Hermann Hesse : Die Morgenlandfahrt

Die Morgenlandfahrt
Die Morgenlandfahrt Manuskript: 1930/31 Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1932
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

H. H., der Erzähler, denkt wehmütig an seine Aufnahme in den Bund der Morgenlandfahrer und seine eigene Reise zurück: "Unsere Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrunde liegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen, etwas, woneben meine eigene Person vollkommen nichtig erschien."
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Kritik

Die Morgenlandfahrt ist ein Symbol sowohl für die Kulturgeschichte als auch für den Lebensweg des Einzelnen. Bei der fantasievollen Erzählung handelt es sich um eine märchenhafte Dichtung voller Symbolik.
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H. H., der Erzähler, bezeichnet sich als „Violinspieler und Märchenleser“. Wehmütig denkt er an seine Aufnahme in den Bund der Morgenlandfahrer und seine eigene Reise zurück: „Unsere Fahrt nach Morgenland und die ihr zugrunde liegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Leben gewesen, etwas, woneben meine eigene Person vollkommen nichtig erschien.“ Aber der Bund existiert wohl nicht mehr. H. H. befindet sich in einer Lebenskrise und hat sich vorgenommen, über seine Morgenlandfahrt zu berichten, um seinem Dasein wieder einen Sinn zu geben. Aber er weiß nicht, wie er anfangen soll. Eine der Schwierigkeiten beruht darauf, dass er bei seiner Aufnahme in den Bund gleich nach dem Ersten Weltkrieg einen Eid geschworen hat, das Bundesgeheimnis nicht zu verraten. Die Ziele, die der Bund mit der Morgenlandfahrt verfolgte, unterliegen also der Schweigepflicht. Nur was sich die einzelnen Teilnehmer davon erwarteten, darf er sagen. Er selbst nahm an der Morgenlandfahrt teil, weil er seit seiner Jugend davon geträumt hatte, Prinzessin Fatme zu sehen und nach Möglichkeit ihre Liebe zu gewinnen.

Zu Hunderten und Tausenden machten sich die Morgenlandfahrer auf den Weg. Zahllose Gruppen waren gleichzeitig unterwegs, und zwischendurch wanderte man auch einmal ein Stück allein. Von den Einrichtungen, die „einer von Geld, Zahl und Zeit betörten Welt entstammen und das Leben seines Inhaltes entleeren“ machten die Pilger keinen Gebrauch; sie verzichteten also auf Uhren, Autos, Eisenbahnen und andere Maschinen.

Die Morgenlandfahrt führte nicht nur durch Räume, sondern auch durch Zeiten. „Wir zogen nach Morgenland, wir zogen aber auch ins Mittelalter oder ins goldne Zeitalter, wir streiften Italien oder die Schweiz, wir nächtigten aber auch zuweilen im zehnten Jahrhundert und wohnten bei den Patriarchen oder bei Feen.“ Und die Reise führte zu Stationen in H. H.’s bisherigem Leben.

Unter den freiwilligen Dienern, die seine Gruppe begleiteten und das Gepäck trugen, war Leo. Als dieser in der gefährlichen Schlucht von Morbio verschwand, vermisste plötzlich jeder Teilnehmer ein besonders wichtiges Werkzeug, eine Landkarte, ein Dokument oder einen Wertgegenstand. Dabei hatte Leo nur einen der dreißig Säcke getragen, und es war doch unwahrscheinlich, dass sich darin ausgerechnet alle wichtigen Gegenstände befanden. Wieso verließ Leo die Gruppe? Hatte der Erbfeind seine Hand im Spiel? Wollte er das Vorhaben dadurch zum Scheitern bringen? Weil die Diskussionen über diese Fragen in Streit und Zweifel ausarteten, setzten sich einzelne Teilnehmer ab, und die Gruppe löste sich auf.

Um Rat zu erfragen, sucht H. H. seinen Jugendfreund Lukas auf, der in der Stadt eine Zeitung redigiert und ein viel beachtetes Buch über den Ersten Weltkrieg verfasste. Als Lukas merkt, dass Leos Verschwinden offenbar eine Zäsur bedeutete, schlägt er im Adressbuch nach und findet den Eintrag „Leo, Andreas, Seilergraben 69a“.

H. H. wagt nicht, an der Wohnungstür zu läuten, aber er streicht um das Haus herum, bis er eines Tages Andreas Leo herauskommen sieht. Es ist niemand anderes als der Diener bei der Morgenlandfahrt! H. H. folgt ihm und setzt sich neben ihm auf eine Anlagenbank. Obwohl es zu regnen beginnt, wandern sie gemeinsam durch die nächtlichen Straßen, aber Leo will sich nicht an H. H. erinnern. Noch in derselben Nacht schreibt ihm H. H. einen langen Brief. Gegen Morgen schläft er ein. Als er aufwacht, sitzt Leo in seinem Wohnzimmer. Er hat den Brief an die Oberen des Bundes weitergereicht, und H. H. deshalb vor ihr Gremium zitieren. Leo führt ihn auf vielen Umwegen zu einer Kanzlei mit einem riesigen Archiv, in dessen Saal sich die Oberen versammeln. Unter ihnen entdeckt H. H. Albertus Magnus, den Maler Klingsor und den Fährmann Vasudeva. Aber das verblüfft ihn nicht, weiß er doch, dass auch Zoroaster, Lao Tse, Platon, Xenophon, Pythagoras, Don Quixote, Tristram Shandy, Novalis und Baudelaire dazu gehören.

Der Sprecher des Hohen Stuhls fragt den „Selbstankläger“, ob er bereit sei, sich dem Urteil der Oberen zu unterwerfen. Der Oberste der Oberen erhebt sich. Es ist Leo.

Sein prachtvoller Ornat funkelt von Gold. Während H. H. seine Irrtümer einsieht und begreift, dass nicht der Bund, sondern er in eine Krise geraten und zum Deserteur geworden war, verkündet Leo das Urteil: „Bruder H. ist durch seine Prüfung bis in die Verzweiflung geführt worden, und Verzweiflung ist das Ergebnis jedes ernstlichen Versuches, das Menschenleben zu begreifen und zu rechtfertigen. Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden ernstlichen Versuches, das Leben mit der Tugend, mit der Gerechtigkeit, mit der Vernunft zu bestehen und seine Forderungen zu erfüllen. Diesseits dieser Verzweiflung leben die Kinder, jenseits die Erwachten.“ H. H. wird freigesprochen und in die Schar der Oberen des Bundes aufgenommen.

Das „schlechthin die ganze Welt“ enthaltende Archiv steht ihm jetzt zur Verfügung. Da wird ihm auch klar, wie vergeblich sein Versuch einer Chronik bleiben musste: „Die Geschichte dieses Bundes hatte ich Einfältiger schreiben wollen, ich, der ich von diesen Millionen Schriften, Büchern, Bildern, Zeichen des Archivs kein Tausendstel zu entziffern oder gar zu begreifen vermochte!“

Zur Erprobung seines Glaubens wird er angehalten, nachzusehen, was im Archiv über ihn selbst zu finden ist. Es handelt sich nicht um etwas Schriftliches, sondern um eine Janusfigur aus Holz oder Wachs, eine Seite schwach und verwischt, die andere kräftig und mit Leos Zügen. Im Inneren gleitet unaufhörlich Substanz aus dem schwachen Teil der Doppelfigur in den anderen hinüber. „Mit der Zeit, so schien es, würde alle Substanz aus dem einen Bilde in das andere hinüberrinnen und nur ein einziges übrigbleiben: Leo. Er musste wachsen, ich musste abnehmen.“
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Vom Sommer 1930 bis Frühjahr 1931 schrieb Hermann Hesse (1877 – 1962) an der Erzählung „Die Morgenlandfahrt. Sie entstand also zwischen „Siddhartha“ (1922) und „Das Glasperlenspiel“ (1943). Ein Vorabdruck erfolgte 1931 in der Zeitschrift „Corona“. Die Erstausgabe erschien im Jahr darauf im S. Fischer Verlag.

Hermann Hesse verarbeitete in der Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ wohl die Abkehr von Gusto Gräser (eigentlich: Gustav Arthur Gräser, 1879 – 1958) nach dem Ersten Weltkrieg, die er inzwischen als Verrat empfand. Auf autobiografische Bezüge weisen nicht zuletzt die Initialen des Protagonisten H. H. hin, die auch die des Schriftstellers sind. Leo ist das Alter Ego Gusto Gräsers.

Das Thema ist die Vereinsamung des geistigen Menschen in unserer Zeit und die Not, sein persönliches Leben und Tun einem überpersönlichen Ganzen, einer Idee und einer Gemeinschaft einzuordnen. Das Thema der „Morgenlandfahrt“ ist: Sehnsucht nach Dienen, Suchen nach Gemeinschaft, Befreiung vom unfruchtbar einsamen Virtuosentum des Künstlers. (Hermann Hesse in einem Verlagsprospekt)

Der weise Fährmann Vasudeva aus „Siddhartha“ gehört dem Bund der Morgenlandfahrer an, und wie in dem älteren Entwicklungsroman geht es auch in dieser Erzählung nicht um eine Lehre, sondern darum, nach dem Sinn des Lebens zu suchen. Im Mittelpunkt steht die Entfaltung der individuellen Potenziale, die persönliche Reifung und die Annäherung an das Ideal der sittlichen Vollkommenheit. Die Morgenlandreise ist ein Symbol sowohl für die Kulturgeschichte als auch für den Lebensweg des Einzelnen. Dem Glasperlenspiel entspricht in „Die Morgenlandfahrt“ das Archiv des Geheimbundes, in dem alles Wissen der Welt aufbewahrt wird. Der Bund ist ein Vorläufer des Ordens von Kastalien. Ein wichtiges Motiv des späteren Entwicklungsromans taucht in dieser Erzählung bereits auf: „Es ist das Gesetz vom Dienen. Was lange leben will, muss dienen. Was aber herrschen will, das lebt nicht lange.“

Im Unterschied zu „Siddhartha“ und „Das Glasperlenspiel“ ist „Die Morgenlandfahrt“ aber nicht in einer erhabenen Sprache geschrieben, sondern eine naive, fantasievolle Erzählung, eine märchenhafte Dichtung, die durch ihre dichte Symbolik anrührt und etwas unmittelbar zum Schwingen bringt.

Weil die poetische Sprache sich nur unzulänglich beschreiben lässt, folgt ein Textauszug aus „Die Morgenlandfahrt“:

Im Schlossturm von Bremgarten duftete mir der Flieder ins Schlafzimmer, durch die Bäume hindurch hörte ich den Fluss rauschen, durchs Fenster stieg ich in tiefer Nacht, von Glück und Sehnsucht trunken, schlich am wachenden Ritter und an eingeschlafenen Zechern vorüber zum Ufer hinab, zu den rauschenden Wassern, zu den weißen leuchtenden Meerjungfern, und sie nahmen mich mit sich hinab in die mondkühle Kristallwelt ihrer Heimat, wo sie unerlöst und träumerisch mit den Kronen und Goldketten ihrer Schatzkammern spielen. Monate schienen mir in der funkelnden Tiefe zu vergehen, und als ich emportauchte und tief durchkühlt ans Ufer schwamm, da klang noch immer Pablos Rohrflöte fern aus den Gärten, und noch immer stand hoch am Himmel der Mond. Ich sah Leo mit zwei weißen Pudeln spielen, sein kluges Knabengesicht strahlte vor Freude. Ich fand Longus im Gehölze sitzen, ein pergamentenes Buch auf den Knien, in das er griechische und hebräische Zeichen schrieb: Worte, aus deren Buchstaben Drachen flogen und farbige Schlangen sich bäumten. Er sah mich nicht, er malte versunken seine bunte Schlangenschrift, lange blickte ich über seine gebeugten Schultem in das Buch, sah die Schlangen und Drachen aus den Zeilen quellen, sich wälzen, sich lautlos ins nächtliche Gebüsch verlieren. „Longus“, sagte ich leise, „lieber Freund !“ Er hörte mich nicht, meine Welt war ihm fern, er war versunken. Und abseits unter den Mondbäumen wandelte AnseIm, eine Schwertlilie in der Hand, verloren starrte er und lächelnd in den violetten Kelch der Blüte.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszug: © Suhrkamp Verlag

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