwohl Heilner nicht mehr da ist, wird Hans weiterhin gemieden. Anders als früher, fällt es ihm schwer, sich zu konzentrieren, einen Text zu lesen und sich etwas zu merken. Seine schulischen Leistungen fallen ab.
Wie ein Hamster mit aufgespeicherten Vorräten, so erhielt sich Hans mit seiner früher erworbenen Gelehrsamkeit noch einige Frist am Leben. Dann begann ein peinliches Darben, durch kurze und kraftlose neue Anläufe unterbrochen, deren Hoffnungslosigkeit ihn schier selber lächerte. Er unterließ es nun, sich nutzlos zu plagen, warf den Homer dem Pentateuch und die Algebra dem Xenophon nach […] (Seite 104)
Der Arzt verordnet Hans aufgrund seiner Erschöpfung einen Erholungsurlaub. Es ist nicht zu erwarten, dass er jemals wieder nach Maulbronn zurückkehren wird, denn selbst wenn er rasch genesen sollte, könnte er das Versäumte nicht mehr aufholen.
Zu Hause nicken der Rektor, der Lateinlehrer und der Stadtpfarrer Hans freundlich zu, wenn sie ihm auf der Straße begegnen, aber sie kümmern sich nicht mehr weiter um ihn.
Er war kein Gefäß mehr, in das man allerlei hineinstopfen konnte, kein Acker für vielerlei Samen mehr; es lohnte sich nicht mehr, Zeit und Sorgfalt an ihn zu wenden. (Seite 109)
In seiner Not und Verlassenheit beschließt Hans, sich im Wald zu erhängen.
Warum er nicht schon längst an jenem Aste hing, wusste er selbst nicht recht. Der Gedanke war gefasst, sein Tod war eine beschlossene Sache, dabei war ihm einstweilen wohl, und er verschmähte nicht, in diesen Tagen den schönen Sonnenschein und das einsame Träumen noch auszukosten, wie man es gern vor weiten Reisen tut. Abreisen konnte er ja jeden Tag, es war alles in Ordnung. Auch war es ihm eine besondere bittere Wonne, sich freiwillig noch ein wenig in der alten Umgebung aufzuhalten und den Leuten ins Gesicht zu sehen, die von seinen gefährlichen Entschlüssen keine Ahnung hatten. (Seite 111)
Als er dem Schuhmacher Flaig beim Keltern der Äpfel hilft, lernt er dessen achtzehn- oder neunzehnjährige Nichte Emma kennen, die für ein paar Tage aus Heilbronn gekommen ist. Wenn er mit ihr allein an der Presse arbeitet, wird ihm heiß und kalt, und er weiß nicht, was er machen soll. Abends schleicht er sich zum Haus des Schuhmachers und schaut durchs Fenster. Emma entdeckt ihn, kommt heraus und küsst ihn. Hans lässt alles mit sich geschehen und fühlt sein Herz rasen. – Am anderen Morgen erfährt er, dass Emma abgereist ist.
Die jahrelange Plage war umsonst: Später als die anderen Jungen seines Jahrgangs beginnt nun auch Hans mit einer Lehre, und zwar in einer Schlosserei.
Am ersten Sonntag nimmt August, der schon im zweiten Lehrjahr ist, ihn und zwei andere mit nach Bielach und lädt sie zum Biertrinken ein. Weil Hans kaum noch stehen kann, will er in die dritte Wirtschaft nicht mehr mit, sondern allein nach Hause gehen.
Der Vater legt ein gebrauchtes Meerrohr bereit, um Hans wegen der Verspätung gehörig zu züchtigen. Aber der Junge kommt gar nicht nach Hause. Seine Leiche wird im Fluss gefunden. Ob Hans sich das Leben genommen hat oder versehentlich ins Wasser gestürzt ist, lässt sich nicht mehr feststellen.
In diesem Roman hat Hermann Hesse eigene leidvolle Erfahrungen verarbeitet. „Unterm Rad“ ist eine stellenweise sarkastische und insgesamt heftige Anklage gegen Eltern und Lehrer, die mit ihren gut gemeinten Erwartungen begabte Jugendliche übermäßig unter Druck setzen und dadurch erzeugte Nöte der Betroffenen nicht wahrhaben wollen.
Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lehrer der Jugend, vom Ephorus bis auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten, sahen in Hans ein Hindernis ihrer Wünsche, etwas Verstocktes und Träges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurückbringen müsse. Keiner […] sah hinter dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich blicken. (Seite 105)
Der Schüler Hans Giebenrath fügt sich jahrelang den an ihn gestellten ehrgeizigen Erwartungen, obwohl er immer stärker unter Kopfschmerzen leidet. Erst durch die Begegnung mit einem rebellischen Mitschüler gerät er in Konflikt zwischen der schulischen Ordnung, Disziplin, Reglementierung auf der einen und dem individuellen Freiheitsdrang auf der anderen Seite.
Hundert Jahre nach der Entstehung wirkt „Unterm Rad“ ein wenig altmodisch, aber man spürt die Authentizität der einfühlsamen, ergreifenden psychologischen Studie über das Erwachsenwerden im Allgemeinen und schulischen Leistungsdruck im Besonderen.
Der Titel bezieht sich auf einen Rat des Seminarleiters in Maulbronn: „Nur nicht matt werden, sonst kommt man unters Rad.“ (Seite 89)
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag
Seitenangaben beziehen sich auf die Ausgabe der Süddeutschen Zeitung
Hermann Hesse (Kurzbiografie)
Hermann Hesse: Siddhartha
Hermann Hesse: Der Steppenwolf
Hermann Hesse: Narziß und Goldmund
Hermann Hesse: Die Morgenlandfahrt
Hermann Hesse: Das Glasperlenspiel