António Lobo Antunes : Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben
Inhaltsangabe
Kritik
Eine 52 Jahre alte Lehrerin, deren Namen wir nicht erfahren, verbringt die drei Tage vom 26. bis 28. August 2011 allein im Ferienhaus ihrer Familie an der portugiesischen Atlantikküste. Von den Bewohnern umliegender Anwesen kennt sie fast niemanden mehr. Die meisten haben ihre Häuser verkauft, so wie sie im Auftrag ihrer Mutter. Jetzt nimmt sie Abschied, nicht nur von dem mit vielen Erinnerungen verbundenen Ferienhaus, sondern auch von ihrem Leben, dessen Episoden ihr in diesen drei Tagen noch einmal durch den Kopf gehen.
Ich bin gekommen, um mich vom Haus zu verabschieden oder von meinem ältesten Bruder und durch ihn von mir selber
Die schließlich geschiedene Ehe ihrer Eltern war unglücklich. Der inzwischen an einem Schlaganfall gestorbene Vater, der wegen seiner Zugehörigkeit zu den Kommunisten eingesperrt gewesen und dann mit einem kaputten Knie aus dem Gefängnis entlassen worden war, blieb arbeitslos und trank. Die selbstbezogene Mutter empfand nicht nur ihn, sondern auch die vier Kinder als Last. Als der älteste Sohn, der wegen seiner politischen Einstellung ebenfalls Schwierigkeiten bekommen hatte, im Alter von 18 Jahren zum Militär einberufen wurde, zerriss er den Bescheid, stürzte sich in der Nähe des Ferienhauses vom Kliff des Alto da Vigia und hinterließ einen an einen Krug gelehnten Abschiedsbrief. Seine Schwester wirft sich vor, ihn nicht zurückgehalten zu haben, als er mit dem Fahrrad losfuhr.
als ich sein Gesicht sah, begriff ich, ich hätte antworten können
– Geh nicht
und habe es nicht getan, hätte antworten können
– Nimm mich mit
habe es aber auch nicht getanwar, als ich auf die Straße sah, mein ältester Bruder schon weit weg, auch wenn ich bis zum Strand gelaufen wäre, hätte ich ihn nicht mehr erreicht, man erkannte, dass er es war, der die Felsen hinaufkletterte
Bei der Geburt der einzigen Tochter war die Mutter bereits 30 Jahre alt. Die beiden anderen Söhne waren zwei bzw. vier Jahre älter als ihre Schwester. Der eine, die Frucht eines Seitensprungs der Mutter mit einem Klempner in Lissabon, war von Geburt an gehörlos und blieb stumm. Der andere kam später traumatisiert aus einem Krieg in Afrika zurück.
Die Mutter klagte:
mein Kreuz, Dona Liberdade, ein Tauber, eine, die zu nichts taugt, einer, der sich umbringt, und ein Verrückter, einmal ganz abgesehen vom Ehemann mit seinen Alkoholnebeln
mein nicht tauber Sohn in der Nervensprechstunde für die aus dem Krieg
Die einsame Lehrerin denkt:
dabei wusste ich ganz genau, dass es der älteste Bruder war, um den ich mich nicht rechtzeitig gekümmert habe, dem Tauben habe ich eine Arbeit vorgeschlagen, dem Verrückten bezahle ich das Zimmer, der Mutter überweise ich jeden Monat Geld, der älteste Bruder, der wegen des Krieges in Afrika vor Ewigkeiten ins Meer gegangen ist
Die Worte beginnen, ihren Bezug zu dem, was sie ausdrücken sollen, zu verlieren […], wenn ich Mutter sage, heißt das auch erster Schultag, und ich strecke, voller Angst hineinzugehen, die Arme zu einer Frau aus, die sich verabschiedet, während eine zweite Frau mir, indem sie mir die Stufen versperrt, verbietet, zu ihr zu rennen, ihr befiehlt zu gehen
– Überlassen Sie sie mir und machen Sie sich keine Sorgen
Als Kind hörte die Erzählerin das Bett im Schlafzimmer der Eltern knacken und das am Bettkopf hängende Kruzifix klingeln.
– Wenn die Kinder uns hören?
mein Vater, der damals noch sprach
– Wenn sie es hören begreifen sie es nicht
meine Mutter, die schläfrig wirkte, gab mit einem konkaven Seufzer nach, in den er ganz hineinpasste
– Wenn sie es hören begreifen sie es nicht
das Kruzifix klingelte trotz der verschlossenen Tür noch lauter
Als der nicht gehörlose Bruder einmal überraschend auf die nackte Mutter im Bad traf, erschrak er beim Anblick des unbekleideten weiblichen Körpers und konnte sich nicht vorstellen, dass der Vater wusste, wie die Mutter unter dem Kleid aussah. Auch seine Schwester beunruhigte ihn.
du mochtest mich nicht, oder die Tatsache, dass ich ein Mädchen war, erschreckte dich, ich glaube, die Tatsache, dass ich ein Mädchen war, erschreckte dich, und in dem Maße, in dem ich zur Frau wurde, war es kein Schrecken mehr, sondern Panik
Nachdem die jetzt 52 Jahre alte Frau geheiratet hatte, wurde sie durch einen im zweiten Monat erforderlichen Schwangerschaftsabbruch unfruchtbar, und kürzlich musste ihr wegen einer Krebserkrankung die rechte Brust abgenommen werden.
Operiert wurde sie von ihrer zwei Monate jüngeren Jugendfreundin Clementina („Tininha“), die allerdings persönlich nichts mehr von ihr wissen wollte, ebenso wenig wie von ihrer eigenen Mutter oder etwas anderem aus der Vergangenheit. Als die Mutter Conceição ihre Tochter Tininha einmal besuchte und ihr Geschenke mitbrachte, herrschte diese die Frau an, die eigens sieben Stunden lang mit dem Zug gefahren war:
winzige Eier von Hühnern, die sich von Steinen ernähren, und dieser Ring, ganz ehrlich, sag mal, für wen hältst du mich eigentlich, ich bin Ärztin, kein kleines Mädchen, zeige mir Achtung, Conceição
Auch die Patientin wurde von ihrer Mutter im Krankenhaus besucht.
in ihren Sonntagskleidern aus Respekt vor den Ärzten, hat mich beleidigt angeschaut, als wäre ich ihr zum Tort krank geworden […]
– Da sehen Sie mal das Kreuz das ich zu tragen habe
Ihr Ehemann beteuerte zunächst, dass sich durch die Amputation der Brust nichts ändern würde, aber dann verließ er sie.
Die Tätigkeit als Lehrerin empfand sie als notwendiges Übel.
als die Zeit im Ministerium vorüber war, dachte ich ohne Freude oder Traurigkeit, denn in mir war weder Freude noch Traurigkeit, sondern Gleichgültigkeit, dann muss ich also wieder den Unterricht ertragen, Geschöpfe vor mir, die sich nicht die Mühe geben zu hören, was ich sage, aber was kann ich ihnen denn erzählen, womit ihr Interesse wecken, sie gehen in die Schule, weil sie in die Schule gehen müssen, sie hören nicht zu, lernen nicht, sie können nicht reden, geschweige denn schreiben, Geflüster, Gerangel, und ich stehe allein vor ihnen, so wie ich zu Hause allein bin, ich sah sie nicht einmal, ehrlich, ich spulte den Lehrinhalt ab, während Sachen, die nichts mit der Arbeit und nichts miteinander zu tun hatten, auftauchten und verschwanden, während sich mein Mund weiter bewegte, die Gasrechnung beispielsweise, bei der ich die Frist hatte verstreichen lassen, und jetzt muss ich zum Gasversorger gehen und stundenlang in der Schlange stehen, damit sie mir das Gas nicht abdrehen, ein Zahn ganz hinten nervt mich, meine Stiefmutter, vor vielen Jahren, du hast das Bambi kaputtgemacht, dabei war es der Arm, der es ungewollt von der Kommode vertrieben hat, das Bambi aus der Zeit meiner Mutter
Immerhin fand sie bei einer älteren Kollegin, die sie von der ersten Minute an mochte, Trost und Zärtlichkeit.
meine Kollegin suchte mich mit der Nase, blindlings, tupfte von oben nach unten Küsschen auf meine Stirn
– Dieser Körper macht mich ganz verrückt Süße
Der Schulleiter wies die beiden Frauen zurecht:
– Sie beide sind in der Schule kein gutes Vorbild […]
– Was sich außerhalb der Schule abspielt geht mich nichts an aber Gerüchte innerhalb dieser Institution stören michwährend ich dachte, dass wir um ein Haar glücklich gewesen wären, was haben wir Schlimmes getan, meine Kollegin und ich im Lehrerzimmer, wo sie, als sie uns bemerkten, erst leiser und dann lauter sprachen, so taten, als würden sie uns nicht sehen
Schließlich wandte sich die Kollegin auch einer neuen Referendarin zu. Als die Erzählerin ankündigte, dass sie das Wochenende allein im Ferienhaus an der Küste verbringen werde, wollte die Kollegin mitkommen, aber das ließ die 52-Jährige nicht zu; sie wollte allein sein.
Die einsame Frau spricht mit dem Ferienhaus:
du kannst mir glauben, dass es mich hart ankam, dich zu verkaufen
Am zweiten Tag blickt sie aufs Meer hinaus.
ich sehe das Meer vom Fenster aus und beschließe
– Morgen um sieben Uhr bin ich ein Schatten darin
Sie stellt sich vor, wie die Mutter auf dem Sofa die Hände ringt, wenn ihr die Nachricht vom Suizid der Tochter überbracht wird, und sie fragt sich, wer die Nachricht überbringen wird. Die Mutter wird jedenfalls sagen:
– Da sehen Sie mal das Kreuz das ich zu tragen habe
Am Sonntagabend, 28. August 2011, geht die 52-Jährige zu dem Kliff, von dem sich ihr Bruder stürzte und folgt ihm in den Tod.
mein vor langer Zeit verstorbener ältester Bruder lächelt ein Lächeln, das sein Gesicht und meines wäscht, man nimmt die Wellen schon nicht mehr wahr, hört die Gischt nicht, hört den Wind nicht, meine Mutter löst sich von mir und hält mich übers Meer, so wie sie mich übers Bett hielt, um mich hineinzulegen, die Betttücher und das Kissen nähern sich, und ich bin so glücklich, so erschöpft, so müde, dass ich in dem Augenblick, in dem sie mich loslässt, nicht weiß, wer von uns beiden fällt
Mit Ausnahme von zwei Passagen nimmt „Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben“ die Perspektive einer 52-jährigen lebensmüden Lehrerin ein, deren Namen wir nicht erfahren.
António Lobo Antunes hat seinen Roman „Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben“ in drei Teile gegliedert, die den Tagen entsprechen, die seine Protagonistin im Ferienhaus der Familie verbringt: 26. bis 28. August 2011. Aber das ist nur der äußere Rahmen, denn es geht um die Vergangenheit. Die 52-jährige Lehrerin ist gekommen, um sich vom Kliff zu stürzen und ihrem ältesten Bruder in den Tod zu folgen. Vorher erinnert sie sich noch einmal an frühere Erlebnisse. António Lobo Antunes protokolliert in „Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben“ gewissermaßen den stream of consciousness der namenlosen Hauptfigur in diesen drei Tagen. Sie denkt „wozu ist die Vergangenheit gut, wir haben keine Gewissheit, dass sie existiert hat“ und verbringt diese drei einsamen Tage dennoch in der Vergangenheit. Dabei folgen die Episoden einander nicht sequenziell, sondern sie überdecken bzw. überblenden sich unabhängig von der Chronologie. Themen wiederholen sich wie in der Musik und werden variiert. So entstehen schleifenförmige Strukturen.
Einfach zu lesen ist „Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben“ nicht. Weil die Protagonistin allein im Haus ist und sich auch nicht als Erzählerin an ein Leserpublikum wendet, braucht sie nichts zu erläutern. Vieles deutet sie nur an. Personennamen gibt es nur wenige. Beispielsweise wird einer der drei Brüder immer nur als der „nicht taube Bruder“ bezeichnet. Ähnlich erfolgen zeitliche Einordnungen, etwa wenn es heißt „mein Mann, damals noch nicht mein Mann“ oder „mein Mann, jetzt nicht mehr mein Mann“. Nur am Ende der Kapitel setzt António Lobo Antunes in diesem 420 Seiten dicken Roman einen Punkt. Obwohl er die Protagonistin „ich hasse es, wenn die Sätze nicht zu Ende gebracht werden“ denken lässt, reiht er Halbsätze aneinander und fügt auch noch Zeilen in wörtlicher Rede ein. Das sieht so aus:
– Lauf nicht weg du Teufel
einmal bin ich stehen geblieben, und sie wagte nicht, mich zu schlagen, sie blieb ihrerseits stehen, wir standen beide voreinander, wer von uns beiden wird als Erste aufgeben, meine Mutter, ohne sich bei der Sonnensegelnachbarin zu beklagen
– Da sehen Sie mal das Kreuz das ich zu tragen habe
hörte wie ich die Flaschen in der Speisekammer, hatte den Schuh vergessen
– Glaubst du sie wird sich umbringen wie der andere?
mein nicht tauber Bruder ging ebenfalls von Zimmer zu Zimmer, hörte überrascht die Amseln oder hob einen vergessenen Putzlappen vom Fußboden auf, lächelte, den Mund in der Handfläche, wir waren glücklich, der Putzlappen lag weiter auf dem Fußboden, und da begriff ich, dass es eine Lüge war, mein nicht tauber Bruder war nicht gekommen, ich bezweifelte, dass er es bei der Pastelaria Tebas gewesen war […]– Sie können das Licht ausmachen ich habe keine Angst
und er allein im Zimmer, voller Angst, wie im Krankenhaus mit einem Ding in der Nase und einem Ding in den Eingeweiden, allein im Zimmer, voller Angst, im Dunkeln, denn obwohl die Lampen brennen, ist es dunkel, auch wenn meine Mutter im Dunkeln seine Hand nimmt, auch wenn ich
– Vater
dunkel, obwohl er weiß, dass mein
– Vater
nicht
– Vater
unter dem Vater
– Papi
mein tauber Bruder
– Tutet Tata
der Arm meines Vater außerstande, sich zu bewegen, und dennoch mit dem Wunsch, ihn zu berühren
– Sohn
der Arm meines Vaters
– Sohn
meine Mutter auf dem Flur
– Ich kann nicht mehr
nur ein maßloser Mund anstelle einer Frau, zu einem Ausruf unfähig, sagt sie nur immer wieder
– Ich kann nicht mehr
fragt mich, mit dem Taschentuch kämpfend
– Kannst du nichts für uns tun?
aber ich bin, anstatt sie zu hören, am Klempner interessiert
– Wir müssen den Siphon auswechseln
die Küchentür geschlossen, meine Brüder bei mir und im helleren Rechteck der Abwesenheit des Bildes an der Wohnzimmerwand mein Vater, der aus der Speisekammer zurückkommt
– Kleine
und mich anlächelt.
In einer aus der Perspektive des zum Militärdienst in Afrika einberufenen Bruders geschilderten Passage verwendet António Lobo Antunes eine andere Sprache:
Weil die Neger, diese Mistkerle, ihr Ohr an die Erde pressen und ein Fahrzeug aus mehr als dreißig Kilometern Entfernung hören können, verließen wir den Stacheldrahtverhau zu Fuß. Der Berliet-Lkw und die Mercedes-Geländewagen würden später kommen, um uns wieder einzusammeln. Wenn noch jemand übrig war. War keiner mehr übrig, sammelten sie uns auch ein, schön gerade in der Kiste liegend.
[…] er versuchte sich vor den Einsätzen zu drücken, ich habe Malaria, ich kann nicht, der Doktor, der ihm nicht einmal das Thermometer unter die Achsel steckte, Malaria, Pustekuchen, und befreite ihn mit einem seelenvollen Tritt in den Hintern vom Fieber, komm noch einmal, und ich verpasse dir eine Spritze mit destilliertem Wasser, und das tut so weh, dass du dich wie ein Kreisel drehst […]
[…] ich nannte meine Eltern Mutter und Vater, weil man es mir so beigebracht hatte, ebenso wie man mir beigebracht hatte, Herr Leutnant zum Leutnant zu sagen, allerdings, was heißt hier Vater und Mutter, ich bin allein, als Kind allein, als Erwachsener allein, wenn ich hier rauskomme, falls ich hier rauskomme, allein, meine Schwester ist mit einem Schwachkopf verheiratet, meine Mutter und mein Vater waren im Prinzip miteinander verheiratet, aber eine Urkunde hat man mir nie gezeigt, sie waren da, um zu verbieten, zu schimpfen, und das war’s schon, als ich älter wurde, gab ich das mit der Anrede Mutter und Vater auf […]
„Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben“ ist ein traurig-wehmütiges Buch. Der Portugiese António Lobo Antunes vermittelt in dem Roman die für den Fado charakteristische, als saudade bezeichnete Art des Weltschmerzes.
Der Titel „Mitternacht zu sein ist nicht jedem gegeben“ soll übrigens aus einem Gedicht von René Char stammen.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag
António Lobo Antunes: Portugals strahlende Größe
António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen