Karl Kraus : Die letzten Tage der Menschheit

Die letzten Tage der Menschheit
Die letzten Tage der Menschheit in: "Die Fackel", Wien 1918/19 Erstausgabe (Buch): Wien 1922 Uraufführung des Epilogs: Wien 1924 Uraufführung (Bühnenfassung): Wien 1964 Erstausgabe der Bühnenfassung: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1992 Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2005 ISBN 3-518-45715-2, 285 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Die letzten Tage der Menschheit" spielt zur Zeit des Ersten Weltkriegs und ist eine Collage aus Äußerungen von zahlreichen Figuren aus allen Gesellschaftsschichten. Karl Kraus geht es dabei weniger um die Gräuel an der Front, als um Dummheit, Verlogenheit und Gedankenlosigkeit; er nimmt die hohlen Phrasen dümmlicher Offiziere ebenso aufs Korn wie die Skrupellosigkeit der Kriegsgewinnler und die Sensationsgier der Journalisten.
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Kritik

Wie kaum ein anderer hat Karl Kraus es in "Die letzten Tage der Menschheit" verstanden, seiner scharfen Gesellschaftskritik und seiner eindringlichen Warnung vor dem Krieg die Form einer vor Witz und Sarkasmus funkelnden monumentalen Satire zu geben.
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1. Akt

Die erste Szene spielt 1914 an einer nach dem Lederwarengeschäft Sirk benannten Straßenecke in Wien (Ringstraße / Kärntnerstraße). Soeben traf die Meldung von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers am 28. Juni 1914 in Sarajewo ein.

Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –!
Zweiter Zeitungsausrufer: Extraausgabee! Beidee Berichtee! […] (Seite 19)

Einige Passanten grölen: „Die Russen und die Serben, die hauen wir in Scherben!“ (Seite 24)

Der erste Verehrer der Reichspost: Hast glesen? Keine Teuerung durch den Krieg.
Der zweite Verehrer der Reichspost: Das is gscheit! Wirst sehn, der Krieg wird eine Renaissance österreichischen Denkens und Handels heraufführen, wirst sehn. Ramatama!
Der erste Verehrer der Reichspost: Höchste Zeit, dass amal a Seelenaufschwung kommt! Rrtsch – obidraht!
Der zweite Verehrer der Reichspost: Ein Stahlbad brauch‘ mr! Ein Stahlbad! (Seite 25)

Dann fragt der erste Verehrer der Reichspost seinen Gesprächspartner, ob man ihn denn bereits einberufen habe, und es stellt sich heraus, dass sie beide ausgemustert wurden.

Generalstabschef Conrad von Hötzendorf kann es kaum erwarten, bis der Hoffotograf Skolik erscheint, doch als dieser endlich gemeldet wird, spielt er den Überraschten.

Ein Major (kommt): Exlenz melde gehorsamst, der Skolik is da.
Conrad: Was denn für ein Skolik?
Major: Na der Hoffotograf Skolik aus Wien, der was seinerzeit, während des Balkankrieges, die schöne Aufnahme gemacht hat, wie Exlenz in das Studium der Balkankarte vertieft sind.
Conrad: Ja, ja, ich erinnere mich […] (Seite 27)

Skolik tritt auf. Conrad tut so, als studiere er eine militärische Karte und bemerke ihn erst nach einiger Zeit. Dann schützt er vor, sehr beschäftigt zu sein und keine Zeit für eine neue Fotografie zu haben.

Conrad: […] können S‘ nicht bissl später kommen, ich bin nämlich – ich sag’s Ihnen im Vertrauen, Sie dürfen’s nicht weitersagen, ich bin nämlich grad beim Studium der Karte vom Balkan – ah was sag ich, von Italien – (Seite 29)

Scheinbar widerstrebend lässt er sich am Ende doch die Erlaubnis für eine Aufnahme abringen.

Conrad: […] Wird’s lang dauern?
Skolik: Nur einen historischen Moment, wenn ich bitten darf – […] Exzellenz, setzen nur das Studium der Karten fort – so – ganz leger – ganz ungezwungen – so – nein, das wär bissl unnatürlich, da könnt man am End glauben, es is gstellt – […] der Kopf – gut is – nein, Exzellenz, mehr ungeniert – und kühn, bitte mehr kühn! – Feldherrnblick, wenn ich bitten darf! – es soll ja doch – so – es soll ja doch eine bleibende histri – historische Erinnerung an die große Zeit – so is ’s gut! – nur noch – bisserl – soo – machen Exzellenz ein feindliches Gesicht! – jetzt – ich danke! (Seite 29f)

Auf dem Kohlmarkt erläutert ein Kurzwarenhändler, wie die Russen und ihre Verbündeten zu besiegen sind:

Und ich sag Ihnen, ich weiß sogar von einen Herrn vom Ministerium, die Sache is so gut wie gemacht. Wir kommen von rechts, die Deitschen von links und wir zwicken sie, dass ihnen der Atem ausgeht. (Seite 31)

Ein Patriot und ein Zeitungsabonnent diskutieren darüber, was der Krieg für die Wiener bedeutet.

Der Patriot: Der Wiener speziell is ein Prima-Durchhalter. Alle Entbehrungen tragen sie bei uns, als ob es ein Vergnügen wär.
Der Abonnent: Entbehrungen? Was für Entbehrungen?
Der Patriot: Ich mein, wenn es Entbehrungen geben möcht
Der Abonnent: […] Es gibt allerdings keine Entbehrungen, aber man erträgt sie spielend – das ist die Kunst […]
Der Patriot: Eben. Das Anstellen zum Beispiel is eine Hetz – sie stellen sich förmlich dazu an.
Der Abonnent: Der einzige Unterschied gegen früher is, dass jetzt Krieg is. Wenn nicht Krieg wär, möchte man rein glauben, es is Friede. Aber Krieg is Krieg, und da muss man so manches, was man früher nur gewollt hätt. (Seite 35)

Ein Feldgeistlicher, der die Soldaten im Schützengraben an der Front besucht, fragt: „Feuerts tüchtig eini in die Feind?“ (Seite 36)

Der Wiener Viktualienhändler Vinzenz Chramosta herrscht einen Kunden an: „Wos wolln Sö? Kosten wolln Sö? Sö Herr Sö, was glauben denn Sö? Jetzt is Kriag!“ (Seite 40)

Und der Volksschullehrer Zehetbauer erklärt seiner Klasse: „Jetzt aber sind höhere Ideale über uns hereingebrochen, sodass der Fremdenverkehr ein wenig zurückgedrängt ist und erst in zweiter Linie in Betracht kommt.“ (Seite 43)

In einer Wallfahrtskirche, zeigt der Messner den Besuchern ein Weihegeschenk: einen Rosenkranz aus italienischen Schrapnellkugeln.

Man macht aus Schrapnellkugeln Rosenkränze und dafür aus Kirchenglocken Kanonen. Wir geben Gott, was des Kaisers, und dem Kaiser, was Gottes is. Man hilft sich gegenseitig, wie man kann. (Seite 47)

2. Akt

Ein polnischer Jude: Extrosgabee – kofen Sie mir ab, meine Damen und Herrn –
Ein sesshafter Wucherer: Das hat uns noch gefehlt, dass wir den Pofel herbekommen – wo man hinschaut, nix wie Juden! […]
Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Neue Freie Presse! Kroßa Sick der Deitschen in Galizieen! Alle Stellungen genohmen!
Der Wucherer: Ich steh auf den Standpunkt, Krieg is Krieg. Bittsie, ob die jungen Leut sich beim Automobilfahren den Hals brechen oder direkt fürs Vaterland – ich kann solche Sentementalitäten nicht mitmachen. (Seite 51)

Anton Grüßer führt ein Restaurant in Wien. Dort wird ein österreichischer Offizier ungeduldig.

Bambula von Feldsturm (brüllend und auf den Tisch trommelnd): Sackrament noch amal, wird man denn heut gar nicht bedient? Sie, herstellt!
Ein Kellner: Bitte gleich, Herr Major!
Grüßer: Herr Major befehlen?
Bambula von Feldsturm: Sie, Wirt, was is denn das? Wird man denn heut gar nicht bedient? Die Bedienung ist nicht mehr wie früher, seit einem Jahr bemerk ich das, wo sind denn alle Kellner?
Grüßer: Eingerückt, Herr Major.
Bambula von Feldsturm: Was? Eingerückt? Warum sinds denn alle eingerückt?
Grüßer: No weil Krieg is, Herr Major.
Bambula von Feldsturm: Aber seit einem Jahr merk ich das schon […]
Grüßer: No ja, seitdem Krieg is, Herr Major!
Bambula von Feldsturm: Was? Das is ein Skandal! […]
Grüßer: Ja, Herr Major, mir möchten ja alle, dass ’s einmal aufhört und dass der Frieden kommt –
Bambula von Feldsturm: Was, Frieden – hörn S‘ mir auf mit Ihrer Friedenswinselei […] jetzt heißt es durchhalten […]
Grüßer: Was haben bestellt, Herr Major?
Bambula von Feldsturm: Nix, ein Rostbratl möchte ich, aber etwas unterspickt –
Grüßer: Bedaure, heut is fleischfrei.
Bambula von Feldsturm: Was? Fleischfrei? Was is denn das wieder für eine neue Mod?!
Grüßer: Ja, jetzt is Krieg Herr Major und da –
Bambula von Feldsturm: Machen S‘ keine Spomponadeln [Umschweife]. Möcht wissen, was das mit dem Krieg zu schaffen hat, dass ’s Fleisch ausgeht! Das war früher auch nicht! (Seite 68ff)

Der Zeitungsabonnent setzt dem Patrioten auseinander, wie es zum Weltkrieg kam:

Deutschland war also vollständig gerüstet für einen Verteidigungskrieg, den es schon lang führen wollte, und die Entente hat schon lang einen Angriffskrieg führen wollen, für den sie aber nicht gerüstet war. (Seite 71f)

3. Akt

Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabe –! Venedig bombardiert! Schwere Niederlage der Italiena! […]
Ein Weib (puterrot, im Laufschritt): Fenädig pompatiert! […]
Zweiter Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Ssick auf allen Linien! Der Vormarsch der Rumänen! (Seite 91f)

Frau Kommerzienrat Auguste Wahnschaffe:

Ich habe nur zwei Kinder, die leider noch nicht militärtauglich sind, umso weniger als das eine zu unserem Leidwesen ein Mädchen ist. So muss ich mir mit ’nem Ersatz behelfen, indem ich mich der Vorstellung hingebe, dass mein Junge an der Front war, aber selbstverständlich bereits den Heldentod gefunden hat, ich müsste mich ja in Grund und Boden schämen, wenn’s anders der Fall, wenn er mir etwa unverwundet heimgekehrt wäre. (Seite 102)

4. Akt

Ein Zeitungsausrufer: Extraausgabee –! Varnichtete Niederlage der Italiena!
Zweiter Zeitungsausrufer: Extrausgabee –! Die amerikanische Note von Wülson! (Seite 123)

Aus dem Hotel Bristol in Wien kommen zwei Kommerzialräte. Ohne auf die Bettlerin neben ihnen zu achten, schimpfen sie darüber, dass kein Taxi zu sehen ist.

Der Erste: Ich hab kürzlich auch meiner Frau auseinandergesetzt, weil sie immer treibt, wenn nur der Krieg schon zu End wär, die Soldaten im Schützengraben tun ihr Leid. Ich sag immer, dafür ham sie das Bene, der Nachruhm in den Annalen! Was ham wir? Die Kriegsgewinnsteuer! Das vergessen die Leute immer.
Der Zweite: No und das Friedensrisiko –?!
Der Erste: Man soll gar nicht daran denken. Wissen Sie – wenn einer zurückkommt und er fängt an zu erzählen – es is doch immer dasselbe – gut, sie ham ausgestanden, aber das weiß man doch schon! Ich kann gar nicht mehr zuhörn, es is doch schon fad. (Seite 126f)

Bei einem Ärztekongress in Berlin weist einer der Professoren auf die Vorteile des Krieges für die Volksgesundheit hin:

Wir haben mit steigender Wohlhabenheit und Zunahme der Luxusernähung Raubbau an unsrer Gesundheit getrieben; jetzt haben Millionen von Menschen unter dem Druck der Entbehrungen den Weg zur Natur und Einfachheit der Lebensführung zurückzufinden gelernt. Sorgen wir dafür, dass die heutigen Kriegslehren unsrer zukünftigen Generation nicht wieder verloren gehen. (Seite 129)

Der Patriot und der Zeitungsabonnent diskutieren wieder einmal:

Der Abonnent: Wissen möchte ich, was an den Gerüchten dran is!
Der Patriot: Das kann ich Ihnen sagen: gar nix is dran und der beste Beweis is, dass man nicht einmal weiß, was es für Gerüchte sind. Wissen Sie was?
Der Abonnent: No –?
Der Patriot: Wissen möchte ich, was es für Gerüchte sind!
Der Abonnent: No was wern es schon für Gerüchte sein! Schöne Gerüchte das, von Mund zu Mund gehn sie, aber kein Mensch kann einem sagen –
Der Patriot: Man is rein auf Gerüchte angewiesen! (Seite 152f)

Im Kriegsministerium spielt sich währenddessen folgende Szene ab:

Ein Fähnrich (tritt ein): Herr Hauptmann melde gehorsamst, der Herr Oberst verlangt den Bericht über die russischen Kriegsgefangenen.
Der Hauptmann: Den Erlass wegen der Propaganda? Da bin ich grad dabei.
Der Fähnrich: Nicht wegen der Propaganda, sondern über die Verhungerten.
Der Hauptmann: Die Verhungerten? Wo sans denn scho wieder verhungert? Ham mr denn den Akt?
Der Fähnrich: Es handelt sich um den Fall, wo ein Russe, der mit zwei andern zusammen auf einer Pritschen geschlafen hat, an Hunger gestorben ist. Er war schon verwest, wie der Inspektor in den Raum kommt, und die zwei andern waren so entkräftet, dass sie nicht mehr haben aufstehen können und auch nicht rufen.
Der Hauptmann: Momenterl – also sag dem Herrn Oberst, ich wer‘ gleich im Einlauf nachschaun, ich bin grad mit der Propaganda beschäftigt, weißt damit sich die ungünstigen Eindrücke bei den Kgf. abschwächen, dass mr wieder Handelsbeziehungen anknüpfen können und dass s‘ uns nachher Lebensmittel schicken, die Russen, wann s‘ z’haus kommen und so. (Seite 156f)

Im Dorf Postabitz schreibt eine Frau einen Brief an ihren Mann:

Inigsgelibter Gatte!
Ich theile Dir mit, dass Ich mich verfelt habe. Ich kann nichs Dafür, lieber Gatte. Du verzeist mir schon alles, was ich Dir mittheile. Ich bin in Hoffnung gerathen, von einem andern. Ich weis ja, das Du gut bist und mir alles verzeist. Er hat mich überredet und sagte, Du komst so nicht mehr zurück vom Felde und hatte dazu meine schwache Stunde […] Ich dachte mir schon, Dir muss auch schon was passiert sein, weil Du schon 3 Monat nichts mehr geschrieben hast. Ich bin ganz verschrocken, als ich Deinen Brief erhalten habe und Du noch am Leben warst. Ich wünsche es dir aber verzeihe es mir, lieber Franz, vileicht stirbt das Kind und dan ist alles wieder gut […] (Seite 161)

5. Akt

Stimme eines Zeitungsausrufers: Der Aabeend, Aachtuhrblaad! […] Friedensversuche der Eenteentee! […] Blutige Abweisung im Naakaamf – […] Extraausgabee –! Die Millionenverluste der Eeenteentee! (Seite 177f)

Bei Udine begegnen sich zwei Generale, von denen jeder mit einem über und über bepackten Auto unterwegs ist:

Der erste General: Jetzt fahr i’s letzte Mal. Mehr is nicht zu holen.
Der zweite General: Mehr is nicht zu holen […]
Der erste: Mir san wieder amol zu spät kommen.
Der zweite: Ja, die Deutschen!
Der erste: Praktisch san s‘, das muss ihnen der Neid lassen. Beuteoffizier‘ ham s‘, da is alles urganisiert. Mit Sammeltranspurte. Unsereins muss sich alles kleinweis zsamklauben.
Der zweite: Sie ham halt a Urganisation […] Und die deutschen Beuteoffizier san gschwinder wie bei uns die galoppierende Schwindsucht. Da kriegt man an Reschpekt! […]
Der erste: Dort siech ich einen Infanteristen von uns im Feld, der nimmt einen Kolben Kukuruz [Mais]! Wart Kerl, stehlen! (Seite 178f)

Deutsche Offiziere sind bei ihren österreichischen Verbündeten zu einem so genannten Liebesmahl in Wien eingeladen. Sie feiern bei Musik und Tanz, obwohl die Front näher rückt. Als eine heftige Detonation zu hören ist, meint ein Artilleriereferent: „Das war a schwarer Pumperer!“ (Seite 204) Alle paar Minuten stürzt ein Telefonoffizier auf den österreichischen General zu und flüstert ihm eine neue Meldung ins Ohr. Der General reagiert immer ungehaltener: „Was? Die elendigen – die elendigen – diese Frontschweine –!“ (Seite 203) – „Was?! Die Gasgranaten gehen auch nicht?! Sauwirtschaft überanand!!“ (Seite 208) Schließlich springt der General mit hochrotem Kopf auf und schlägt mit der Faust auf den Tisch:

Kruzi!! Ich habe doch ausdrücklich –!! Das is wirklich nur bei uns möglich – Was – hab ich derer Bagasch eingeschärft?! (brüllend) Wenn eine Patrone fehlt, kannibalisch strafen! – Mit kräftigem Hurra ungestüm auf Gegner stürzen! – Ihm noch auf kurze Distanz eins unter die Nasen brennen, dann sofort mit dem Bajonett in die Rippen! – […] Und was haben s‘ gemacht – diese Frontschweine […] diese – (jammernd) verderben einem alles – […] diese Schkribler! [Journalisten] – […] Dieser boden-lose Leichtsinn – unausrottbar – nix als fressen und Menscher [Frauen] – demora – (er bricht zusammen.) (Seite 211)

Ein preußischer Offizier versucht, den österreichischen General zu beruhigen:

Nich doch, Exzellenz, Kopf hoch! Meine Herrn – wir dürfen und können den Mut nicht sinken lassen – jetzt vor dem Endsieg – können und dürfen wir erhobenen Hauptes – Seien sie überzeugt, meine Herrn, dass es sich nur um den typischen Anfangsgewinn einer jeden feindlichen Offensive handelt – Bange machen gilt nicht. (Seite 212)

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„Die letzten Tage der Menschheit“ ist eine „Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog“ von Karl Kraus (1874 – 1936). Das Stück hat weder eine überschaubare Anzahl von Protagonisten noch eine fortlaufende Handlung, sondern besteht (in der Originalfassung) aus zweihundertzwanzig Szenen, in denen hunderte von Figuren aus allen Gesellschaftsschichten auftreten: Hofbeamte, Offiziere, Soldaten, Kriegsberichterstatter (darunter Alice Schalek), Zeitungsverkäufer, Kleinbürger, Adelige, Spekulanten und Kriegsgewinnler, Händler, Blumenfrauen, Bettler, ein Patriot und ein Nörgler (Karl Kraus‘ Alter Ego). Die Szenen spielen beispielsweise an einer Straßenecke in Wien (Sirk-Ecke), in Wohnungen, Gaststätten, Festsälen, Büros, Kasernen, Lazaretten und Schützengräben. Aus Dialogen, Ansprachen, Briefen, militärischen Tagesbefehlen, Zeitungsmeldungen montierte Karl Kraus eine monumentale Collage über den Ersten Weltkrieg. Von Akt zu Akt wird die Lage für Österreich und Deutschland düsterer: Die Kastrophe naht unaufhaltsam. In „Die letzten Tage der Menschheit“ geht es weniger um die Kriegsgräuel an der Front als um Dummheit, Verlogenheit und Gedankenlosigkeit; Karl Kraus nimmt die hohlen Phrasen dümmlicher Offiziere ebenso aufs Korn wie die Skrupellosigkeit der Kriegsgewinnler und die Sensationsgier der Journalisten. Zusammengehalten werden die vielen Szenen durch das wiederholte Auftreten bestimmter Figuren und die Variation von Motiven. Das Ende ist surreal: Da treten Tote auf, und Gott klagt (mit den Worten Kaiser Wilhelms II.): „Ich habe es nicht gewollt!“ „Die letzten Tage der Menschheit“ sind angebrochen.

Mehr als achtzig Jahre nach der Entstehung hat dieses Antikriegsdrama von Karl Kraus noch nichts von seiner Wirkung verloren. Liest oder hört man „Die letzten Tage der Menschheit“, ist man überwältigt von dem Ideenreichtum des monumentalen Stückes. Wie kaum ein anderer hat Karl Kraus es verstanden, seiner scharfen Gesellschaftskritik und seiner eindringlichen Warnung vor dem Krieg die Form einer vor Witz und Sarkasmus funkelnden Satire zu geben. Das Lachen – für das es fast auf jeder Seite einen Grund gibt – bleibt einem allerdings im Hals stecken.

Eine erste Veröffentlichung des Stücks „Die letzten Tage der Menschheit“ erfolgte 1918/19 in Sonderheften der von Karl Kraus 1899 bis 1936 in Wien herausgegenenen Zeitschrift „Die Fackel“. Eine Buchausgabe erschien 1922. Zwei Jahre später wurde der Epilog erstmals aufgeführt, aber Karl Kraus hielt „Die letzten Tage der Menschheit“ für ein „Lesedrama“. Bis 1928 weigerte er sich, es als Theaterstück aufführen zu lassen. 1929/1930 arbeitete er dann selbst an einer Bühnenfassung. Der Suhrkamp Verlag – von dem es auch eine 847 Seiten dicke Version des Stücks „Die letzten Tage der Menschheit“ gibt – brachte 1992 die „Bühnenfassung des Autors“ heraus, auf die sich meine Inhaltsangabe bezieht.

Historische Aufnahmen von „Die letzten Tage der Menschheit“:

  • „Die letzten Tage der Menschheit“: Hörspiel, 1947, bearbeitet von Stephan Hermlin für Radio Frankfurt; Regie: Theodor Steiner; Sprecher: Wolgang Büttner, Ursula Langrock, Siegfried Lowitz, Richard Münch u.a.; Musik: Wolfgang Rudolf (Der Hörverlag, München 2003)
  • „Die letzten Tage der Menschheit“: Lesung, 1964; Sprecher: Helmut Qualtinger (Verlag Otto Preiser, 1987)
  • „Die letzten Tage der Menschheit“: Hörspiel, 1974; Regie: Hans Krendlesberger; Sprecher: Axel Corti, Karl Paryla, Hans Holt, Alfred Böhm, Otto Tausig, Jane Tilden, Heinz Holecek, Maxi Böhm, Kurt Heintel, Ernst Waldbrunn u.a. (Österreichischer Rundfunk, 45 Sendefolgen, auch auf CD)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Karl Kraus (Kurzbiografie)

Stewart O'Nan - Der Zirkusbrand
"Der Zirkusbrand" ist kein Roman, sondern "eine wahre Geschichte", so der Untertitel des Buches von Stewart O'Nan, der versuchte, den Verlauf der Katastrophe zu rekonstruieren. Was fehlt, sind Identifikationsfiguren, an deren Schicksal die Leser mitfühlend Anteil nehmen könnten.
Der Zirkusbrand